Sonntag, 18. Oktober 2015

Ortega y Gasset

... ist den meisten Lesern des LePenseur-Blogs wohl kein Unbekannter. Der spanische Kulturphilosoph und Soziologe, dessen Hauptwerk »Der Aufstand der Massen« wohl nur zu prophetisch die Fortentwicklung (oder: den Niedergang) des abendländischen Europa im 20. Jahrhundert schon zu Ende der Zwanzigerjahre voraussah, ist jedem, der diesen Entwicklungstendenzen kritisch gegenübersteht, wohl längst irgendwann durch Zitate begegnet. Und derer gibt's von José Ortega y Gasset ja nun genügend ...

Daß Philosophen oft Aphoristiker sind — nur die penibel-gelehrten Tüftler vom Schlage eines Kant, oder Satzbandwurmerzeuger wie Hegel entziehen sich dieser Gefahr, weil erstere die notwendige Unvollständigkeit des Aphorismus’ nicht ertragen, letztere selbst eine Nebenbemerkung mehr als drei Buchseiten (oder doch wenigstens, drei Fußnoten!) kosten — ist aus der Geschichte der Philosophie wohlbekannt. Nietzsche hat diesen Stil (nach Ansätzen Schopenhauers) in die deutsche Philosophie wieder eingebracht, und viele seiner Jünger und Nacheiferer übernahmen ihn getreulich.

Ortega geht darüber hinaus: er schreibt nicht Aphorismen, sondern klein(st)e phliosophische Essays, und wäre man boshaft, so könnte man diese auch als Philosophie-Feuillletons bezeichnen — und in der Tat: er hatte eine journalistische Ader sondergleichen, die ihn zu »griffigen« Aufsatztiteln (»Ästhetik in der Straßenbahn« oder »Lob der „Fledermaus“«, um zwei den Leser besonders neugierig stimmende Titel anzuführen) ebenso hinzog, wie zu einer, wenn man so will, »spielerischen« Behandlung auch der ernstesten Themen befähigte. Wäre man sehr boshaft (gegenüber Ortega, wohlgemerkt!), könnte man den Sokrates des Fernseh-Talks, Peter Sloterdjik, als »Fortsetzung Ortegas mit anderen Mitteln« charakterisieren …

Nun, freilich: Ortegas Feuilletonistik scheint bloß leicht dahingeschrieben, denn sie ist (und damit unterscheidet sie sich von Sloterdjik fundamental) alles andere als »oberflächlich«, sondern läßt uns in eine Tiefe blicken, die oft schaudern macht (beim Talkrunden-Sokrates schaudert einem manchmal zwar auch, aber aus anderen Gründen …)

»Der Aufstand der Massen« ist ohne Zweifel Ortegas bekanntestes Werk gewesen und geblieben. Zu Ende der Weimarer Republik, vor der Machtübernahme durch die Nazis, vor dem spanischen Bürgerkrieg geschrieben, bietet es uns ein beklemmendes prophetisches Bild der politisch-geistig-gesellschaftlichen Entwicklung (oder, präziser gesagt: Entartung) Europas im 20. Jahrhundert, als dessen Annex wohl die bisherigen Jahre des noch jungen 21. Jahrhunderts anzusehen sind, denn die wirklichen Änderungen, ja Umstürze, die (so steht zu befürchten) unsere Zukunft prägen werden, haben eben erst angefangen. Jahrhunderte beginnen (mathematisch gesehen) nie mit der »runden« Jahreszahl (sondern ein Jahr später, denn so, wie ich die erfolgreich Vollendung meines ersten Lebensjahres wohl notwendig erst am ersten Tag des zweiten — von mir aus: um 0:00:00,01 Uhr — feiern kann, so gilt das auch für Jahrhunderte!), und historisch oft erst irgendwann in der zweiten Dekade. Wenigstens in den letzten Jahrhunderten verhielt es sich so: das von Glaubenskämpfen zerrissene XVI. Jahrhundert begann mit der Katastrophe der Glaubensspaltung 1517, das gleichfalls von Kriegsgreueln aller Arten geplagte XVII. mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618, das dagegen vergleichsweise irenisch-aufklärerische XVIII. (das erst in der Revolution seine Kinder zu verschlingen begann) mit dem Frieden von Ütrecht 1714, das gleichfalls von einem friedliebenden Fortschrittsoptimismus getragene XIX. mit dem Wiener Kongreß von 1815, und das dafür umso kriegsschnaubendere XX. mit den Schüssen von Sarajewo 1914. Die Erinnerung an diese Jahreszahlen erhöht nicht gerade die Geruhsamkeit, mit der wir die derzeitigen Entwicklungen betrachten …

Doch zurück zu Ortega: er war — trotz seines bewußten, ja: prononcierten — Spanier-Seins in vielem ein Kind der Deutschlands, in das er als junger Student gekommen war. Hier hatte er Philosophie studiert, die deutsche Literatur kennen- und liebengelernt, und jenen Goethe, dem er 1932, zur hundertsten Wiederkehr des Todestages, ein ergreifendes literarisches Denkmal — ære perennius fürwahr, wenn man sich manch biedere Goethe-Statue des 19. Jahrhunderts so ansieht, die genauso einem wackeren Kammerpräsidenten gewidmet sein könnte! — setzen sollte: »Um einen Goethe von innen bittend«; ein Werk, das einen ergriffener Lobpreis über dessen Genius zu singen vermag — trotz aller Kritik am »Weimarer Klassiker« (die einen Goetheaner freilich ergrimmen muß), an einem, wie Ortega schreibt, der »... unter die sterile Glasglocke von Weimar gesetzt und durch Zauberkünste zum „Geheimbderat“ präpariert wurde...«, und der gegen seine »herrliche« Natur seiner »Bestimmung untreu« geworden sei — weil er resigniert habe.

Nun, das sind Zeilen des vitalen, energievibrierenden Endvierzigers — doch auch Ortega notiert, mehr als zwanzig Jahre später, vor seinem Tod, die resignierte Erkenntnis, daß dem Menschen in einem bestimmten Alter kaum anderes übrigbleibe, als zu schweigen.

Ortegas letztes, leider durch den Tod unvollendet gebliebenes Werk »Der Mensch und die Leute«, das auf mehreren Vorlesungszyklen in Buenos Aires basiert, eigentlich schon auf einem gleich betitelten Vortrag in Valladolid (1934), schlägt das Thema an, um das das Denken des Philosophen in den letzten drei Jahrzehnten seines Denkens kreiste. Und wie es kreiste! Von bislang nie vorgestellten Blickwinkelns aus betreibt Ortega eine philosophische Soziologie (oder soziologische Philosophie), die die Dürre des Individualismus’ durch dahinströmende Gedanken zum Über-Individuellen, dem »Brauch«, ebenso zu befruchten, wie die technokratische Macht des Kollektivismus’ zu durchbrechen vermag. Die letzten Kapitel blieben ungeschrieben — doch die schon vollendeten Teile begeistern durch ihre Klarheit, und bieten uns in der Tat die ultima vox dieses Philosophen.

Ein Werk freilich bedarf noch ausdrücklicher Erwähnung: die »Betrachtungen über die Liebe« (1941) — nur etwa achtzig Seiten lag, bieten sie doch eine der (im besten Sinne des Wortes) erschöpfendsten Darlegungen zu diesem Thema, dem die Philosophen der Vergangenheit trotz seiner evidenten Wichtigkeit viel zu wenig Augenmerk geschenkt hatten, oder, schlimmer noch, das sie in »von des Gedankens Blässe angekränkelten« Worten, die muckerisch jeden »Anstoß« vermeiden wollen, zum Anlaß saft- und kraftlosen Herumgeredes nahmen (nicht besser, sondern bloß exakt um 180° gewendet, wird von manchen in der Gegenwart dafür in einer Art gestelzten Pornographie-Jargons darüber »gehandelt«). Ortega hingegen denkt über die Liebe nach — in allen ihre Facetten, den hochgeistigen ebenso wie dem vitalen Urtrieb, der die Menschen versklaven kann —, und kommt dabei zu klarsichtigen Unterscheidungen: etwa, wenn er die »Geschlechtsliebe« vom »Geschlechtsinstikt« abhebt, oder eine »sonderbare Verwandtschaft zwischen Hypnose und Verliebtheit« vermutet.

Aus dem ergibt sich, daß Ortega sicherlich kein Zeitgeist-Philosoph unserer Tage sein kann, ganz im Gegenteil: ein Denker, der einen Gegensatz von »Elite« und »Masse« postuliert, und auf die Notwendigkeit von Eliten verweist, ist denkbar unzeitgemäß! Was Ortegas Reputation bei den Heutigen ein wenig zu »retten« vermochte, war seine Emigration zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs — 1936 zunächst nach Frankreich, dann 1939 nach Argentinien und schließlich 1942 nach Portugal. Daß er 1948, als 65-jähriger, nach Spanien zurückkehrte, wird ihm offenbar als Altersmarotte nachgesehen — und verkennt völlig, daß Ortega zwar eine Loyalität mit der spanischen Republik verband (um deren Erhalt und Festigung er sich vor dem Bürgerkrieg ebenso engagiert wie fruchtlos bemüht hatte), nicht jedoch mit den roten Mordbanden, die in deren Namen durch die iberischen Halbinsel zogen, Nonnen vergewaltigten, Priester, »Kapitalisten« und Landbesitzer abknallten, wogegen er andererseits die Ziele, die hinter General Francos Aufstand gegen die Rotfrontregierung standen, auch nicht zu teilen vermochte. So wird das »Unbegreifliche« seiner Rückkehr ins »Franco-Spanien« nach dem Zweiten Weltkrieg verständlich: Ortega war (die Linken werden es mit gereiztem Stirnrunzeln, doch wenig überrascht lesen) nach Beendigung des Bürgerkriegs keineswegs ein »Anti-Franco-Mann«, der über dessen Regime irgendwelche Dummfloskeln von »faschistischer Diktatur« usw. absonderte — wenngleich er sicher kein Freund des Generals war, ihn aber als bei weitem kleineres Übel gegenüber den Mörderbanden und der Anarchie der »Roten« empfand.

Wenig schmeichelhaft ist überhaupt, was Ortega von der Politik und ihren Protagonisten dachte:
Im allgemeinen ist der Politiker als solcher ein zweitklassiger Mensch. Würde man eine statistisch-biographische Studie der Menschen, die sich mit Politik befassen, anlegen, so wäre man überrascht, wie ungeheuer groß der Prozentsatz derer unter ihnen ist, die von anderen, anspruchsvolleren Berufen in die Politik abgesprungen sind. Da sie in ihnen gescheitert sind, wenden sie sich der politischen Betätigung zu, weil sie leichter ist und weniger präzise Arbeit erfordert. Die Politik ist das ewige „von ungefähr“. […]

Dem Intellektuellen nötigt zunächst die Wendigkeit des Politikers, die Gewandtheit, mit der er sich bewegt, die Tapferkeit, mit der er in heiklen Situationen handelt, große Bewunderung ab, denn entgegen dem allgemeinen Urteil ist der Intellektuelle einer der wenigen Menschentypen, die echter Bewunderung fähig sind. Späterhin überzeugt er sich, daß diese Wenigkeit und diese Tapferkeit mit großen Beigaben von Unbewußtheit versetzt sind, das heißt, daß der Politiker die Situation nicht mit der Klarheit sieht wie der Intellektuelle — im Widerspruch zum allgemeinen Urteil —; vor allem sieht er nicht die Folgen der Situation voraus, und diese gefährliche, manchmal augenfällig katastrophale Zukunft lastet nicht auf ihm. Derart, ohne Last auf den Schultern, ist es leicht, wendig zu sein; derart, ohne Bewußtsein der Gefahr, ist es leicht tapfer zu sein (»Parlamentarische Sensationen«, 1932)
Auch dies eine Charakterisierung, die Ortegas Klarsichtigkeit alle Ehre macht — und seiner Prophetengabe: denn genau dieser Politikertyp ist es, der uns heute mehr denn je beherrscht.

Seine letzten Jahre verbrachte Ortega wieder in Spanien, wo er das »Instituto de Humanidades« gründete, das er als eine neuartige universitäre Stätte der Begegnung plante. Trotz erfolgreichen Anfangs verzichtete Ortega nach zwei Jahren auf eine Fortführung des Planes, trug sich angeblich sogar nach einer Begegnung mit Heidegger mit Plänen, nach Deutschland zu übersiedeln. Welche Pläne er immer hatte — sein Tod am 18. Oktober 1955 zerstörte sie. Und mochten auch drei Minister der spanischen Regierung ihm beim Begräbnis die letzte Ehre erweisen — nichts konnte verhindern, daß sich an ihm dasselbe vollzog, was er in bitterer Erkenntnis in einem Brief zum Ableben Unamunos, seines großen Philosophn-Kollegen, geäußert hatte:
Zu Lebzeiten war der große Intellektuelle bei uns stets grausam verlassen. Vor allem aber nach dem Tode. Solange einer lebt, kann er sich mehr oder weniger selbst schützen. Nach seinem Tod bleibt er der Verständnislosigkeit, Dummheit und Gemeinheit der Nachwelt überantwortet.
José Ortega y Gasset ist heute vor sechzig Jahren aus dieser Welt geschieden. Es ist bedrückend zu sehen, daß seitdem »Verständnislosigkeit, Dummheit und Gemeinheit« ins Kraut geschossen sind, und den Acker überwuchern, den er in so eigenwilligen Linien gepflügt hat …

2 Kommentare:

Volker hat gesagt…

Vielen Dank.

Vielleicht zur Ergänzung José Ortega y Gasset in Wikiquote

Anonym hat gesagt…

Ortega y Gasset war mein Abitursthema im Fach Deutsch 1971. Ich wurde sehr wohlwollend beurteilt dafür, daß ich ihn auch tatsächlich gelesen und - so Gott will- auch noch verstanden hatte. Ich fürchte, heute würde so ein Fauxpas nicht mehr durchgehen. Zumal ihn die heutigen Leerkräfte noch nicht mal dem Namen nach kennen...