Dienstag, 24. Juni 2014

Hundert notwendige Gedichte VII — Stefan Zweig


Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neigen
Wird der Grund, der goldne, klar.

Vorgefühl des nahen Nachtens,
Es verstört nicht ... es entschwert.
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nicht mehr begehrt,

Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.

Niemals glänzt der Ausblick freier,
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.


Stefan Zweigs letztes Gedicht, bevor er in eine — wie er wohl hoffen durfte — bessere Welt aufbrach ... Richard Katz, so wie Zweig ein Altösterreicher (jener aus Prag, dieser aus Wien) und Emigrant in Brasilien, liebte dieses Gedicht ganz besonders, obwohl er dem Schaffen seines berühmteren Schriftsteller-Kollegen sonst, wie er einräumte, ein wenig distanziert gegenüberstand. 

Und mit beidem hatte er recht. In Zweigs so umfangreichem Werk findet sich somanch schwächeres Buch, und auch seine Lyrik wirkt nicht selten »von zweiter Hand«. Ein Einwand, den man gegenüber diesem seinem letzten Gedicht freilich nicht erheben kann ...



»Hundert notwendige Gedichte« (geordnet nach Autorennamen): Theodor DäublerRichard DehmelAnnette Droste von HülshoffJoseph von EichendorffAlbrecht von HallerConrad Ferdinand Meyer

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