2015 war ein »Geibel-Jahr«, wenngleich das einigermaßen unterging: am 17. Oktober 2015 jährte sich der Geburtstag des Dichters zum zweihundertsten Male — und der Chronist hat es übersehen ...
Nun steht Geibel ja heute nicht gerade in Ansehen und Ehren. Auf Wikipedia ärgern die handelsüblichen Seitenhiebe, weil die Nazis aus einem seiner Gedichte (zwar sinnentstellt, wie zugegeben wird, aber trotzdem!) zitiert hatten, und was dergleichen Dummheiten mehr sind. In LePenseurs Meyer-Enzyklopädie (aus 1973) wird unter dem Lemma rügend angemerkt, daß Emanuel Geibel »in seinen Gedichten die Ursprünglichkeit durch deklamator. Pathos ersetzt« habe. Ach, ja ...
Sicherlich: über viele seiner Gedichte ist die Zeit hinweggegangen, manche sind mittlerweile schlicht unlesbar. Aber ein erstaunlich hoher Anteil ist — »deklamator. Pathos« hin oder her — auch heute noch mit Genuß und Belehrung zu lesen! So zu Beispiel eines der schönsten Abendlieder unserer deutschen Sprache:
Gute Nacht
Schon fängt es an zu dämmern,
Der Mond als Hirt erwacht
Und singt den Wolkenlämmern
Ein Lied zur guten Nacht;
Und wie er singt so leise,
Da dringt vom Sternenkreise
Der Schall ins Ohr mir sacht:
Schlafet in Ruh! schlafet in Ruh!
Vorüber der Tag und sein Schall;
Die Liebe Gottes deckt euch zu
Allüberall.
Nun suchen in den Zweigen
Ihr Nest die Vögelein,
Die Halm' und Blumen neigen
Das Haupt im Mondenschein,
Und selbst des Mühlbachs Wellen
Lassen das wilde Schwellen
Und schlummern murmelnd ein.
Schlafet in Ruh! schlafet in Ruh!
Vorüber der Tag und sein Schall;
Die Liebe Gottes deckt euch zu
Allüberall.
Von Tür zu Türe wallet
Der Traum, ein lieber Gast,
Das Harfenspiel verhallet
Im schimmernden Palast.
Im Nachen schläft der Ferge,
Die Hirten auf dem Berge
Halten ums Feuer Rast.
Schlafet in Ruh! schlafet in Ruh!
Vorüber der Tag und sein Schall;
Die Liebe Gottes deckt euch zu
Allüberall.
Und wie nun alle Kerzen
Verlöschen durch die Nacht,
Da schweigen auch die Schmerzen,
Die Sonn' und Tag gebracht;
Lind säuseln die Zypressen,
Ein seliges Vergessen
Durchweht die Lüfte sacht.
Schlafet in Ruh! schlafet in Ruh!
Vorüber der Tag und sein Schall;
Die Liebe Gottes deckt euch zu
Allüberall.
Und wo von heißen Tränen
Ein schmachtend Auge blüht,
Und wo in bangem Sehnen
Ein liebend Herz verglüht,
Der Traum kommt leis und linde
Und singt dem kranken Kinde
Ein tröstend Hoffnungslied.
Schlafet in Ruh! schlafet in Ruh!
Vorüber der Tag und sein Schall;
Die Liebe Gottes deckt euch zu
Allüberall.
Gut' Nacht denn all ihr Müden,
Ihr Lieben nah und fern!
Nun ruh' auch ich in Frieden,
Bis glänzt der Morgenstern.
Die Nachtigall alleine
Singt noch im Mondenscheine
Und lobet Gott den Herrn.
Schlafet in Ruh! schlafet in Ruh!
Vorüber der Tag und sein Schall;
Die Liebe Gottes deckt euch zu
Allüberall.
Das Jahr 2015 ist nun schon abenddunkel geworden. Hoffentlich gönnt es uns in seinen letzten Stunden noch jene friedvolle Ruhe, die Geibels Gedicht atmet.
Gute Nacht ...
Gute Nacht ...
»Hundert notwendige Gedichte« (geordnet nach Autorennamen): Bertolt Brecht – Hans Carossa (1) | (2) – Matthias Claudius – Theodor Däubler – Richard Dehmel – Fritz Diettrich – Annette Droste von Hülshoff – Joseph von Eichendorff – Theodor Fontane – Louis Fürnberg – Andreas Gryphius — Albrecht von Haller – Hermann Hesse – Friedrich Hölderlin – Ricarda Huch – Klabund – Karl Krolow – Li-Tai-Peh (übertragen von Egmont Colerus) – Conrad Ferdinand Meyer (1) | (2) | (3) – Agnes Miegel – Friedrich Nietzsche – Wilhelm Raabe (1) | (2) – Georg Trakl – Anton Wildgans (1) | (2) – Stefan Zweig.
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