Montag, 13. April 2015

Hundert notwendige Gedichte XXV — Nietzsche

Vor etwas mehr als zwei Wochen kündigte ich ein weiteres »notwendiges Gedicht«, und zwar wieder über die Lebensmitte an. Eh voilà — hier ist's:
Aus hohen Bergen
Nachgesang *) 

O Lebens Mittag! Feierliche Zeit!
    O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten; –
Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit,
Wo bleibt ihr, Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!

Wars nicht für euch, daß sich des Gletschers Grau
    Heut schmückt mit Rosen?
Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen
Sich Wind und Wolke höher heut ins Blau,
Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau.

Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt –
     Wer wohnt den Sternen
So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen?
Mein Reich – welch Reich hat weiter sich gereckt?
Und meinen Honig – wer hat ihn geschmeckt?...

Da seid ihr, Freunde! – Weh, doch ich bins nicht,
     Zu dem ihr wolltet?
Ihr zögert, staunt – ach, daß ihr lieber grolltet!
Ich – bin's nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?
Und was ich bin, euch Freunden – bin ich's nicht?

Ein andrer ward ich? Und mir selber fremd?
     Mir selbst entsprungen?
Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen?
Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,
Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?

Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
     Ich lernte wohnen,
Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?
Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?

Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,
     Voll Lieb und Grausen!
Nein, geht! Zürnt nicht! Hier – könntet ihr nicht hausen:
Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich –
Hier muß man Jäger sein und gemsengleich.

Ein schlimmer Jäger ward ich! – seht, wie steil
     Gespannt mein Bogen!
Der Stärkste wars, der solchen Zug gezogen —:
Doch wehe nun! Gefährlich ist der Pfeil,
Wie kein Pfeil, – fort von hier! Zu eurem Heil!...

Ihr wendet euch? – O Herz, du trugst genung,
     Stark blieb dein Hoffen:
Halt neuen Freunden deine Türen offen!
Die alten laß! Laß die Erinnerung!
Warst einst du jung, jetzt – bist du besser jung!

Was je uns knüpfte, einer Hoffnung Band –
     Wer liest die Zeichen,
Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?
Dem Pergament vergleich ichs, das die Hand
Zu fassen scheut – ihm gleich verbräunt, verbrannt.

Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn ich's doch? –
     Nur Freunds-Gespenster!
Das klopft mir wohl noch nachts an Herz und Fenster,
Das sieht mich an und spricht: »wir waren's doch?«
– O welkes Wort, das einst wie Rosen roch!

O Jugend-Sehnen, das sich mißverstand!
     Die ich ersehnte,
Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte,
Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt:
Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.

O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!
    O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit,
Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!

Dies Lied ist aus – der Sehnsucht süßer Schrei
     Erstarb im Munde:
Ein Zaubrer tats, der Freund zur rechten Stunde,
Der Mittags-Freund – nein! fragt nicht, wer es sei –
Um Mittag wars, da wurde Eins zu Zwei...

Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiß,
     Das Fest der Feste:
Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!
Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riß,
Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis...

Wie alle Gedichte dieses — für den Außenstehenden wohl oft, allzu oft, hélàs, wenig besagenden — Zyklus', ist auch dieses Gedicht aus meiner Biographie nicht fortzudenken. Ich zitierte es erstmals im Rahmen des Deutsch-Unterrrichts, in dem unser Professor auf den gloriosen Gedanken verfiel, seine designierten Matura-Kandidaten kurze Vorträge halten zu lassen. Meiner beschäftigte sich mit der Dichtung des Fin-de-Siècle, des Symbolismus' und des Früh-Expressionismus', und begann (wenig verwunderlich für einen Nietzscheaner, der ich damals war!) mit genau diesem Gedicht. Ich hatte zwar noch nicht einmal die Hälfte des Lebens, gemessen am eher kurzen Leben Nietzsches, erreicht, geschweige denn eine statistische Lebenshälfte (die man bei Burschen meines damaligen Alters in die Enddreißiger datierte) — und doch konnte ich mich in dieses Gedicht einfühlen, es mir ganz zu eigen machen, und ich erinnere mich, daß eine jähe Bewegung durch unsere Klasse ging, als ich mit unbeabsichtigt brechender Stimme
Dies Lied ist aus – der Sehnsucht süßer Schrei
     Erstarb im Munde
... rezitierte (von einem Gedicht bewegt
zu sein, war für die Schüler einer reinen Knabenklasse, wie es sie damals — noch — gab, fürwahr keine Selbstverständlichkeit!). Ach, Nietzsches Lied war nur zu bald nach diesem Gedicht aus, und der letzte Schrei — wohl nicht von Sehnsucht süß, sondern von Erkenntnis bitter — erstarb in seinem Mund, als er einen brutalen Kutscher hindern wollte, einen alten Droschkengaul, der nicht mehr weiter konnte, zu prügeln. Danach war er in anstaltlicher, später häuslicher Pflege im Dämmer seines Wahns, den man wohl schon in den Augen der obigen, übrigens genial getroffenen Porträtzeichnung aus der Entstehungszeit des Gedichtes glänzen sieht.

Und mittlerweile sinnt LePenseur bisweilen, und rezitiert in Gedanken, schon einiges über die Hälfte des Lebens hinaus:
O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!
    O Sommergarten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
... und kann es nicht fassen, daß diese
»zweite Jugendzeit« an ihm auch schon längst vorübergegangen ist. Und ihm — früher oder später, wer weiß es ... — der »grause Vorhang« reißen wird, von dem er nur hoffen, nicht wissen kann, ob darin die »Hochzeit von Licht und Finsternis« kommen wird ...



*) Dieses Gedicht steht am Ende seines Werkes »Jenseits von Gut und Böse« (hier dessen Vorrede)





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