Emanuel Geibel
"Dir ward das Köstlichste verliehen
In dieser Tage Sturm und Drang:
Ein Sinn für ewge Harmonieen
Und eine Seele voll Gesang.
Dem Jüngling lauscht, es lauscht dem Greise
Das deutsche Volk allüberall,
Und lieblich klingt die süße Weise:
Dein Herz ist seine Nachtigall!
Denn wer verstand wie du das Wesen
Der deutschen Sehnsucht und ihr Leid?
Zu ihrem Herold auserlesen,
Warst du das Echo deiner Zeit!
In dämmerschwülen Tagen sangst du
Dein: Wache auf! dem deutschen Reich
Und nach dem Sieg von Sedan schlangst du
Das Oelblatt in den Lorbeerzweig.
Doch nicht die Zeit nur und ihr Wüthen
Hat dir das Harfenspiel bewegt,
Die duftigsten der Liederblüthen
Dein eignes Herz hat sie gehegt.
Doch was es immer auch erfahren,
Stets blieb dir heilig deine Kunst,
Und eingedenk des Ewig-Wahren,
Verschmähtest du des Pöbels Gunst!
Dem Herrn befahlst du deine Wege
Und übtest fromm dein frommes Amt,
Dem Lenz gleich, der das Dorngehege
Mit rothen Rosen überflammt.
Denn alles, was mit seiner Schöne
Das Herz erquickt in Wald und Flur,
Du gabst ihm Worte, gabst ihm Töne,
Ein Hoherpriester der Natur!
Und jetzt in einer Zeit der Gährung,
Der schon das Blut zu Eis gerinnt,
Weil sie in eitler Selbstverklärung
Den Thurmbau Babels neu beginnt:
Wer schickt sie aus, die Friedenstaube,
Wer bricht das Brot und trinkt den Wein?
Du bist es, du, du und dein Glaube,
Dein Glaube an ein Gottessein!
Wohl tanzt noch immer die Verblendung
Wie ehmals um das goldne Kalb,
Doch naht die Zeit schon der Vollendung
Und weichen wird von uns der Alp.
Denn nicht umsonst hast du gerungen,
Wie du gekämpft, hast du gesiegt:
Von Sphärenharmonie umklungen,
Ein Aar, der in die Sonne fliegt.
Schon steht die Kunst nicht mehr am Pranger,
Schon winkt aufs Neu ihr Bahn auf Bahn,
Und unsre Zeit sieht zukunftsschwanger
Das kommende Jahrhundert nahn.
Drin werden tausend Blüthen blinken
In neuer Glorie neuem Schein,
Und mag die Frucht auch andern winken,
Die Saat, die goldne Saat ist dein!"
O alte Zeit, o altes Lieben,
Euch schleift kein Stahl, kein Diamant!
Was so vor Jahren ich geschrieben,
Heut nahm ich's wiederum zur Hand.
Und wieder sprang mit jedem Schlage
Mein Herzblut an zu schnellerm Lauf,
Und eingedenk verschollner Tage,
Schlug ich die Juniuslieder auf.
Ferndraußen schwebte durch die Lüfte
Der erste Sonntag im April,
Durchs Zimmer flog's wie Veilchendüfte
Und heimlich war's und kirchenstill.
Vom Thurm nur läuteten die Gocken
Den Winter in sein Wittwerbett,
Und frühverwehte Blüthenflocken
Warf mir der Lenz aufs Fensterbrett.
Ich aber saß und las sie wieder -
O Gott, mir war das Herz so schwer!
Ich las die alten goldnen Lieder:
Das Heimweh und die Nacht am Meer.
Im Mondschein schritt ich weltvergessen
Hinunter und hinauf den Strand,
Und sacht umrauschten die Cypressen
Das Inselmeer von Griechenland.
Des Südens Sterne sah ich scheinen,
Doch fühlt ich nicht des Südens Lust,
Der Liebe langverhaltnes Weinen
Rang schluchzend sich aus meiner Brust.
Als müßt' es wonnig sich verbluten,
Vor Sehnsucht ward das Herz mir weit,
Und durch mein Sinnen ließ ich fluthen
Das Heimweh nach der Ewigkeit.
Und wieder dacht ich dann begeistert
Des Sängers, der dies Lied einst sang,
Der eine Welt mit ihm bemeistert
Und Zeit und Raum mit ihm bezwang.
Saß er jetzt auch in sich versunken,
Ein Liederbuch auf seinen Knien,
Und lauschte lenz- und wohllautstrunken
Dem Glockenspiel von St. Marien?
Er, der Brundhilde, die Walkyre,
Aus Island rief an unsern Rhein ...
Da horch, ein Klopfen an der Thüre
Und laut erschallte mein Herein!
Und eilvoll trat zu mir ins Zimmer
Mein Freund, der mir die Rechte bot;
Schon seines Auges feuchter Schimmer
Sprach, eh's sein Mund sprach: Er ist todt!
Er starb, noch eh die Morgenröthe,
Eh sich die Nacht ins Auge sahn;
Mit Uhland, Schiller und mit Goethe
Wallt nun auch Geibel seine Bahn.
Die Stirn vom Lorbeer sanft umfächelt,
Mit seinem Herrn ist er vereint;
Sein bleiches Antlitz liegt und lächelt,
Die ewge Liebe aber weint. -
O wehmuthweiche Trauerkunde,
Wie schlugst du schmerzlich an mein Ohr;
Mir war's, als ob ich jäh zur Stunde
Ein Stück von meinem Selbst verlor!
Der Tod, der bleiche Allvernichter,
Blies mir ins Herz die Melodie:
O, nun ist todt der letzte Dichter
Und mit ihm auch die Poesie!
Kein armes Wörtchen konnt ich stammeln,
Ein Schauer war's, der mich beschlich,
Erst mählig wußt ich mich zu sammeln,
Der Bann, der mich umfangen, wich.
Der Muse Flügel hört ich schlagen
Und all mein Wesen war entflammt:
Halt ein, rief ich, mein Freund, mit Klagen,
Nun feiern wir sein Todtenamt!
Und sacht hieß ich ihn niedersitzen,
Ich aber wandte mich geschwind,
Der blanken Lederbände Blitzen
Zog magisch mich ans Bücherspind.
Durchs Fenster fielen Sonnenstäubchen
Und bauten einen goldnen Steig
Und draußen wiegte sich ein Täubchen
Auf windbewegtem Fliederzweig.
Ich aber las schnell längs den Brettern
Die bunten Titel Band für Band,
Bis endlich mit vergilbten Lettern
Ich ein verstaubtes Büchlein fand.
Gepreßt lag eine Schlehdornblüthe
Drin als ein Pfand verjährter Lust;
Ich schlug es auf, mein Antlitz glühte,
Und klangvoll brach's aus meiner Brust:
"Es ist ein hoher Baum gefallen,
Ein Baum im deutschen Dichterwald,
Ein Sänger schied, getreu vor allen,
Von denen deutsches Lied erschallt.
Wie stand mit seinem keuschen Psalter
Im jüngern Schwarm er stolz und schlicht;
Ein Meister und ein Held wie Walther
Und rein sein Schild, wie sein Gedicht!"
Ein gluthgeborstner Feuerofen,
In lohen Flammen stand mein Herz;
Rollt doch ein Klang durch diese Strophen,
Ein Klang wie von korinthisch Erz!
Und weiter, immer weiter las ich
Des todten Dichters eignes Lied;
Daß er's einst Uhland sang, vergaß ich
Und wußte Eins nur noch: Er schied!
"Er schied, es bleibt sein Mund geschlossen
Im Wort so karg, im Lied so klar:
Der Mund, draus nie ein Wort geflossen,
Das seines Volks nicht würdig war.
Er schied: doch waltet sein Gedächtniß
Unsterblich fruchtend um uns her,
Das ist an uns sein groß Vermächtniß:
So treu und deutsch zu sein, wie er!"
Ich schwieg, der Lenz hielt draußen Feier
Und unsre Herzen schlugen drein,
Und leuchtend über Wald und Weiher
Sein Goldnetz wob der Sonnenschein.
Verwehte Frühlingsdüfte kamen
Von fernher über Fluß und Ried
Und wie ein feierliches Amen
Klang hoch im Blau ein Lerchenlied.
Es ist ein, zugegeben, sehr langes Gedicht, und mancher Leser wird sich unter der Lektüre diskret verabschiedet haben. Schade! Denn es ist ... ein Gedicht! Keine bloße Reimerei, kein Vers-Klingklang, sondern eben: ein Gedicht! Ein panegyrisches Gedicht aus Anlaß der Nachricht vom Tode Emanuel Geibels, und dieser Umstand ist vielen Arno-Holz-Fans (und -Wissenschaftlern) schon sauer aufgestoßen: warum hat er bloß ... gerade ... Geibel! Aber nicht doch! Den doch nicht! Der da mit dem deutschen Wesen, an dem die Welt ... also: Autobahn! Des Dichters Emanuel Geibel wurde übrigens in dieser Serie "Hundert notwendige Gedichte" bereits (wenn auch etwas verspätet, nicht am 17. Oktober zur zweihundertsten Wiederkehr des Geburtstages, sondern am Abend des Silvesters 2015) gedacht. Trotzdem!
Freilich ist mein Verhältnis zu Arno Holz gespalten, um nicht zu sagen (wenn dieser Kalauer gestattet ist): nicht ganz astrein! Seine Dramen (ob mit, ob ohne Schlaf) können mich nicht wirklich ansprechen, sein zwischenzeitlicher Hang zum Sozialismus läßt mich den Kopf schütteln, seine (zweifellos gekonnt nachempfundene) Neo-Barock-Lyrik des "Dafnis" läßt mich größtenteils eher kalt, sein "Phantasus" ebenso. Ungereimte Bandwurm-Verse waren nie mein Fall, lyrischer Dogmatismus ebensowenig ...
Bleibt (wenigstens für mich) das "Buch der Zeit", der erste "richtige" Arno Holz, und dafür gleich was für einer! Es ist in der Tat das erste Mal, daß da in deutscher Sprache so etwas wie "Großstadtlyrik" entstanden ist, noch fernab vom platten Asphalt-Zynismus à la Tucholsky & Co., der sich dann in den 1920er-Jahren breitmachte, und nicht nur bei Nazis Brechreiz erregt ... oder, bessergesagt: erregte, denn heute ist sowas als Werk eines kanonisierten Säulenheiligen der Antifantischen Kirche vor jeder Kritik patentrechtlich geschützt ...
Holz hingegen ist längst vergessen (außer in ein paar Literatenkreisen). Die Wikipedia versucht noch, ihn per Kontaktkontamination über eine Kranzniederlegung durch Gottfried Benn ("legt im Namen der nationalsozialistisch gleichgeschalteten Deutschen Akademie der Dichtung einen Kranz am Grab von Arno Holz nieder", lautet die Bildunterschrift) etwas dubios zu machen, denn so Sachen wie sein Entwurf einer „Deutschen Akademie“ als Vertreterin der geeinten
deutschen Geistesarbeiterschaft, Offener, sehr ausführlicher Brief und
Bericht an die Öffentlichkeit, 1926, sind schon irgendwie nicht germanomasochistisch genug, um heute noch passieren zu können ...
Aber dennoch ...
Ein gluthgeborstner Feuerofen,
In lohen Flammen stand mein Herz;
Rollt doch ein Klang durch diese Strophen,
Ein Klang wie von korinthisch Erz!
... wer das zu schreiben
versteht, der ist ein Dichter! Mögen klügelnde Nachfolgegenerationen sich über das Gedicht ihr Maul zerreißen: Arno Holz war ein Dichter, wie es ihn in einer Sprache alle Generationen kaum öfter als einmal gibt ...
»Hundert notwendige Gedichte« (geordnet nach Autorennamen): Bertolt Brecht – Hans Carossa (1) | (2) – Matthias Claudius – Theodor Däubler – Richard Dehmel – Fritz Diettrich – Annette Droste von Hülshoff – Joseph von Eichendorff – Theodor Fontane – Louis Fürnberg – Emanuel Geibel – Andreas Gryphius — Albrecht von Haller – Hermann Hesse – Friedrich Hölderlin – Ricarda Huch – Anna Louisa Karsch – Klabund – Karl Krolow – Li-Tai-Peh (übertragen v. Egmont Colerus) – Conrad Ferdinand Meyer (1) | (2) | (3) – Agnes Miegel – Börries Frh. v. Münchhausen – Friedrich Nietzsche – Wilhelm Raabe (1) | (2) – Rainer Maria Rilke – Georg Trakl – Anton Wildgans (1) | (2) – Stefan Zweig.
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