Heute vor 75 Jahren, am 28. Mai 1944, war Pfingstsonntag — und Ernst Jünger notierte unter diesem Tag in sein »Zweites Pariser Tagebuch«:
Paris, 28. Mai 1944
Pfingstsonntag. Nach dem Frühstück beendete ich die Lektüre der Offenbarung und schließe damit die erste Gesamtlesung der Bibel ab, mit der ich am 3. September 1941 begann. Zuvor hatte ich Teile gelesen, darunter das Neue Testament. Verdienstlich kann ich diese Bemühung besonders insofern nennen, als sie auf eigenem Entschluß beruht und gegen manchen Widerstand sich durchsetzte.(Zweites Pariser Tagebuch, S 271 – in: Ernst Jünger, Sämtliche Werke, 1. Abteilung, Bd. 3 »Strahlungen II«)
Einen Tag zuvor hatte er noch — von mir gestern leider erst zu spät für die »rechtzeitige« Einstellung in diese Artikelserie durchblättert (ich las es schon im Bett, vor dem Einschlafen) — jene berühmte Schilderung des alliierten Bombardements von Paris notiert:
Paris, 27. Mai 1944
[...] Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.
(ebendort)
Zu besseren SPIEGEL-Zeiten (ja, die gab's einmal ...) entspann sich zwischen dem Interviewer und Ernst Jünger darüber folgender Dialog:
SPIEGEL: Trotzdem ist für Sie von Tod, Untergang und Zerstörung eine große Faszina-tion ausgegangen. Ihnen wird immer wieder die Stelle aus den "Strahlungen" vorgewor-fen, wo Sie mit einem Glas Burgunder in der Hand das Schauspiel der Bombardierung von Paris anschauen, dabei noch Erdbeeren im Burgunder schwimmen haben, und später den Satz zu Papier bringen: "Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird."JÜNGER: Ja, dann lassen Sie mich etwas über die Erdbeeren sagen: Erdbeeren sind natürlich etwas sehr Angenehmes. Wir bauen sie hier in großen Mengen an. Außerdem ist es aber eine Frucht, die bei Hieronymus Bosch eine besondere Rolle spielt als Frucht der Erde und auch der Transzendenz.Da kommen also 1944 englische Bomber, die wollen das "Raphael" bombardieren, und der Jünger sitzt gerade bei einem Gläschen Sekt und hat eine Erdbeere drin. Diese Engländer denken, der geht jetzt in den Bunker. Da haben sie sich aber getäuscht. Auf diese Spielregeln lasse ich mich nicht ein. Aber die anderen Deutschen und die Franzosen tun das. Sie gehen in den Luftschutzkeller, aber das ist meine Sache nicht.Ich gehe in die oberste Etage und sehe mir den Luftangriff an. Und sehe vielleicht durch das Sektglas. Dann ist das noch ein gewisses Bruderschaftstrinken mit dem Tode. Das ist der Anarch. Das ist der Mann, der sich überhaupt nicht kümmert um die, die da oben Angst machen wollen, und um die, die da unten Angst haben, sondern der, der da gemütlich am Fenster steht und sieht: die Erdbeere kristallisiert.Später dachte ich, das kann ich den Leuten doch nicht vorenthalten. Das mußt du ihnen aufschreiben. Was passiert aber? Sowohl Engländer als auch Deutsche schimpfen: Das ist ja wie bei Kaiser Nero, oder der Autor ist noch snobistischer als Oscar Wilde.Ich streite mich mit meiner Frau immer wieder über Nero, für den sie nichts übrig hat. Ich sage: Der Nero, das ist doch ein Mann, der war zum Künstler geboren, jetzt mußte der arme Kerl noch Kaiser werden, nicht wahr? Sein letztes Wort "Qualis artifex pereo", das schätze ich ganz besonders.
Erdbeeren, mhm ... zugegeben: der Burgunder müßte es für mich nicht sein, mir wäre eine fruchtige, nicht allzu süße Spätlese lieber (und vielleicht noch ein Biscuit rose de Reims, zum Eintunken) doch wie wir wissen: de gustibus ... Die Wikipedia nörgelt — natürlich, könnte man sagen — daran herum:
Die bekannteste und am heftigsten kritisierte Stelle findet sich unter dem 27. Mai 1944 bei einer Bombardierung von Paris [...] Diese Stelle ist oft als Beispiel für einen un-moralischen Ästhetizismus Jüngers angeführt worden. Allerdings gibt es ähnliche Passagen unter anderem bei Marcel Proust, Oscar Wilde oder Erich Kästner.
Das war knapp! Erich Kästner hat ihn vermutlich gerettet, der war ja ein Guter! Auch wenn von ihm nicht bekannt ist, die Bibel tutto completo*) gelesen zu haben.
Ja, die Bibel, das ist ein weites, nein: ein zu weites Feld (um wieder einmal ein Zitat einzuflechten) ... ich hätte es fast geschafft, wäre nicht das Buch Numeri gewesen, das ich mit Ausnahme der kurzen Erwähnung der »Ehernen Schlange« (Num. 21,4-9)
[...] Et tædere cœpit populum itineris ac laboris : 5locutusque contra Deum et Moysen, ait : Cur eduxisti nos de Ægypto, ut moreremur in solitudine ? deest panis, non sunt aquæ : anima nostra jam nauseat super cibo isto levissimo. 6Quam ob rem misit Dominus in populum ignitos serpentes, ad quorum plagas et mortes plurimorum, 7venerunt ad Moysen, atque dixerunt : Peccavimus, quia locuti sumus contra Dominum et te : ora ut tollat a nobis serpentes. Oravitque Moyses pro populo, 8et locutus est Dominus ad eum : Fac serpentem æneum, et pone eum pro signo : qui percussus aspexerit eum, vivet. 9Fecit ergo Moyses serpentem æneum, et posuit eum pro signo : quem cum percussi aspicerent, sanabantur.
... einfach überschlagen habe: denn da, insbes. in den ersten Kapiteln, könnte einer genauso gut ein Organigramm des Coca-Cola-Konzerns lesen. Oder das Telefonbuch von Bielefeld ...
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*) für die Romanisten unter meinen geschätzten Lesern: ich weiß schon, daß das eigentlich ganz was anderes heißt ...
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6 Kommentare:
Werter Penseur,
Eine nicht so abwegige Form der Krisenbewältigung in ihrem Land:
http://www.kath.net/news/68081
In unserer Gemeinde sind wir eine kleine Gruppe von Christen, die u.a. auch für die Politiker aller Parteien beten. Der Begriff "Mitleidsverblödete" hält uns nicht davon ab, die Feinde zu lieben und denen Gutes zu tun, die uns hassen.
Da hat die Mitleidsverblödung christentümelnder Gutmenschen leider auch auf die Ostmark übergegriffen. Besonders traurig, dass, jedenfalls wenn man diesem Bericht Glauben schenken soll, in ansehnlicher Zahl die FPÖ daran beteilit gewesen sein soll.
Aber bittschön, ein jeder möge nach seiner Facon unselig werden.
Cher Barbarossa,
bitte nehmen Sie sich ein Beispiel an König Friedrich II (den Sie ja zitieren), und lassen Sie andere eben nach ihrer Façon selig werden. Gallige Kommentare sind nur kontraproduktiv.
Werter Penseur, zur schönen Burgunderszene, die Sie in Erinnerung rufen, eine kleine literaturhistorische Ergänzung. Ein junger Nachwuchsgermanist bietet folgende Lesart der Szene an: „In seiner fußnotengesättigten Untersuchung der biographischen, literarischen und religiösen Bezüge sowie der von Jünger verwendeten Metaphern und Symbolik kommt Wimbauer nun zu einem anderen Schluß: `Die Burgunderszene kann so gelesen werden, daß sie nicht einen Fliegerangriff auf das besetzte Paris schildert, sondern daß sie die metaphorisiert-verschleierte Schilderung einer eskalierten Liebesaffäre Jüngers ist.´
Belege für seine These kann Wimbauer reichlich anführen. So habe es zum Zeitpunkt der Burgunderszene überhaupt keine Luftangriffe auf Paris gegeben, die vordergründige Schilderung Jüngers sei fiktiv. Ausweislich des Studiums der einschlägigen Literatur und Akten, einschließlich des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht, hat es zwar gegen die Mittagszeit einen Fliegerangriff auf Paris gegeben, nicht aber am Abend ("bei Sonnenuntergang") des 27. Mai 1944. Außer bei Ernst Jünger konnte Wimbauer jedenfalls keinen einzigen Hinweis darauf finden.
Den zweiten Luftangriff bei Sonnenuntergang gab es nicht
Wimbauer baut eine lückenlose Indizienkette auf, die nahelegt, daß es sich bei der Burgunderszene mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine verschlüsselte Schilderung der Umstände einer Liebesbeziehung Jüngers mit der deutschstämmigen Kinderärztin Sophie Ra-voux, geborene Koch, handelt. Wimbauers früheren Recherchen für sein "Personenregister der Tagebücher Ernst Jüngers" (JF 48/99, 19/03) zufolge verbirgt sich Sophie Ravoux in den "Strahlungen" gleich hinter fünf Decknamen: "Doctoresse", "Camilla", "Charmille", "Mme. d'Armenonville" und "Mme. Dancart".“
www.jungefreiheit.de 18/04 23. April 2004
Er war schon ein Racker, der Herr Jünger. Als mir die berühmte Stelle vor vielen Jahren erstmalig vor Augen kam, habe ich gelacht – zum Teil vor Schrecken. Man stelle sich einmal vor, ein bekannter Autor würde heute … nein! Ausgeschlossen. Das wäre ja eine Provokation – Klett-Cotta's Messestand würde auf der Frankfurter Buchmesse in Flammen stehen. Wie dieses Kirchlein auf der Île de la Cité. Schon aus diesem Grunde mußte das geschrieben werden. Und auch den schwerentflammbar-lichterloh brennenden Dachstuhl hätte er durch sein blutrotes Prisma agnosziert. Der Bilderstürmer, der Finsterling.
NB: Lesenswertes Interview; sich vorzustellen, daß das Sturmgeschütz der bundesdeutschen Demokratie auch einmal scharfe Blicke durch eine wertige Optik riskierte, – heutzutage ist's leider ein trüber Zerrspiegel.
Cher Monsieur Meyer,
interessante Ausführungen, die mich freilich auch wieder an die berühmte Zigarren-Anekdote um Freud denken lassen: manchmal ist eben eine Erdbeere in Burgunder bloß — eine Erdbeere ... (mochte bspw. ein Kinsky auch noch so wild nach einem "Erdbeermund" sein).
Aber kurz eine Frage, die mich persönlich interessiert: wer verbirgt sich eigentlich hinter dem öfters erwähnten "Präsidenten" der Pariser Tagebücher? Für eine Antwort im voraus dankend, bin ich
Ihr ergebener
LePenseur
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