Machen wir einen gewaltigen Sprung aus dem Mai 1939 in den Mai 1979 und halbieren wir damit die Zeitdistanz von achtzig auf vierzig Jahre. In Mykene war der 6. Mai offenbar besonders inspirierend für Ernst Jünger — von Seite 477 bis 482 gehen die Notizen unter diesem Datum, aus denen ich nur eine kleine Kostprobe bringen möchte:
Mykene, 6. Mai 1979
Morgens Post. Ich beantwortete unter anderem eine Frage Alain Feutrys: »Approuvez-vous, que Cioran écrit: "C'est folie d'imaginer que la vérité réside dans le choix, quand toute prise de position équivaut à un mépris de la vérité?"« Eher ein Thema für ein Buch als für eine Postkarte.
Ferner dankte ich Karl List, der mir auf meine Warnung, »nicht den obersten Knopf offen zu lassen«, die kleine Anekdote mitteilte:
»Als der geschätzte Generaloberst von Fritsch den Angehörigen seines Stabes den Erlaß des Führers über die Abschaffung der Anrede in der dritten Person vorgelesen hatte und das Blatt zusammenfaltete, soll er hinzugefügt haben: "Den Zeitpunkt, von dem an Sie mich duzen dürfen, den gebe ich Ihnen noch bekannt ..."«
Fritsch hat mich zusammen mit einem Kameraden einmal in der Hannoverschen Mittelstraße 7 a parterre besucht. Er war als Oberleutnant zur Reitschule kommandiert. Ich las ihnen »Das trunkene Schiff« von Rimbaud vor, ein Gedicht, das mich damals ungemein beschäftigte, fast eine Wende herbeiführte.
Zwanzig Jahre später, als Fritsch schon gefallen war, begegnete ich in Paris jenem Kameraden; er erzählte mir, daß Fritsch ihm auf dem Rückweg gesagt habe: »Der täte gut, wenn er bald seinen Hut nähme.« Ein treffendes Urteil, wahrscheinlich auch gut gemeint.
Hitler ließ Fritsch unter Beihilfe von Göring erledigen; für seine Feinde hatte er einen scharfen Instinkt.
(Siebzig verweht II, S 477f. – in: Ernst Jünger, Sämtliche Werke, 1. Abteilung, Bd. 5 »Strahlungen IV«)
Die treffliche Fritsch-Anekdote, die ich nach dem Frühstück gelesen hatte, erzählte ich heute mittags meiner jungen Sekretärin, die davon allerdings nicht ganz so amüsiert war, wie ich frühmorgens. Das änderte sich freilich eine Stunde später, als mein Computer mitten in einer Suche in Schreckstarre verfiel, und ich ihm unwillkürlich ein markiges: »Was machst du Trottel schon wieder!« zurief. Worauf mir aus dem Nebenzimmer ein fröhliches: »Aber ich hab doch gar nichts gemacht!« in gespieltem Vorwurf herüberschallte. Worauf ich nicht anders konnte, als zu ihr hinüberzugehen und in bestem Kasernenhofton zu schnarren: »Den Zeitpunkt, von dem an ich Sie duzen werde, den gebe ich Ihnen noch bekannt!« Tableau! Vergnügungen eines Kanzleialltags ...
Fritsch, um wieder zum Ernst zurückzulenken, war eine tragische Figur. Trotz seiner Rehabilitierung wegen erwiesener Unschuld (man hatte ihm aus einer Namensverwechslung heraus Homosexualität unterstellt) blieb er kaltgestellt und fiel als einer der ersten Generale im Zweiten Weltkrieg. Daß er als Soldat sich trotz seiner Absetzung loyal zum Reichskanzler verhielt, ist für die deutsche Wikipedia so unbegreiflich, daß sie jede leichenschänderische Anstrengung unternimmt, ihn doch noch auf braun umzupinseln. Ja, sicher, er war national und ein Antisemit — aber das waren damals keineswegs nur die Nazis (und keineswegs nur die Deutschen, nebenbei bemerkt)! Aber er war ein Gegner der Nazi-Expansionspolitik, die er für verderblich hielt, und sein Selbstbewußtsein als preußischer Offizier war sicherlich mit der hinaufgeschwemmten Führergarnitur der Nazis nicht kompatibel. Sein früher Tod im Polenfeldzug verhinderte, daß er die Folgen all dieses Wahnsinns dann auch noch mit eigenen Augen mitansehen mußte. Auf seinem Ehrenmal steht »Die Treue ist das Mark der Ehre«. Aber das sage mal einer den verhausschweinten Deutschen von heute ...
4 Kommentare:
Geschätzter Penseur,ich höre aus Ihrem kommentierenden Text eine gewisse Sympathie für die ständisch verstockte Haltung des Generals v. Fritsch heraus. In Wirklichkeit ging es um die Abschaffung der archaischen und unterwürfigen Anrede wie z. B. "Erlauben Herr Hauptmann..."
Cher Monsieur Meyer,
was ist an einer respektvollen Anrede eines Vorgesetzten "archaisch und unterwürfig" bzw. in der Erwartung einer solchen "ständisch verstockt"?
Natürlich werde ich einen Kardinal mit "Euer Eminenz", oder bspw. einen ausländischen Botschafter mit "Your Excellency" anreden. Und warum eine Sekretärin in einem Ministerium ihren Sektionschef (für Piefkes: ein österreichischer Rang in between Ministerialdirektor und Staatssekretär) nicht etwa mit "Herr Sektionschef haben sicher schon vom gestrigen Autounfall des Herrn Ministers gehört ..." ansprechen sollte, erschließt sich mir nicht ganz?
Meine Mitarbeiter und Klienten (von einigen persönlichen Freunden aus früheren Zeiten abgesehen, mit denen ich mich eben "immer schon" duze) reden mich ja auch mit "Herr Doktor" an (so, wie auch ich im Gespräch ihre jeweiligen Titel verwende). Ich halte nichts, aber schon gar nichts von der hirnlosen Übernahme irgendwelcher Yankee-Unsitten und habe exakt null Interesse, von Fremden etwa geduzt und/oder mit Vornamen angeredet zu werden. Das hat übrigens bis dato nur ein einziger Klient (noch dazu aus dem dem früher traditionell super-höflichen Ungarn!) versucht, und an meiner kühlen Reaktion erkannt, daß er es besser lassen sollte.
Genau auf die in der Nazi-Zeit erstmals flächendeckend um sich greifende Verluderung der Umgangsformen bezog sich die ironische Anmerkung des Generals. Und dieser abwehrenden (und abwertenden) Reaktion gilt in der Tat meine Sympathie!
Wenn ich noch eine Ergänzung hinzufügen darf: Es ist sicherlich nicht nur Friesenstolz, der meine Wahrnehmung steuert - wir kannten in unserer Geschichte keine "Herren" - auch die Mannschaftsdienstgrade der Wahrmacht teilten meine Wahrnehmung,wie die folgenden Beispiele aus googlebooks, die leider nicht in deieses Feld hineinkopieren kann, zeigen: Aus: Der lange Marsch: Erzählung
von William Styron
http://www.ingenieurgeograph.de/Living_History/Material/Kloffler_Benimm_1800_2016_02_12.pdf
Feldpostnummer unbekannt
von Will Berthold
Der Kommandeur
von Heinz-Georg Wilhelm Migeod
Ideologie und militärisches Kalkül: die Besatzungspolitik der Wehrmacht in ...
von Manfred Oldenburg
Jüngers Beschäftigung mit der abgehobenen, reinen Lyrik von Rimbauds Bateau Ivre zeigte einmal mehr seinen Hang zur Pose (vor allem in seinen jungen Jahren), aber vor allem seine Fähigkeit, in Zeiten hoher, persönlicher Gefährdung seine psychische Stabilität zu bewahren; so bereits im WK I, als er in den Feuerpausen des Stellungskrieges die sechsundvierzig Gesänge des Orlando furioso des Ariost las. Die Bärenkräfte der Poesie werden gerne unterschätzt ;-)
http://www.dastrunkeneschiff.de/media/programmheft.pdf
Kommentar veröffentlichen