Sonntag, 3. April 2022

Die Dritte ist mir die liebste

von LePenseur
 
 
 ... obwohl sie alle vier großartige Meisterwerke sind: seine Erste, die etwas scherzhaft auch als Beet-hovens Zehnte bezeichnet wurde, mit ihrem ehern-dramatischen Anfang wie mit dem finalen Schluß-jubel; die Zweite mit ihrer innigen Romantik, die einen gleichsam wie auf eine Postkutschenreise in idyllische Landschaften entführt. Die Dritte eben, die in ihrer logischen Folgerichtigkeit einen Kosmos des Lebens vor das innere Auge stellt — und natürlich die Vierte mit ihren beiden Ecksätzen, die zum großartigsten zählt, was nicht nur dieser Meister, sondern die gesamte Musikgeschichte an Werken hervorgebracht hat: von bezwingend vorgetragener Wehmut überschattet und doch voll von wilder Dramatik, vor allem im Finale, einer »gegen den Himmel trotzig erhobenen Faust«, die dem Hörer den sonst so gern gebrauchten besänftigenden Dur-Schlußakkord vorenthält, sondern ganz unversöhnt ausklingt.

Wenn man mir — in Zitierung des gelungenen Buchtitels eines bei weitem weniger gelungenen, etwas, sagen wir: doch überschaubar tiefgründigen, Herz-Schmerz-Romans der Sagan — die Frage gestellt hätte: »Lieben Sie Brahms?« ... so hätte die Antwort für die meisten Jahre meines Lebens wohl in einem etwas verlegen gemurmelten »Liebe ich ...? Nun, ich achte ihn, ganz ohne Zweifel, sehr hoch ... aber lieben — also nein, Liebe würde ich es denn doch nicht nennen« bestanden. Ich mußte meinen Sechziger verstreichen lassen, um Brahms nicht nur zu achten, sondern geradezu lieben zu lernen. Der Anlaß war, seltsam genug, ein Mandant, der mit mir eines schönen Tages (der danach nicht mehr schön war!) zu einem dringenden Problem telefonierte und kurzfristig einen Termin vereinbarte (nur an diesem Tag war er in Wien und die komplizierte Sache konnte nur in persönlichem Gespräch sinnvoll abgehandelt werden) für den ich sofort alles andere liegen und stehen lassen mußte, um mich in die umfangreichen Vorbereitungen auf den Termin zu stürzen. Ich würde wohl, so war mir bald klar, die ganze Nacht durcharbeiten müssen, um dem Klienten wohlvorbereitet alles präsentieren zu können — und was sollte mich, außer kurz gezogenem Tee, die Nacht über gleichzeitig inspirieren, übertriebene Hektik entspannen und das Formtief in den Stunden zwischen Eins und Fünf in der Früh übertauchen helfen ...? Nach einem schnellen Abendessen, von LaPenseuse für die Kanzlei mit einigen Keksen und etwas Obst versorgt, griff ich auf gut Glück ins CD-Regal und zog eine Kassette mit den Brahms-Symphonien heraus. In jener Nacht hörte ich die vier großen Werke in Dauerschleife als Hintergrund-musik wohl sicher drei- oder viermal — und seitdem liebe ich Brahms. Daß auch der Termin dann sehr erfolgreich verlief, sei nur der Ordnung halber vermerkt.

Brahms soll, so überliefert es sein Freund und erster Biograph Kalbeck, geäußert haben, ein moderner (gesprochen natürlich aus seiner, Brahms', zeitlichen Perspektive!) Komponist könne wohl nicht mehr als vier Symphonien komponieren, ohne Gefahr zu laufen sich zu wiederholen, etwas Überflüssiges zu schreiben. Welch unbestechlich-klare Selbstkritik spricht aus diesen Worten — und es ist in der Tat so, daß selbst die größten Symphoniker aller Zeiten in Grunde genommen diesem Gesetz unterlagen. »Moment mal! Aber Beethoven ...«, wird jetzt der empörte Einwand kommen. Ja doch! Auch wenn man Beethoven, um ein auf Euripides geprägtes Wort des ja wahrlich großen Geheimrats von Goethe anzuwenden, nur »auf Knien« tadeln darf — aber hat er denn wirklich mehr als vier Symphonien geschrieben? Symphonien, die den Gang der Musikgeschichte in neue Bahnen lenkten, von denen er mit Recht hätte sagen können: »Exegi monumentum ære perennius!« — dann sind es doch auch wieder vier: die Eroica, die Fünfte, Siebente und Neunte. Sähe die Musikgeschichte ohne Beethovens Achte, Zweite oder Vierte nennenswert anders aus, als sie ist? Wohl kaum ...

Auch Mahler, um ein Jahrhundert weiter zu springen, schrieb im Grund eine Zweite (»Auferstehung«), eine ganz andere Vierte, eine Sechste und seine Achte — die anderen sind (jetzt werde ich sicher von Mahlerianern gesteinigt werden!) mehr oder weniger entbehrlich, im Fall der Fünften und Siebenten sogar bloße Variationen über das Thema der Sechsten. Was nicht heißt, daß es nicht auch in den jetzt scheinbar deklassierten Werken »großartige Stellen« gibt, um die es jammerschade wäre, hätte Mahler sie nicht geschrieben. Aber als Ganzes betrachtet sind es wohl jene erwähnten vier Werke.

Doch um auf Brahms' No. 3 zurückzukommen: warum ist diese mir die liebste? Weil sie m.E. die in sich geschlossenste, in allen Sätzen am besten aufeinander »abgestimmte« unter seinen Symphonien ist. Sicher: der Kopfsatz und das Finale der Vierten ragen darüber hinaus — aber deren Scherzo ... ... nicht böse sein, aber die vom großen alten Kurt Sanderling, wenngleich positiv gemeinte, Beschreibung, ihm käme es fast vor wie eine Gruppe betrunkener Matrosen, die in ein Nachlokal auf der Reeperbahn hereinbrächen, von den anwesenden »Damen« mit Getränken und anderem bewirtet, vor sich hin-pöbelten und rülpsten ... nun, nicht jeder wird diese Assoziationen geeignet finden, aber: daß dieses Scherzo doch einen gewissen Fremdkörper in dem großartigen Bau der Vierten darstellt, das merkten schon Brahms' Freunde und Zeitgenossen ...

Die Dritte hingegen ist aus einem Guß, ohne deshalb auch nur ein bißchen langweilig und gleichförmig zu werden — das verhindert schon das ständige, subtile Changieren zwischen Dur und Moll, das sich durch die Themen und ihre Durchführungen und Verknüfpungen zieht, welches mich an eine liebliche Landschaft im Sonnenlicht erinnert, das infolge durchziehender Wolken andauernd seinen Charakter wechselt. Ich kenne sicherlich ein Dutzend großer Aufnahmen dieser Symphonie, die freilich (und mir unbegreiflich!) nie die Popularität der Ersten oder Zweiten erlangen konnte, und auch im, teilweise verständlichen, Schatten der Vierten steht. Wenn ich unter diesen Aufnahmen wählen muß, so ist für mich die unter Orozco-Estrada mit dem hr-Symphonieorchester Frankfurt eine spontane Entscheidung — und sei's nur darum, weil sie wie kaum eine andere Interpretation, die ich kenne, zur Wiederholung der Exposition (min. 3:20) so bruchlos und natürlich überzuleiten weiß (ich gestehe, daß mir jene Dirigenten, die glauben, Brahms »verbessern« zu können, indem sie die Wiederholung der Exposition weglassen, wie herostratische Unholde erscheinen ...).


Orozco-Estrada dirigiert das ganz Werk mit einer großen Linie, die den »durchgängigen« Charakter des Werks unterstreicht, und holt mir großer Präzision all die Details, die in weniger guten Interpretatio-nen in einer »Klangsuppe« unterzugehen drohen, heraus — einfach großartig!

Doch behandeln wir auch die anderen Symphonien in diesem nicht eben kurzen Artikel und fangen wir gleich bei der Ersten an: hier sei auf die exzellente thematische und strukturelle Analyse von Richard Atkinson hingewiesen, nach der man die Symphonie »wie neu« hört:


(Hier noch seine Analyse des 4. Satzes). Die Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle ist wirklich hervorragend, und sei deshalb (mit Partitur zum mitlesen) nachgetragen:


Ebenso großartig ist natürlich Bernstein mit den Wienern (1981), aber auch die von Böhm (1975) mit desmselben Orchester in Japan.

Von der Zweiten gibt es so viele hervorragende Interpretatinen, daß es schwer ist, eine auszusuchen. Meine persönliche Wahl fiele wohl auf das Chicago Symphony Orchester unter Sir Geoge Solti:

Ebenfalls eine durchaus hörenswerte Interpretation stammt von einem allerdings weniger bekannten Orchester, dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique (»on period instruments«) unter Sir John Eliot Gardiner (heute habe ich's mit den Sirs ...):
 

Man wird aus meinen eher kurz gehaltenen Worten zu diesem Werk erkennen, daß es mir trotz der bezwingenden Klangschönheit seiner Themen weniger »nahesteht« als seine Geschwister ...
 
Doch nun zur Vierten, bei der ich zunächst auf Richard Atkinsons geradezu stupende Analyse des Kopfsatzes verweisen möchte, an der mich nur eines stört: die dem gräßlichen US-»Englisch« anzu-lastende Verwendung der Worte »Most Apocalyptic« für eine keineswegs »apokalyptische« plagale Kadenz am Ende dieses Satzes:


Nachdem man so geschult sich in dieses Meisterwerk eingehört hat, empfehle ich dessen m.E. beste Interpretation aller Zeiten — von der Bayerischen Staatskapelle unter Carlos Kleiber (1996):


Besonders beeindruckend der Finalsatz, bei dem ich die oft irgendwie »zerflatternde« Streicherstelle (hier bei min: 33:05 ff.) noch nie so packend gehört habe: Kleiber ist in dieser Aufführung wirklich ein überragender »Klangzauberer«! Doch gerade diese Stelle faßt Furtwängler (1948 mit den Berlinern) ganz anders auf, wenngleich ich hier — ungeachtet des Klagerufs Karl Böhms bei der Todesnachricht: »Wer soll jetzt die Vierte dirigieren?« — der Interpretation Kleibers eindeutig den Vorzug gebe.

Über Brahms könnte man noch unendlich mehr schreiben und als Hörbeispiele bringen — es würde ihn nicht ausschöpfen. So habe ich mich in diesem Gedenkartikel — der Komponist starb heute vor 125 Jahren in Wien — bewußt auf seine vier Symphonien beschränkt, die in ihrer Größe und Vollendung ein in der Musikgeschichte selten erreichtes — und sicher nicht überbotenes — Werk-Korpus bieten. Dennoch: das letzte Wort, ganz dem Ernst eines Todestags-Gedenkens angemessen, sei hier einer Vokalkomposition eingeräumt, die ich unter die ergreifendsten »Trauermusiken« aller Zeiten einreihen möchte: die Nänie (nach Friedrich v. Schillers Gedicht), op. 82, hier in einer Interpretation der Berliner Philharmoniker mit dem Rundfunkchor Berlin unter Cladio Abbado:

 
Schillers elegische Distichen, die Brahms nach dem Tod eines Freundes, des Malers Anselm Feuerbach (dessen Mutter das Werk gewidmet ist), zu unsterblicher Musik inspirierten, seien als würdiges Denkmal des Komponisten ans Ende des Artikels gesetzt:

Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
    Nicht die eherne Brust   rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
    Und an der Schwelle noch, streng,   rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
    Die in den zierlichen Leib   grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
    Wann er, am skäischen Tor   fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
    Und die Klage hebt an   um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
    Daß das Schöne vergeht,   daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich;
    Denn das Gemeine geht   klanglos zum Orkus hinab.
 
Durch die Wiederholung des vorletzten Verses vermeidet Brahms die — eigentlich »unkomponierbare« — Trostlosigkeit eines Schlusses, den man im Gedicht gedanklich erfassen, aber eben »klanglos« nicht in Musik umsetzen kann. Nein: Brahms hat es in unzähligen Werken unter Beweis gestellt: sein Werk wird nicht »klanglos zum Orkus hinab« gehen, sondern im Sinne jener Horaz'schen Ode, die ich weiter oben zitierte, überdauern:
 
Exegi monumentum aere perennius
regalique situ pyramidum altius,
quod non imber edax, non aquilo impotens
possit diruere aut innumerabilis
annorum series et fuga temporum.

11 Kommentare:

Franz Lechner hat gesagt…

Nun ja, cher Penseur, das mit den nicht mehr als vier Symphonien scheint mir denn doch eine Kalbeck-Brahmssche Polemik gegen den schon allein quantitativ übermächtigen symphonischen Widersacher gewesen zu sein, der sich in seinen neun gezählten Symphonien ganz sicherlich niemals wiederholt hat (was erst richtig ersichtlich wird, wenn man die Erstfassungen der Nummern 2-4 heranzieht- a propos: bei der Erstfassung der Vierten haben Sie am Schluss auch eine - zwar ganz sicher nicht "apokalyptische", aber jedenfalls umwerfende plagale Kadenz, die ihresgleichen sucht). Allerdings wären 9 Symphonien aus der Feder Brahms' wirklich schwer vorstellbar, der Vierer-Block ist schon erratisch genug - und damit soll wirklich nicht gesagt werden, Brahms habe sich wiederholt.
Atkinsons Analysen sind schon sehr gediegen und gut gemacht. Gegen die Bezeichnung "apokalyptisch" hab ich eigentlich nichts einzuwenden. Dies trifft umso mehr auf den Schluss des Finales zu, dessen letzte Kadenz zwar authentisch ist, aber als feines Ausdrucksmittel auf "holprigem" geradzahligem Takt schließt, also letztlich "zu früh" daherkommt - eine intendierte, verstörende Wirkung. Ich sehe die Vierte als total pessimistische Musik, wie etwa auch Tschaikowskys Pathétique oder Beethovens Appassionata oder auch Mondscheinsonate - Werke, die von Anbeginn auf Scheitern oder "Untergang" programmiert sind, und die von "contrafaktischen" Mittelsätzen abgesehen (bei der Vierten nicht einmal so richtig das) keine Hoffnung aufkommen lassen. Schon als Jugendlicher hatte ich die ungefähre Assoziation des Finalsatzes mit einer zerstörten deutschen Stadt, so als hätte Brahms alles vorausgeahnt. Die Dramatik am Schluss ist eigentlich keine mehr - die Sache ist längst entschieden, aus der Kreisbewegung, deren Enge durch das Passacaglia-Thema abgesteckt ist, gibt es kein Entrinnen. Letztlich ist das schon im ersten Satz der Fall. Natürlich ist das "Es fiel/ihm wie-/der mal /nichts ein" gehässiger Unsinn, auch hier ist die Schwierigkeit, die liedhaften Themen klassisch-sonatisch zu verarbeiten, weniger gelöst als zum wirksamen Ausdrucksmittel erhoben worden. Aus der Not eine Tugend zu machen, ist keine Schande, sondern im Gegenteil Zeichen von höchster künstlerischer Potenz. Ob mir die Dritte (noch) besser gefällt? Nun, sie ist jedenfalls leichter verdaulich, wer hat denn schon schließlich jeden Tag Lust auf Weltuntergang? Dazu wird sie glücklicherweise nicht so oft gespielt - für mich ist Brahms leider etwas abnützungsgefährdet.
Für die Dritte spricht jedenfalls auch das wunderbare Poco Allegretto, vielleicht mein sinfonischer Lieblingssatz von Brahms.
Kennen Sie die Aufnahmen M. Poschners mit der Suisse Romande? Sehr interessant und erfrischend in meinen Ohren.

Franz Lechner hat gesagt…

Ein PS zum Scherzo: ich teile Ihren Einwand überhaupt nicht. Auch dieser Satz "passt" zur düsteren Grundstimmung perfekt. Ein anderes Scherzo wäre für mich schwer vorstellbar. Die Vierte ist für mich so sehr aus einem Guss wie kaum ein anderes Werk. Das könnte man sogar als Nachteil sehen mangels Kontrastbildung. Jedenfalls ist es ein Problem mancher wahrhaft großen und charaktervollen Musik, dass sie einfach "nichts anderes neben sich dulden kann". Das muss man jetzt im Falle der Vierten nicht so drastisch sehen, ich tu s auch nicht, meiner nur, dass diese Überlegung eher zutrifft als Ihre Bedenken.

Le Penseur hat gesagt…

Geschätzter Herr Collega,

es ist Ihnen aber schon aufgefallen, daß ich absichtlich Bruckner nicht einmal erwähnt habe! Mir ist völlig klar, daß ich da nicht »objektiv« urteilen könnte, da ich trotz vieler Bemühungen (auf Ihretwegen! Bitte um Applaus ;-) ...) zu Bruckner keinen Zugang finde. Erst gestern versuchte ich, dessen 8. Symphonie anzuhören und gab nach ca. 20 min. auf ...

Das ist alles ... wie soll ich sagen: ungeschlacht, irgendwie »patschert« komponiert für meinen Geschmack! Teilweise tolle Themen, die ihm eingefallen sind — aber bis zum Abwinken repetitiv. Und wo bleiben die Übergänge, die feinen Überleitungen, die motivische Kleinarbeit, die sich bei Brahms wie ein orientalischer Märchenteppich (in dunklen Farben, zugegeben!) vor dem Hörer ausbreitet.

Vielleicht erschließt sich Bruckner mir erst, wenn ich >80 bin und (hoffentlich nur) mit einem Fuß im Grabe ... aber derzeit: nein. Ich begreife es einfach nicht, wie man ihn so preisen kann. Achten, ja ... gar keine Frage! Zweifellos ein Mann mit genialen Anlagen, aber dieses grobklotzige Nebeneinanderstellen von Themen (die dann in verschiedenen Tonarten, auch auch bloß diatonisch transponiert, einfach wiederholt werden) kann nicht nicht begeistern.

Es ist irgendwie ... wie der Unterschied, ob man vor dem Großglockner steht, rundum nur Geröll und kümmerliche Latschen und auf die Gletschermoräne der Pasterze blickt, oder ob man eine gepflegte englische Parklandschaft vor Augen hat, mit kleinen und größeren, unauffällig aber ästhetisch angeordneten Sträuchern und Wäldchen, einem harmonischen Wasserlauf, Ausblicken auf ferne Hügel. Ersteres ist für mich Bruckner, zweiteres Brahms. Und wie jeder Vergleich hinkt natürlich auch dieser!

Aber Sie verstehen sicher, was ich meine.

P.S.: Poschners Aufnahme mit der Suisse Romande scheint den Weg nicht auf YT gefunden zu haben (ich fand wenigstens nichts). Haben Sie einen Link?

Franz Lechner hat gesagt…

Geschätzter Herr Kollege, zu Bruckner darf ich aus einem Buch zitieren, ich glaube, diese Zeilen treffen auch auf Ihren Standpunkt zu. Bruckner polarisiert eben, wie Mahler, wie alle Komponisten mit einem extrem ausgeprägten Personalstil. Also, aus dem Vorwort eines jüngst erschienenen Bruckner Buches:

Man muß es geradeheraus in dieser Einfachheit sagen: Bruckners Symphonien und ganz besonders seine früheren, sind verdammt „schwer zu verstehen“. Eine besondere Tücke scheint in dem Umstand zu liegen, daß dem Hörer dieser Umstand nicht eigentlich bewußt wird. Man ist nicht von der Fülle der Gedanken und Verwicklungen erschlagen, wie es etwa einem Zeitgenossen Beethovens angesichts der Eroica oder Neunten ergangen sein mag, man stößt nicht auf eine per se „unverständliche“ Sprache, wie es viele Hörer bei modernen Werken empfinden. Das Problem mit Bruckners Modernismus besteht gerade nicht darin, daß man diesen als entsprechend „modern“ und unverständlich erkennen würde, man versteht vermeintlich genug an „einzelnen Schönheiten“, wie Hanslick schrieb, aber man hat Schwierigkeiten, deren formale Einbettung hinreichend zu würdigen. Und das Schlimmste daran ist, daß man die „Schuld“ dem Komponisten zuschreibt. Gerade der Bruckner der frühen Fassungen erscheint dem Hörer, ob „Kenner“ oder „Laie“ dürfte in diesem Zusammenhang relativ egal sein, nicht zu kompliziert, sondern zu einfach, zu roh, zu primitiv, zu naiv. Dabei hat der Hörer tatsächlich etwas ganz Wesentliches nicht verstanden, das, für den Laien ohnehin nur unbewußt wahrnehmbar, ihm die eigentliche tiefere Bedeutung und die formale Sinnstiftung erschließen würde. Dieses Etwas ist eine Art Syntax, die von Werk zu Werk verschieden ist und jeweils neu erlernt werden muss. Die Kenntnis der übrigen Schwesterwerke reicht auch bei aller ihnen entgegengebrachter Liebe nicht unbedingt aus, um eine bestimmte, bislang unbekannte Brucknersymphonie hinreichend zu erfassen, zu würdigen, kurzum zu „verstehen“. Hier hilft nur eines: hören, einmal, zweimal und noch viel öfter, und das ist es, was Thomas Röder meinte: Generationen, die Musik noch nicht in Konserven gerinnen lassen konnten, hatten es da ungemein schwerer als wir.
Dem Leser wäre wohl auch ohne diese Vorankündigung nicht entgangen, daß ich, der Autor, das Finale der Vierten von 1874 ganz besonders schätze. Wenn er zunächst diese Auffassung ganz und gar nicht teilen sollte, möge er ganz unbesorgt sein: Auch mir ist es nach erstem Hören (natürlich auf Konserve, wie denn sonst, wird dieses Werk doch nur höchst selten gespielt) nicht besser gegangen, ich hielt dieses Finale für einen „interessanten“ Versuch, der letztlich etwas zu „experimentell“ geraten sei und vor allem formal nicht richtig „funktioniere“. Alles viel „zu lose aneinandergereiht“, die Schlussgruppe viel zu „primitiv“, der formale Verlauf zu „unausgegoren“, die rhythmischen Überlagerungen zu „unmotiviert“ und der Schluß viel zu „platt und pompös“…
Ich weiß also, wovon ich rede; und noch dazu ist das kein Einzelfall in meiner ganz persönlichen Bruckner-Rezeptionsgeschichte gewesen.

Zitat Ende. Dass ich diese Zeilen zu 100% für zutreffend halte, ist jetzt kein großes Wunder und eigentlich auch keine Empfehlung, denn sie stammen von mir. Zur Frage der "fehlenden Übergänge" hätt ich natürlich auch was nachzureichen, aber das sprengt zunächst jeden Rahmen, das ufert aus.

Anonym hat gesagt…

Übrigens befinden Sie sich wahrscheinlich sogar in Dissens zu Meister Brahms himself, der angesichts der Achten gesagt ... haben soll, zugegeben, es ist im Zusammenhang mit Bruckner alles anekdotisch, aber etliches spricht dafür: Bruckner ist doch ein großes Genie.
Dass die Durchführung des Kopfsatzes "repetitiv" ist, indem sie sich auf die Themenköpfe der ersten beiden Themenkomplexe beschränkt... nun ja, wer wollte das leugnen? Ein in dieser Schärfe drastischer Sonderfall im Brucknerschen Oeuvre, der aber als Kontrast zu Exposition und Reprise gut funktioniert - natürlich letztlich Geschmacksfrage, aber gerade die VIII ist eigentlich die am breitesten anerkannteste aller Bruckner-Symphonien. Gerade die Überleitungstechnik der Achten ist überaus fein und jedenfalls einer Studie wert. Ihr Fall von Bruckner-Idiosynkrasie scheint daher extrem hartnäckig zu sein. Als allererste Therapie könnte ich nur die Erste (Linzer Fassung) oder die sog Studiensymphonie empfehlen - Letztere bitte ohne Ersten Satz, dessen Hauptthema mE einfach zu schwach ist (und wahrscheinlich gar nicht von Bruckner stammt).

Poschners Brahms kenn ich auch nur von CD oder DVD meiner Frau, die mit ihm (Poschner) beruflich zu tun hat. Er legt Wert auf extreme Verschlankung des Klanges, die dem Werk sehr gut tut, aber mit heutigen großen Symphonieorchestern einfach nicht zu erreichen ist. Auch mit dem BOL hat Poschner nichts zuwege gebracht, das sich von gängigen Brahms-Interpretationen substantiell unterscheiden würde. Brahms' Orchestrierung tendiert - wie bei Abkömmlingen der Leipziger Schule ja oft der
Fall - bei heutiger Musizierpraxis zu einer gewissen Schwerfälligkeit. Poschner geht die Sache eher kammermusikalisch an.

Le Penseur hat gesagt…

Geschätzter Kollege,

am "extrem ausgeprägten Personalstil" kann's m.E. eigentlich nicht liegen, denn sonst ertrüge ich doch nie einen meiner absoluten Lieblingskomponisten: Richard Strauss("personaler" geht wohl net ...)! Und was das öfter-hören betrifft — daran kann's auch nicht wirklich liegen, denn ich habe mir einige der Bruckner-Symphonien wirklich oft angehört (5-10 mal), andere nur einmal, andere nur ein einziges Mal zum Teil — und der generelle Eindruck bei allen (und zwar ziemlich egal, wie oft gehört) war und ist:

1. "this is not my cup of tea!"
2. "Jammerschade, was hätte man aus dem nicht alles machen können!"

Ich glaube, wir können und müssen's dabei belassen, so bedauerlich das auch (insbes. aus Ihrer Sicht!) sein mag! Aber immerhin bleibt mir auch ohne Bruckner noch immer genug Musik, um damit meine Restlebenserwartung "24/7" locker auszufüllen :-)

Franz Lechner hat gesagt…

Übrigens - selten hinkt ein Vergleich so wenig, wie Ihr Großglocknervergleich. Und genau deshalb dürften so viele "alpinistisch angehauchte" Musikliebhaber Bruckner bevorzugen. Ich hab mir das am Adagio der Neunten selber so gedacht - es ist wie ein Aufstieg von einer ungemein schönen Mittelgebirgslandschaft in immer unwirtlicher werdende Höhen, bis zu nacktem, menschenfeindlichem Fels. Das sind natürlich Bereiche, die Brahms' Sinfonik einfach nicht hergibt. Das ist kein Verdikt, alles hat sein Für und Wider, jeder hat seine Grenzen. So wie Bruckner keinen Satz à la Poco allegretto zustande gebracht hat.

Franz Lechner hat gesagt…

na ja, Personalstil kann man unmittelbar mögen oder nicht, aber diese Einschätzung kann man ändern.
Was das 5-10x betrifft: das ist leider nicht viel...
Ich weiß, wovon ich rede... Ich liebe beispielsweise die Neunte. Das Finalfragment hab ich, naturgemäß, wie alle Brucknerianer meiner Generation, erst in sagen wir mittlerem Alter kennengelernt. Wie die meisten Bruckner-Liebhaber hab ich' - lange! - abgelehnt... Schwach, primitiv, misslungen, unausgewogen, roh, was weiß ich was noch alles. Heute jedoch frage ich mich: wie ist das möglich? Ich kenne und liebe den ganzen Bruckner und scheitere an einem für mich neuen und unbekannten Stück derart kläglich? Ich bin doch auch nicht sonst ein vollkommener Idiot!?
Was ich sagen will: meiden Sie ungünstige Urteile über Bruckner. Halten Sie sich im Hinterkopf, dass Sie sich furchtbar irren können. Das ist wahrlich keine Schande, keinem von uns geht es wirklich besser, und am Ende des Tages hat Bruckner jeden von uns reingelegt. Er ist klüger als wir und hat alles tausendmal besser und tiefer durchdacht, als wir vermeinen. Auch Brahms hat das erkennen müssen. Jedenfalls hat er sich am Ende seines Lebens sehr für Bruckner eingesetzt.


Le Penseur hat gesagt…

Brahms hatte vermutlich einen edleren Charakter als meine Wenigkeit ;-) ...

Was meine bisherige, derzeitige und vermutlich auch künftige Beziehung zu Bruckner angeht: ich befürchte, aus mir wird wohl kein Alpinist! "Meine" Landschaft ist eher die hügelige Voralpenlandschaft.

Und wenn Sie sich (im rechten Side-Bar unter Stichwort "Musik" bzw. unter "Ausgewähltes aus dem Archiv") so ansehen, was ich mit unfangreichen Artikeln bedacht habe — "Brucknereskes" wird Ihnen da eher nicht unterkommmen, vielleicht mit Ausnahme von Richard Wetz, den ich aber eher wegen meiner Verachtung für seine Aburteilung durch eilfertige Berufs-Antifanten, als aus spezieller Begeisterung für seinen (in Bruckners Nachfolge anzusiedelnden) Stil erwähnte.

Und mein großer Strauss-Artikel "(K)ein Heldenleben", wie auch der über Weingartner, den ich auch als Komponisten zu schätzen weiß (den Artikel über Mjaskowski kennen Sie schon), macht Sie bezüglich der von mir bevorzugten Art von Musik sicher.

So leid es mir tut — aber meine letztliche "Bekehrung zu Bruckner" erscheint mir wenigstens aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich. Denn im Gegensatz zu Brahms, dem ich all die Jahre vor meinem Sechziger "mit gepflegtem Desinteresse" begegnet bin, gibt es bezüglich Bruckner zwar nicht gerade eine Aversion (wie ich sie bspw. gegenüber den allermeisten, insbes. "berühmten" Verdi-Sachen empfinde, ich ich gern als "Zirkusmusik" bezeichne ...), aber doch eine gewisse deutliche "Reserve", eine Skepsis nach dem Motto "was soll denn das schon wieder ...!?"

Und das wird vermutlich weit schwerer zu überwinden sein als meine frühere bloße Desinteressiertheit, wie sie im Falles Brahms' vorlag.

Franz Lechner hat gesagt…

ad Verdi-Aversion
Mir ist und bleibt es ein unlösbares Rätsel, wie nachweislich musikalisch und geschmacklich sehr versierte Menschen so etwas Lächerlich-Banales wie die Gilda-Arie hochschätzen können. Aber das meiste aus Verdis Feder ödet mich nur an, es ist nicht einmal melodisch hinreißend, sondern nur fad. Damit will ich nicht sagen, dass Verdi kein bedeutender Komponist gewesen sei - so etwas wie sein Streichquartett muss man erst einmal schaffen können. Das Leben hat ihn leider zum Massenproduzenten von Theatermusik gemacht. Meine Lieblingsoper von ihm ist übrigens La Traviata - die ist ehrlich, authentisch und ihre verhaltene Weise anrührend. Mit dem viel zu prätentiösen und letztlich darin albernen Falstaff hab ich noch nie was anfangen können - ein mE auch dramaturgisch schwaches Werk, der letzte Akt wirkt auf mich mehr oder weniger redundant.

Auf - natürlich ungleich höherem - Niveau hat sich das bei Richard Strauss wiederholt - er hätte, das hat auch Harnouncourt gesagt, aus seinem unfassbaren Talent letztlich mehr herausholen sollen. Irgendwann hat er begonnen, nur noch für die Kohle zu komponieren, spätestens nach der Frau ohne Schatten, die ich aufgrund der redundanten Ausbreitung immer derselben Melodie für phasenweise nicht überaus stark erachte. Ohne die weltpolitische Katastrophe wäre er musikalisch wohl an Herzverfettung gestorben. Dafür, dass er sich im hohen Alter wieder zu ungeahnten Höhen aufschwang, musste im wahrsten Sinne des Wortes die Welt untergehen. Aber für mich klafft da zwischen absoluten Spitzenwerken, die mir zu den Liebsten ihrer Gattungen zählen, wie Elektra und den Vier Letzen Liedern ein enormes schöpferisches Loch (beide Werke nur als ungefähre Richtschnur bzw als Partes pro toto!, wobei eventuell das Liedschaffen als Ganzes von dieser doch wohl viel zu negativen Betrachtung auszunehmen ist. Ich kenn es einfach zu wenig - was letztlich für den ganzen R.S. gilt, aber dennoch hab ich da etliches gehört, das mir eingehenderer Befassung wert schien - und das ist zB bei Arabella eindeutig nicht der Fall gewesen).

Le Penseur hat gesagt…

Cher Collega,

also das »... spätestens nach der Frau ohne Schatten ...« verstehe ich nicht!

Ich bin so insgesamt nicht das, was man einen »Opern-Fan« nennt — ich kann wirklich sehr gut ohne dieses Genre auskommen! Wenn überhaupt, höre ich mir Opern (so wie auch Symphonien etc.) am liebsten zuhause an, mit der Partitur in der Hand auf meiner recht exquitisen Stereoanlage: da hustet keiner, da ärgere ich mich nicht über vertrottelte Einfälle des Regisseurs, da sitze ich nicht bei mehr oder weniger tropischen Temperaturen im dunklen Anzug in drangvoller Enge und fühle die Schweißflecken unter den Achseln wachsen ...

Ja, das »Life«-Gefühl fehlt, aber Opfer müssen halt gebracht werden! Lieber weniger »life«, dafür bequem in der Bibliothek sitzend und — vor allem!!! — mit der Möglichkeit, jederzeit, wenn ich merke, daß mich das Ganze heute einfach nervt, aufzustehen, abzudrehen und dafür bspw. ein Buch zu lesen, Katzen zu streicheln, medidativ eine Tasse Tee zu schlürfen, oder was auch immer ...

Zurück zu Strauss: wenn ich mir Opern anhöre, dann ist die Chance, daß die von Strauss ist, recht hoch. »Ältere Sachen« (d.h. de facto: Mozart) reizen mich da nur selten (im Gegensatz zu Symphonien, Kammermusik etc. jener Zeit, die ich durchaus liebe!), Wagner stand ich immer achtungsvoll, aber mit wenig Begeisterung gegenüber (und seine meisten Sachen dauern mir schlichtweg zu lang!), und die Italianità, egal ob sie nun Rossini, Bellini, Donizetti, Verdi oder gar Puccini heißt, kann mir (spärliche Einzelmomente davon mal ausgenommen!) einfach gestohlen bleiben. Da läse ich ja lieber noch VwGH-Judikate zum Burgenländischen Tourismusförderungsgesetz ... ;-)

Die Franzosen und Russen gefallen mir bei Opern auch nicht wirklich, also bleibt außer Strauss nicht mehr viel über.

Wenn Sie »spätestens« sagen, dann heißt das offenbar, daß Sie schon Opern vor »FroSch« als bloße »Kohle«-Arbeiten ansehen. Wie ich Sie einschätze, werden Sie das eher nicht auf Salome oder Elektra beziehen — blieben also der Rosenkavalier und Ariadne. Nun, das fände ich höchst ungerecht! Beim Rosenkavalier rechnete Strauss (siehe seine Briefe an Hofmannsthal) mit einem bestenfalls Achtungserfolg, und die Ariadne war insgesamt mit ihren Fassungen so eine »schwere Geburt«, daß sich pekuniäre Erwägungen eigentlich ausschließen.

Und was nach »FroSch« kommt .. ja mei! Es gibt darunter ein paar schwächere Sachen (Ägyptische Helena, den Friedenstag und die Liebe der Danae), aber »Kommerz« vermute ich bei auch denen keineswegs. Erst recht bei Intermezzo und der Schweigsamen Frau würde ich bloße Kohle-Arbeit stark bezweifeln, bei Arabella — die ich als einen seltenen Fall von wirklich gelungenem »Opern-Sequel« (scil. des Rosenkavaliers) und ganz wunderbar finde (insbes. den Schluß des 3. Akts — da beginnt sogar mir Oper zu gefallen, so wie auch beim Schluß des Rosenkavaliers!) — oder gar beim durch und durch einzigartig genialen »Capricco« für schlichtwegs unnachvollziehbar halten!

Aber, wie gesagt: Oper ist insgesamt »nicht meins« — ich bevorzuge ganz eindeutig Symphonien (Konzerte für was auch immer mit ihrem Virtuosengeklingel mag ich nur bei wirklich hochkarätiger Kompositionsqualität) und Kammermusik.