Donnerstag, 12. November 2015

Hundert notwendige Gedichte — XXX: Fritz Diettrich

Mancher Leser (und es werden ihrer, leider, nicht allzu viele sein …), der auf diesem Blog die Serie der »Hundert notwendigen Gedichte« verfolgt, mag bisher den Eindruck gewonnen haben, daß hier vor allem eine Blütenlese »stimmungsvoller« Lyrik zusammengetragen wird, eine gewisse Einstimmung auf immer den gleichen (oder wenn schon nicht gleichen, so doch ähnlichen) Ton — oder, weniger schonungsvoll formuliert: Eintönigkeit herrsche vor.

Nun ist es zweifellos so, daß in allen Fragen des Geschmacks jeder Mensch, auch der vielseitigste, zu gewissem Grade bestimmten Reizen den Vorzug gibt. Der Liebhaber Mozarts wird — entsprechende Bildung und Unabhängigkeit des Geistes vorausgesetzt — Wagners Opern seine Achtung, ja Wert- schätzung nicht versagen, doch wird er ihn wie Mozart lieben? Lieben können?

Es sei also nicht bestritten, daß viele der in dieser Serie gesammelten Gedichte einen teils schwer-mütigen, teils gedankenschweren Ton anschlagen — und so ist es hoch an der Zeit, einmal ein »leichtes« Gedicht einzuflechten. Doch auch hier, ach, ist es wohl nur scheinbar »leicht«, was Fritz Diettrich besingt im

Lied eines dicken alten Mannes

Ich bin ein dicker alter Mann
   Und hab die Welt genossen;
Enthaltsamkeit stand mir schlecht an,
Ich aß, wie man nur essen kann,
   Geruhsam, unverdrossen.

Ich trank, wie man nur trinken kann,
   Versteht sich, noble Sorten,
Im Sommer Bowle dann und wann,
Im Winter, wenn die Nacht begann,
   Glühwein und Schnaps im Norden.

Ich rauchte täglich wie ein Schlot
   Teils Pfeife, teils Importen.
Nicht immer war mein Herz im Lot,
Ich seufzte oft: Schockschwerenot!
   Und bin doch siebzig worden!

Gewiß, es grenzt an Völlerei,
   Und doch, ich zelebriere
Nicht anders als die Klerisei
Und heb das Glas und eß für drei
   Und weiß, was ich riskiere.

Verzeih mir, Herr, wenn ich am Tisch
   Des Lebens gern verweilte
Und mir mit Wildbret, Huhn und Fisch
Und mit Salaten, frühlingsfrisch,
   Geheime Wunden heilte.

Ich bin ein dicker alter Man
   Und zahl die ganze Zeche
Zu guter Letzt, so gut ich kann;
Denn mancher Posten steht noch an,
   Von dem ich nicht gern spreche.

Natürlich — man kann’s oberflächlich nehmen, und das Porträt eines alten Dickwanstes für fein- humoristisch gezeichnet ansehen und sich daran ergötzen. Nein: man könnte es vielleicht — ohne die letzte Strophe: die Kata-strophe, sozusagen, die sich schon im letzten Vers der vorletzten ankündigt. Denn was in dem Gedicht als launige Beschreibung von Gourmandise erscheint, ist ebenso auf andere Interessen und Vorlieben umlegbar — und die Tragödie des Menschen (um es pathetisch zu formulieren), und zwar aller Menschen, liegt (fast) immer darin, daß neben den als persönliche Schwäche erkannten, einseitigen Vorlieben »noch mancher Posten« ansteht, von dem nicht gern gesprochen wird, die jedoch im unweigerlichen Zahlen der Zeche »zu guter Letzt« abgerechnet werden müssen …





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