Mittwoch, 5. Oktober 2022

Der drôle de guerre wird bald zu Ende gehen — was folgt?

Gastkommentar
von Revoluzzer
 
 
Feldzüge zeichnen sich durch die Konzentration aller Feuerkraft in der Zeit und im Raum auf ein Ziel aus: Den Gegner niederzuwerfen. In der Ukraine haben wir das die ersten Tage im Februar gesehen. Nur in diesen ersten Tagen trat die tatsächliche Leistungsfähigkeit der russischen Armee hervor.

Seither herrscht dort ein drôle de guerre, der mich an die Situation zwischen Okt. 1939 und Mai 1940 erinnert – nach dem Polen- und vor dem Frankreichfeldzug.

Die taktischen Spielereien der Ukraine/NATO und Russlands seitdem sind nur Geplänkel. Es ist für mich völlig klar, dass, um mich an die Worte Putins anzulehnen, die Russen nach den ersten Tagen nicht mehr Krieg führen, sondern nur eine »spezielle Operation«. Auch hier die Parallele zur Wehr-macht/den Westallierten im Winter und Frühjahr 39/40. Man kämpft, aber führt keinen Feldzug – NATO/Ukraine weil sie vermutlich im relevanten Raum nicht mehr Feuerkraft aufbieten können, Russ-land weil es den eigenen strategischen Vorgaben nicht entspricht.

Diese Zeit geht jetzt zu Ende. Russland hat jetzt, was es vorher nicht hatte, juristisch sowohl durch die Eingliederung der früheren Ukraine-Provinzen als auch durch den US-Angriff auf NordStream vollwertige Kriegsgründe. Die »spezielle Militäroperation« kann nun legitim in einen förmlichen Krieg übergehen. Logistisch, moralisch und materialseitig sehen wir eine Teil- in einigen Aspekten sogar eine Generalmobilmachung in Russland. Diese kann jederzeit in eine volle Generalmobilmachung über-gehen. China, Indien und viele andere Staaten helfen Russland bzw. verweigern dem Westen die Gefolgschaft.

Juristisch, sachlich und außenpolitisch ist das Feld damit bereitet (auch hier wieder interessant an die Parallelen zu 1940/41 zu denken).

Zugleich zeigt der Angriff der USA auf NordStream, dass es keine Friedenslösung geben wird – nicht jetzt und nicht in absehbarer Zeit – allenfalls nach der Niederwerfung der Ukraine wird es dafür ein kurzes Zeitfenster geben, aber auch dieses wird wohl nicht genutzt werden.

Innerhalb von ein bis fünf Monaten wird Russland einen Feldzug durchführen. Dessen Mindestziel wird die Niederwerfung der Ukraine sein. Dieser Feldzug wird die tatsächliche Leistungsfähigkeit der russischen Armee zeigen. Ich erwarte, dass in einer/wenigen Wochen in der Ukraine alles entschieden ist. Der bisherige drôle de guerre ist kein Maßstab.

Das Problem – unser Problem – ist, dass damit der Krieg nicht zu Ende ist. Russland und die USA stehen im Krieg. Genauso wenig wie Großbritannien 1940 werden die USA keinen Frieden schließen. Der Unterschied liegt gleichwohl darin, dass erstens die USA keine zweite USA im Rücken haben wie damals GB und Putin kein verblendeter Spinner wie Hitler ist. Eher ist Russland in der Rolle von damals GB, auch im Sinne des besseren moralischen Standpunktes, mit China im Rücken – das womöglich (Geschichte, die sich reimt) wie die USA 1945 als eigentlicher Gewinner aus dem Krieg hervorgehen wird.

Militärisch müsste ein mobilisiertes Russland – auch hier im übrigen die Parallele zu 1940 und dem »Fehler« Hitlers, aus Sentimentalität die Engländer aus Dünkirchen abziehen zu lassen und keine Invasion der britischen Inseln zu versuchen – schnellstens bis nach Brüssel (Paris?) durchziehen und damit die NATO in Europa niederwerfen: Der Krieg wäre entschieden. Die strategische Abschreckung wird eine weitere Eskalation vermeiden. In Europa würden »nur« taktische Atomwaffen zum Einsatz kommen.

Strategisch wäre das nur dann nicht richtig, wenn Russland durch einen Sitzkrieg an der Grenze von Polen zur heutigen Ukraine durch größere Ressourcenstabilität gewinnen kann – sprich, dass die NATO innerlich vor Russland zusammenbricht. Das ist möglich, aber die Erfolgsaussichten aus russischer Sicht erscheinen unsicherer, als wenn man das Momentum ausnutzt und direkt bis Brüssel durchzieht. Auch dürften die Kosten und Verluste eines langen Krieges vermutlich höher sein.

Was könnte diese Entwicklung verhindern?

Ein Kompromiss, Frieden, wohl leider nicht. Die Hemmung vor dem Einsatz von Atomwaffen? Viel-leicht, aber es ist bemerkenswert, wie von beiden Seiten diese Hemmschwelle in den letzten Monaten heruntergeredet und durch die Kündigung von Rüstungskontrollabkommen seit Jahren juristisch erleichtert wurde. Beide Seiten scheinen den Einsatz von taktischen Atomwaffen ermöglichen zu wollen – und sei es nur als Handlungsoption.

Eine Chance für Deutschland sehe ich nur darin, dass der Krieg zwischen USA und Russland zeitnah eine andere Arena findet, die dann die Mittel bindet (Syrien, Iran, Israel, Taiwan...). Wobei es scheint, dass der Aufmarsch Russlands bzgl. Ukraine (Westeuropa?) bereits angelaufen ist. Auch ist nicht klar, dass ein Krieg um, sagen wir z.B. Israel, tatsächlich zu einer wesentlichen Truppenverlegung führt.

Jeder moderne Krieg ist auch ein Wirtschaftskrieg. Aber: dieser Krieg ist bereits kinetisch geworden. Das heißt, die Wirtschaftsleistung ist primär relevant in der Quantität und Qualität der Waffenpro-duktion. Und eben das ist einer der Gründe, weshalb es für Russland sicherer ist, sich nicht auf einen Sitz- oder kalten Krieg einzulassen. Da könnte der Westen aufholen und doch noch gewinnen. Russland würde in diesem Fall wohl zum Juniorpartner der Chinesen werden müssen, oder sonst ein höheres Risiko als im anderen Fall eingehen, doch noch zu verlieren.

Russland kann auch nicht eine fanatisierte Restukraine an seiner Grenze zulassen. Weiter hat eben Putin das Kriegsziel Russlands im Dezember/Februar klar benannt – und ich stimme zu, dass nur durch die Umsetzung dieses Ziels die Sicherheit Russlands gewährleistet wird: Die NATO muss auf den Stand von 1997 (?) zurück. Die (gesamte) Ukraine muss »denazifiziert« werden.

Kluge westliche Politik würde dieses Ergebnis vorwegnehmen und versuchen, das Beste herauszuholen. Aber der Zug ist lange abgefahren. Daher muss die NATO niedergeworfen werden. Übrigens ist das für mich, analog wieder zu Hitler-Deutschland/WKII, auch im Sinne der Menschheitsgeschichte und im Weltinteresse das notwendige, richtige Ergebnis.

Bedenken wir, dass wir seit Jahrzehnten keinen wirklichen Krieg zwischen modernen, etwa gleich-starken Gegnern hatten. Der am nächsten kommende Fall, der mir einfällt, war der Iran-Irak-Krieg. Das Gerede vom Wirtschafts-, hybriden-, low intensity-, Terror- usw. -krieg trifft nur auf Situationen zu, in denen entweder eine Seite dramatisch überlegen ist und daher die andere Seite »anders« kämpfen muss, oder sie im Sinne der Abschreckung in getrennten Sozialsysteme leben (USA-UdSSR).

Aus meiner Sicht gilt das alles nicht. Das muss jetzt ausgekämpft werden. Und gerade die letzte Rede Putins hat mich eben zu dem Text bewegt. Das war eine Rede zur moralischen Generalmobilmachung Russlands.

Nun lese ich bei den Nachdenkseiten »Das Ende der Diplomatie« mit Aussagen von Lawrow auf der UN-Vollversammlung. Der Westen will die letztlich bedingungslose Niederwerfung (und Zerschla-gung?) Russlands. Russland ist bereit zum Krieg, letztlich mit allen Waffen.

Aber wie heißt es so schön: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. In diesem Sinne hoffe ich sehr, dass es anders und besser kommt.

 

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Dem Geschriebenem kann ich weitgehend beipflichten, weil beide Parteien (die eine ist Russland, die andere der "Westen" unter Führung der USA) eine Niederlage unter allen Umständen vermeiden wollen. Eine Rest-Ukraine wird daher mit Unterstützung des Westens niemals zum Frieden zu bewegen sein, bis sie verschwunden ist und selbst dann wird es kein Ende geben. Aber nicht weil Russland es so will. Egal, wie auch immer die Angelegenheit weitergeht, der Verlierer werden in jedem Fall die Europäische Union und somit wir sein, weil wir in abgehobener Vollverblödung nicht mehr zu sachlicher Beurteilung der Lage imstande sind und die Rolle als Vasall der USA unter Inkaufnahme erheblicher Schäden nur zu gerne einnehmen.

Kreuzweis hat gesagt…

Noch nicht lange her gab es wirklich kritische Formate im ÖR:

www.youtube.com/watch?v=zSubuPm_TpE

Heute ist die Gleichschaltung fast vollendet ...

Sandokan hat gesagt…

Wie man aktuell in den USA sieht, kann man sich auch Kriegsverbrecher schön lügen.
Wie George Bush, Madeleine Albright oder Condolezza Rice.

https://www.youtube.com/watch?v=pui_rcuNbkU

Anonym hat gesagt…

Diese „Analyse“ ist sowas von irr und wirr, dass sie gut erklärt, warum die Rechten sich längst in eine Bubble eingerichtet haben, die mit der richtigen Welt nichts mehr zu tun hat. Und warum das nix wird mit der erträumten „nationalen Erhebung“ durch AfDFPÖ…

Franz Lechner hat gesagt…

anonym, 0:11, Sie verstehen offensichtlich unter der "richtigen Welt" genau das, was Ihnen Ihre Mainstream-Medien rund um die Uhr eintrichtern. Da tut man sich halt dann mit der Orientierung außerhalb dieser - wie Sie sagten : BBB-bubble ziemlich schwer.