Dienstag, 20. Mai 2014

Hundert notwendige Gedichte II — Albrecht von Haller: »Die Alpen«

Vom Romantiker Eichendorff ist es ein weiter, kühner Schritt zum spätbarock-frühaufklärerischen Pathos eines Albrecht von Haller. Dennoch — und obwohl natürlich nicht alle 49 Stanzen dieses gewaltigen Lehrgedichtes dieselbe Qualität atmen — sind »Die Alpen« ein Werk, das mich seit Jahrzehnten immer wieder begeistert hat. 

Die ersten beiden Stanzen sind, zugegeben, eher schwach (wie dann auch manches im Mittelteil), doch schon ab der dritten entfaltet Haller ein in sonoren Tönen schwelgendes Panorama seiner Heimat, einer als naturverbundene, unverdorbene Idylle gezeichneten Schweiz:
Beglückte güldne Zeit, Geschenk der ersten Güte,
Oh, daß der Himmel dich so zeitig weggerückt!
Nicht, weil die junge Welt in stetem Frühling blühte
Und nie ein scharfer Nord die Blumen abgepflückt;
Nicht, weil freiwillig Korn die falben Felder deckte
Und Honig mit der Milch in dicken Strömen lief;
Nicht, weil kein kühner Löw die schwachen Hürden schreckte
Und ein verirrtes Lamm bei Wölfen sicher schlief;
Nein, weil der Mensch zum Glück den Überfluß nicht zählte,
Ihm Notdurft Reichtum war und Gold zum Sorgen fehlte!


Ihr Schüler der Natur, ihr kennt noch güldne Zeiten!
Nicht zwar ein Dichterreich voll fabelhafter Pracht;
Wer mißt den äußern Glanz scheinbarer Eitelkeiten,
Wann Tugend Müh zur Lust und Armut glücklich macht?
Das Schicksal hat euch hier kein Tempe zugesprochen,
Die Wolken, die ihr trinkt, sind schwer von Reif und Strahl;
Der lange Winter kürzt des Frühlings späte Wochen,
Und ein verewigt Eis umringt das kühle Tal;
Doch eurer Sitten Wert hat alles das verbessert,
Der Elemente Neid hat euer Glück vergrößert.


Wohl dir, vergnügtes Volk! o danke dem Geschicke,
Das dir der Laster Quell, den Überfluß, versagt;
Dem, den sein Stand vergnügt, dient Armut selbst zum Glücke,
Da Pracht und Üppigkeit der Länder Stütze nagt.
Als Rom die Siege noch bei seinen Schlachten zählte,
War Brei der Helden Speis und Holz der Götter Haus;
Als aber ihm das Maß von seinem Reichtum fehlte,
Trat bald der schwächste Feind den feigen Stolz in Graus.
Du aber hüte dich, was Größers zu begehren.
Solang die Einfalt daurt, wird auch der Wohlstand währen.


Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen,
Allein dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt;
Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen,
Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind;
Dein Trank ist reine Flut und Milch die reichsten Speisen,
Doch Lust und Hunger legt auch Eicheln Würze zu;
Der Berge tiefer Schacht gibt dir nur schwirrend Eisen,
Wie sehr wünscht Peru nicht, so arm zu sein als du!
Dann, wo die Freiheit herrscht, wird alle Mühe minder,
Die Felsen selbst beblümt und Boreas gelinder.


Glückseliger Verlust von schadenvollen Gütern!
Der Reichtum hat kein Gut, das eurer Armut gleicht;
Die Eintracht wohnt bei euch in friedlichen Gemütern,
Weil kein beglänzter Wahn euch Zweitrachtsäpfel reicht;
Die Freude wird hier nicht mit banger Furcht begleitet,
Weil man das Leben liebt und doch den Tod nicht haßt;
Hier herrschet die Vernunft, von der Natur geleitet,
Die, was ihr nötig, sucht und mehrers hält für Last.
Was Epiktet getan und Seneca geschrieben,
Sieht man hier ungelehrt und ungezwungen üben.


Hier herrscht kein Unterschied, den schlauer Stolz erfunden,
Der Tugend untertan und Laster edel macht;
Kein müßiger Verdruß verlängert hier die Stunden,
Die Arbeit füllt den Tag und Ruh besetzt die Nacht;
Hier läßt kein hoher Geist sich von der Ehrsucht blenden,
Des Morgens Sorge frißt des Heutes Freude nie.
Die Freiheit teilt dem Volk, aus milden Mutter-Händen,
Mit immer gleichem Maß Vergnügen, Ruh und Müh.
Kein unzufriedner Sinn zankt sich mit seinem Glücke,
Man ißt, man schläft, man liebt und danket dem Geschicke.
Es ist — natürlich, bei einem Lehrgedicht! — ein planvoll-didaktischer Zug, der durch das Gedicht geht, doch (fast) ohne Pedanterie, und v.a. ohne den Bombast, der Barocklyrik oft ebenso widerlich macht wie die schal tändelnde Geziertheit den Rokoko-Anakreontiker. Und sprachgewaltig endet auch das Werk, das an Monumentalität seinem Titel gerecht wird:
Verblendte Sterbliche! die, bis zum nahen Grabe,
Geiz, Ehr und Wollust stets an eitlen Hamen hält,
Die ihr der kurzen Zeit genau gezählte Gabe
Mit immer neuer Sorg und leerer Müh vergällt,
Die ihr das stille Glück des Mittelstands verschmähet
Und mehr vom Schicksal heischt als die Natur von euch,
Die ihr zur Notdurft macht, worum nur Torheit flehet:
O glaubts, kein Stern macht froh, kein Schmuck von Perlen reich!
Seht ein verachtet Volk zur Müh und Armut lachen,
Die mäßige Natur allein kann glücklich machen.


Elende! rühmet nur den Rauch in großen Städten,
Wo Bosheit und Verrat im Schmuck der Tugend gehn,
Die Pracht, die euch umringt, schließt euch in güldne Ketten,
Erdrückt den, der sie trägt, und ist nur andern schön.
Noch vor der Sonne reißt die Ehrsucht ihre Knechte
An das verschloßne Tor geehrter Bürger hin,
Und die verlangte Ruh der durchgeseufzten Nächte
Raubt euch der stete Durst nach nichtigem Gewinn.
Der Freundschaft himmlisch Feur kann nie bei euch entbrennen,
Wo Neid und Eigennutz auch Brüder-Herzen trennen.


Dort spielt ein wilder Fürst mit seiner Diener Rümpfen,
Sein Purpur färbet sich mit lauem Bürger-Blut;
Verleumdung, Haß und Spott zahlt Tugenden mit Schimpfen,
Der Gift-geschwollne Neid nagt an des Nachbarn Gut;
Die geile Wollust kürzt die kaum gefühlten Tage,
Weil um ihr Rosen-Bett ein naher Donner blitzt;
Der Geiz bebrütet Gold, zu sein' und andrer Plage,
Das niemand weniger, als wer es hat, besitzt;
Dem Wunsche folgt ein Wunsch, der Kummer zeuget Kummer,
Und euer Leben ist nichts als ein banger Schlummer.


Bei euch, vergnügtes Volk, hat nie in den Gemütern
Der Laster schwarze Brut den ersten Sitz gefaßt,
Euch sättigt die Natur mit ungesuchten Gütern;
Die macht der Wahn nicht schwer, noch der Genuß verhaßt;
Kein innerlicher Feind nagt unter euren Brüsten,
Wo nie die späte Reu mit Blut die Freude zahlt;
Euch überschwemmt kein Strom von wallenden Gelüsten,
Dawider die Vernunft mit eiteln Lehren prahlt.
Nichts ist, das euch erdrückt, nichts ist, das euch erhebet,
Ihr lebet immer gleich und sterbet, wie ihr lebet.


O selig! wer wie ihr mit selbst gezognen Stieren
Den angestorbnen Grund von eignen Äckern pflügt;
Den reine Wolle deckt, beraubte Kränze zieren
Und ungewürzte Speis aus süßer Milch vergnügt;
Der sich bei Zephyrs Hauch und kühlen Wasser-Fällen
In ungesorgtem Schlaf auf weichen Rasen streckt;
Den nie in hoher See das Brausen wilder Wellen,
Noch der Trompeten Schall in bangen Zelten weckt;
Der seinen Zustand liebt und niemals wünscht zu bessern!
Das Glück ist viel zu arm, sein Wohlsein zu vergrößern.

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