Montag, 25. August 2008

War Opa ein Nazi? Wenn er ein Deutscher war: na klar doch!

Kollege Manfred hat zwei interessante Artikel verfaßt: »Opa war kein Nazi« und »Deutsche und Nazis«. Auf den ersten Artikel schrieb ich eine Replik, in der ich die These, praktisch alle Deutschen wären doch "in Wahrheit" Nazis gewesen und solange die Geschichtslüge »Opa war kein Nazi« nicht aus den Familiengeschichten gefegt werde, sei eine Heilung der deutschen Gesellschaft vom Nazi-Trauma nicht zu gewärtigen, kritisch hinterfragte.
Manfred erläuterte seine Ansichten daraufhin in einem neuen Artikel und wollte meine kurze, enttäuschte Reaktion über diesen neuerlichen Artikel nicht so einfach hinnehmen, sondern bezeichnete meine Verweigerung einer inhaltlichen Replik darauf als "patzig". Nun, so war es nicht gemeint — aber lassen wir die Frage der Patzigkeit einmal dahingestellt: ich sah einfach keinen Sinn darin, angesicht seiner neuerlichen Äußerungen groß zu replizieren — cui bono ...

Nun will ich mir andererseits aber eben auch nicht "Patzigkeit" vorwerfen lassen, und so entschloß ich mich dann doch zu einer Antwort, welche ich (in leicht erweiterter Form) in meinem eigenen Thread ebenfalls publiziere. Vielleicht interessiert's ja doch jemanden ...

Manfred schrieb:

Mir geht es demgegenüber darum zu zeigen, dass die Deutschen, auch die, die sich für Demokraten hielten, in einer TOTALITÄREN Gedankenwelt befangen und DESWEGEN für den Nationalsozialismus anfällig waren. Totalitär waren dabei weniger diese oder jene INHALTE (zum Teil natürlich auch die), sondern bereits die Grundannahmen darüber, was Politik ist bzw. sein sollte.


Mit anderen Worten: die Deutschen, nämlich auch die, die sich für Demokraten hielten, aber — natürlich! Sie waren ja Deutsche! — keine waren, waren in einer TOTALITÄREN Gedankenwelt befangen. Sorry, ich halte das für Unsinn. Das ist Pauschalurteilen par excellence. Und ich sehe nicht, warum diese angeblich totalitäre Gedankenwelt ein spezielles Merkmal der Deutschen sein sollte, wenn mich meine Erfahrung und die tägliche Lektüre von Pressemeldungen aus aller Welt lehren, daß vergleichbar totalitäre Vorstellungen ebenso in anderen Ländern und Kulturen gang und gäbe waren, sind und wohl auch in Zukunft sein werden!

Saatsgläubigkeit ist kein Merkmal der Deutschen, sonst wären Blair, Obama oder Sarkozy auf einmal nazismusanfällige Deutsche, was sie ja wohl wirklich nicht sind. Und genau das, was sich in Deutschland in unerfreulicher Zuspitzung im NS-Regime realisierte, war damals (und ist leider auch heute) weltweit recht verbreitet. Nicht nur in den diversen "Faschismen" Italiens, Spaniens, Portugals, sondern ebenso in dem korporativ-autoritär grundgestimmten Kemalismus, in den unzähligen Diktaturen Südamerikas, ja sogar im "New Deal" der USA. Die 30er/40er-Jahre waren kein Hort der Demokratie — und zwar weltweit nicht! Und ich wage zu bezweifeln, wenn ich mir die ständige Tendenz zu Gesinnungsjustiz und Gedankenkontrolle (vom angeblich notwendigen Kampf gegen Rechts über den Nichtrauchersutz bis zum Klimawandel) so ansehe, daß wir es heute nennenswert mehr sind. Wir haben eine demokratisch-antidiskriminatorische Rhetorik, allgegenwärtig und existenzvernichtend für den, der dagegen verstößt. That's it ...

Keine Frage, daß der damalige a-demokratische, korporatistisch-kollektivistische Ungeist in anderen Fällen nicht annähernd so bedauernswerte Entgleisungen zeitigte wie in der NS-Herrschaft! Doch andererseits ist es für den historisch Interessierten ebenso keine Frage, daß eine Unzahl schlimmer Entgleisungen durch die — eben besonders schlimmen — Entgleisungen des NS-Regimes einfach "zugedeckt" und aus dem Gedächtnis (oder wenigstens: dem offiziell zitierbaren Gedächtnis) der Menschen verdrängt wurden.

In Artikeln über das 3. Reich wundert sich der Autor manchmal, warum z.B. Großbritannien oder die USA nicht gegen die Schikanierung und Benachteiligung von Juden in bereits frühesten Zeiten des 3. Reiches aufgetreten sind. Man wundert sich freilich weniger, wenn man weiß, daß die Rassentrennung in den USA ja im Prinzip auch nichts anderes war als der Judenstern (ein eigenes Abzeichen erübrigte sich allerdings durch die Hautfarbe), und daß die gesetzlichen Verbote von Mischehen, diverse Berufsverbote, die Verweigerung von Wahlrecht und einer Reihe bürgerlicher Freiheiten in britischen Kolonien quasi das Modell der Nürnberger Gesetze darstellen.

Heutige Autoren projizieren das ahistorische Bild einer — heute! — von political correctness und Antidiskriminierung geradezu besessenen angelsächsischen Welt in eine Vergangenheit, die uns dann als leuchtender Gegenentwurf einer demokratischen Gesellschaft vorgeführt wird, der sich vor der dunklen Folie der Naziherrschaft besonders schön abhebt. Nur: das Bild trügt! Es trügt eklatant, ja ist geradezu bis zur Unkenntlichkeit verzeichnet! Noch deutlich nach dem 2. Weltkrieg haben die US-Truppen, als sie z.B. die Republik Haiti besetzten, als erstes dort eine (davor nicht bestehende) strikte Rassentrennung eingeführt. Noch deutlich nach dem 2. Weltkrieg hat die britische Kolonialmacht z.B. in Kenia rassistisch motivierte Greueltaten, wie z.B. gezielten Völkermord, angeordnet und teilweise auch ausgeführt — was einem die Frage aufdrängt: "Haben die aus Auschwitz nichts gelernt?" Antwort: nein, mußten sie auch nicht. Denn sie waren (und sind bis heute) schließlich die "Guten" ....

Das klingt zynisch und wird mir von der allzeit bereiten Antifa-Front sofort den Vorwurf, ich "verharmlose" und "relativiere", eintragen. Geschenkt! Als ob die in britischen KZs gefolterten, ermordeten und gezielt dem Hungertod preisgegebenen Kikuyu des Mau-Mau-Aufstandes weniger wert wären, als in Nazi-KZs gefolterte, gezielt dem Hungertod preisgegebenen und vergaste polnische Juden ... Wer sich informieren möchte, findet in der — des Nazismus wohl recht unverdächtigen — britischen Tageszeitung The Guardian vom 27.12.2005 einen Artikel unter dem provokanten Titel: "The Turks haven't learned the British way of denying past atrocities" — viel "Spaß" beim Lesen!

Aber um auf die Zusammenfassung eingehen, mit der Kollege Manfred seinen Artikel beschließt, die mir eigentlich eine Replik wenig zielführend erscheinen ließ.

Fassen wir zusammen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen, hielt Politik für die Verwirklichung religiöser oder quasi-religiöser Ideale, fand es selbstverständlich, dass man zu diesem Zeck politische Gegner physisch bekämpfte, betrachtete das Führerprinzip als Ordnungsideal, hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen, betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich der Volksgemeinschaft.


1. Die "überwältigende Mehrheit ... einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen" sah all dies nicht wesentlich anders, als die gesamte (!) westliche Welt zu jener Zeit! Man blicke z.B. in die Zwischenkriegsgeschichte Österreichs: hier wurde kein Nazi-Regime geboren, aber es gab einen quasi-religiösen Machtkampf zwischen den Austromarxisten (die z.B. Wien zu Musterstadt des wahren, des reinen Sozialismus machen wollten) und den Heimwehren — Nazis spielten in Österreich bis zur Machtübernahme Hitlers in Berlin keine nennenswerte Rolle! Das Argument einer spezifisch deutschen Eigenschaft wackelt somit. Es wackelt noch mehr, wenn man die ebenso "quasi-religiösen" Auseinandersetzungen in Spanien ansieht, oder in Frankreich, oder in England, oder in Irland, oder in Mexiko, oder ... oder ... Die Liste ist deutlich kürzer, wenn man fragt: "Wo fanden solche denn nicht statt?"

2. Die physische Bekämpfung politischer Gegner war damals allgemein. Auch hier ist nichts "speziell deutsches" zu ermitteln. Poltisch motivierte Straßenschlachten gab es in Ost-Mitteleuropa, am Balkan, in Frankreich, Spanien, Mexiko, sogar in den USA. In den Kolonialgebieten sowieso!

3. Das Führerprinzip herrschte damals vom Kommunismus über die christlichen Hierarchievorstellungen bis ins konservative Lager — einfach überall, außer in ein paar liberalen Zirkeln, die aber (man denke bloß an den dramatischen Niedergang der Whigs in den 20er-Jahren) praktisch überall zu Randerscheinungen, zu Fossilien einer Politik des 19. Jahrhunderts, mutiert waren.

4. Man "hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen" — und darin unterschieden sich die Nationen ebensowenig voneinander! Ein paar Sonntagsreden in Genf mochten zwar anders klingen — aber der Völkerbund war in Wahrheit eine schon von Anfang an gescheiterte Sache! Gescheitert nicht am Austritt der pösen Nazis in den 30er-Jahren, sondern an der verlogenen Politik seiner Gründungsnationen, die unter schönklingenden Schlagworten beinharte Machtpolitik betrieben (man denke nur an die "Entkolonialisierung" durch "Mandatsverwaltungen" — eine Augenauswischerei sondergleichen!)

5. Man "betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich [nach] der Volksgemeinschaft" — auch hier wieder: Mainstream! Antisemitismus war damals praktisch überall zu finden — das kann man zu Recht bedauern, aber es war damals eben so. Hieraus eine speziell "deutsche" Fehlhaltung zu konstruieren, ist einfach Geschichtsklitterung! Und was die Volksgemeinschaft betrifft: was war denn die treibende Kraft all der Nationalstaaten, die aus der Zerschlagung Österreich-Ungarns hervorgingen? Dreimal darf man raten ...