Mittwoch, 2. Juli 2014

Hundert notwendige Gedichte X — Li-Tai-Peh (übertragen von Egmont Colerus)

Aus dem 1926 erschienenen Werk »Marco Polo. Roman zweier Welten« des österreichischen Schriftstellers und Mathematikers Egmont Colerus (im Gutenberg-Projekt nachlesbar Teil 1 | Teil 2):
[...] Ein anregendes Gespräch kam in Gang. Marco hatte alles andre vergessen. Ein einziger Gedanke war in den Mittelpunkt seines Sinnens getreten: Er wollte sie prüfen. Wollte ihre Seele hervorlocken. Denn plötzlich hatte es ihn mit Urgewalt erfaßt. Das Bewußtsein, daß er seit der Abreise aus Venedig keinem Weibe begegnet war. Seelisch einsam standen Francesca und Melissa in seiner Erinnerung.
Stets hatte er alle Gedanken an die Frau durch die Wirklichkeit des Weiblichsten, den Sinnenrausch, niedergekämpft. Tausend Weiber sollst du besitzen! Verheißung Satans! Hatte er tausend besessen? Er wußte es nicht.
Die leise Stimme neben ihm formte eben ein Gedicht Li-tai-pes.
Lieblich
Hell erhebt sich
Aus   des   Sees   Mitte
Ein  Haus,  nach  Chinesen–Sitte
Aus  Porz'lan  in  grün  und  weißen  Stücken.
Dorthin   führen   kühngeschwungne   leichte   Brücken.
Gleichend ganz des Tigers braun und gelb geflecktem Rücken.
Lustig    zechende    Genossen,   die    so    bunte    Kleider    tragen,
Trinken  klaren,  lauen  Wein  aus  Tassen  in  des  Herzens  Wohlbehagen,
Plaudern  fröhlich,   schreiben  süße  Verse,   die  erblühten  tief  in  dem  Gemüte,
Stülpen   rückwärts   ihrer   seidnen   Kleider   Ärmel,   und   vom   Haupte   fallen   ihre  Hüte.
Aber in des Wassers leichtbewegten, weiten, wonn'gen, schwanken Spiegelwogen,
Gleichet einem Halbmond nun der Brücke umgekehrter leichter Bogen,
Und man sieht die lustig zechenden Genossen,  all die bunten,
Fröhlich  plaudernd  sitzen  dort, das  Haupt  nach  unten.
Und das Lusthaus selber auf des Felsens Rücken,
Aus Porz'lan in grün und weißen Stücken,
Aufgeführt   nach   Väter—Sitte
In    des    Sees    Mitte
Abwärts senkt sich
Lieblich.
 
Wie wonnig war es, wieder neben einem Wesen zu sitzen, das selbst dachte, selbst unerschöpflich neue Anregung, neue Ausblicke in dämmrige Fernen verklärter Seligkeit hervorzauberte. 
Ihre Worte erläuterten das Gedicht, schmückten es aus, verflochten es mit der Umgebung. Eine Silberspange nannte sie es, die Dichtung und Malerei verbände ...
Es gibt philologisch weitaus »genauere« Übertragungen dieses Gedichtes. Und ohne jeden Zweifel ist auch die von Klabund unternommene Nachdichtung von großer Poesie:

Der Pavillon von Porzellan


In dem künstlich angelegten Teiche
Auf der Insel steht der Pavillon von grün und weißem Porzellan.
 Man gelangt in seine gläsernen Bereiche
Über eines weißen Tigers Rücken, der sich hier als Brücke aufgetan.


Dort sitzen Freunde froh beim Weine. Licht
Ist der Gewänder Farbe, die sich nicht im Staub der Wochentage placken.
Die Freunde plaudern oder schweigen heiter. Einer schreibt ein Gedicht,
Streift die Ärmel zurück und wirft das Haupt in den Nacken.


Sieh: in dem Teich, in dem die Jadebrücke, in den Wellen leise wehend,
Sich wie ein Halbmond wölbt, der Freunde trunknen Wahn!
Die Kleider zitternd! Auf dem Kopfe stehend
In einem Pavillon von Porzellan!
Und dennoch, und dennoch ...






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