Donnerstag, 6. Januar 2022

Es ist schon Jahrzehnte her

von LePenseur
 
 
... daß mir der damals schon ehrwürdige, alte Prof. Georg Arányi-Aschner, österreichischer Komponist (hörbar) ungarischer Herkunft enthusiastisch von seiner neuesten Musik-Entdeckung vorschwärmte: »Dänkän Sie on ainen Chopin hoch Rachmaninoff — donn hoben Sie dos Klovierkonzärt von Skriabin! Großortig!«

Und in der Tat: dieses frühe Meisterwerk des damaligen Mittzwanzigers Alexander Skriabin ist damit perfekt charakterisiert, und sei darum an den Beginn dieses kleinen Gedenkartikels gestellt — in der wohl besten Interpretation (zumindest von denen, die ich kenne): das London Philharmonic unter Lorin Maazel, mit Vladimir Ashkenazy am Flügel. Lean back and enjoy ...


Man weiß gar nicht, welchen Satz man am meisten bewundern soll — den versonnen-dramatischen ersten, die genialen Variationen des zweiten, oder das Finale, das über ein rebellisches Haupt- und ein sehnsuchtsvolles Seitenthema bis hin zu einem virtuosen, triumphal-ekstatischen Schluß den Hörer mit immer neuer Steigerung (und Verweilen!) überrascht und fesselt. Leider wird dieses technisch anspruchsvolle Werk nur von wenigen Pianisten »beherrscht« und erklingt daher nur viel zu selten in den Konzertsälen. Vielleicht auch deshalb, weil das Werk doch noch ganz »anders« klingt, als jener Skriabin, welchen man aus den alle Grenzen der Tonalität auslotenden Klavieretüden und -sonaten zu kennen glaubt.

Nur wenige Jahre nach dem Klavierkonzert op. 20 ist in seiner Symphonie No. 1 in E-dur, op. 26 (1900) bereits der »spätere« Skriabin zu erahnen:


Ein monumentaler Erstling, in sechs Sätzen, mit zwei Gesangssolisten und einem Chor zum großen, spätromantischen Orchester. Es ist ein Werk voll jugendlichem Schwung und Elan, meisterhaft in der Instrumentation ebenso wie in der abwechslungsreich verwobenen, zwischen Spätromantik und einigen schon impressionistischen Anklängen changierenden Thematik. Daß das Werk mit einem Gesangs-Finale endet, das in einer gewaltigen Chor-Fuge gipfelt, vereitelte die vollständige Urauf-führung des Werkes (der 6. Satz wurde vom Dirigenten einfach weggelassen), und wie Wikipedia schreibt:
Anstoß erregte vor allem das zuweilen als plakativ-akademisch empfundene Chorfinale, was manche Dirigenten späterer Aufführungen dazu bewog, den 6. Satz wegzulassen.
Nun, die geneigten Leser (und Hörer) können selbst urteilen, ob das Finale zu »plakativ-akademisch« ist, um eine Aufführung zu verdienen ...

Ein weiteres Tor zum »späteren« Skriabin öffnet die Symphonie No. 2 in c-moll, op. 29 (1901), hier in einer makellosen Interpretation durch Eugen Svetlanov:


Der übersichtlich gestaltete Wikipedia-Artikel gibt eine gute Einführung in dieses Werk, welches in gewissem Sinne die letzte »traditionelle« Symphonie Skriabins ist — denn schon mit seiner folgenden Symphonie No. 3 in c-moll, op. 43 (1902-04), die den Titel »Le divin poème« trägt, ändert sich Stil und Struktur des symphonischen Schaffens beträchtlich:


Unüberhörbar ist die Tendenz, die Mehrsätzigkeit der Symphonie zur Einheit zu verschmelzen — die beiden folgenden Werke, die man (auch) als 4. und 5. Symphonie bezeichnen kann, führen diesen Weg konsequent weiter. Die Orchesterbesetzung der 3. Symphonie ist gegenüber jener der beiden Vorgänger gewaltig gesteigert und erreicht etwa die Ausmaße mancher Symphonien von Gustav Mahler oder der späten Symphonischen Dichtungen von Richard Strauss. Auch die Ausweitung der Tonalität, die sich bis dahin einigermaßen im Gefolge der Tristan-Chromatik Richard Wagners bewegte, entwickelt sich zu jenen Akkordschichtungen, wie sie später als sogenannter »mystischer Akkord« gewissermaßen zu einem »Markenzeichen« der Tonsprache Scriabins wurde.

Alexander Skriabin 1905

Seine Symphonie No. 4, zumeist unter ihrem Titel »Le Poème de l'Extase« bekannt, op. 54 (1905-08), machte Skriabin mit einem Schlag in der gesamten Musikwelt bekannt: nun war er nicht nur ein etwas exzentrischer, junger, russischer Komponist, sondern wurde als einer der führenden Avantgardisten in der Musikszene wahrgenommen:


Die glasklare Interpretation des Chicago Symphony Orchestra unter Pierre Boulez mag zwar ein wenig »zu wenig ekstatisch« wirken, begünstigt jedoch in ihrer Durchsichtigkeit die Hörbarkeit der Details, ohne die das Werk leicht in einem konturlosen Klangrausch unterzugehen droht. Wie extrem manche Reaktionen der Zuhörer sein konnten, belegt Wikipedia mit Zitaten, z.B.:
Henry Miller schrieb in seinem autobiographischen Roman „Nexus“ unter dem Eindruck des Werks: »Es war wie ein Eisbad, Kokain und Regenbogen.«
Und Prokofjew schrieb über die russische Uraufführung:
Mjaskowski und ich hatten Sitzplätze nebeneinander und verschlangen das „Poème de l’extase“ mit größtem Interesse, obwohl wir an manchen Stellen von der Neuheit der Musik geradezu verwirrt waren.
Jedenfalls bewahrheitet hat sich die zeitgenössische Einschätzung:
1924 schrieb der deutsche Musikwissenschaftler Adolf Aber in einem Partiturvorwort: Mit diesem Werk reiht sich Skrjabin den ganz großen Sinfonikern, die unsere Musik-geschichte kennt, würdig an.
Sein letztes symphonisches Werk (sozusagen die Symphonie No. 5 –  obwohl sie nie so genannt wurde) ist »Prométhée. Le Poème du feu«, op. 60 (1909-10), das zum ähnlich gewaltigen Orchesterapparat wie die beiden Vorgängerwerke noch Klavier, Orgel, einen Chor und ein »Farbklavier« treten läßt. Vorallem letzteres ist bei den (nicht allzu häufigen) Aufführungen meist nicht verfügbar, doch kann die (freilich etwas biedere) Interpretation von Markus Stenz (das hr-Symphonieorchester und der Pianist verdienen allerdings jeden Applaus!) durch notentexttreue Lichtregie einen Eindruck dessen geben, was Skriabin als Gesamtkonstwerk von Musik und Farbe vorgeschwebt hatte, und was 1911 natürlich mit Abstrichen nur realisiert werden konnte, doch nun dank LED-Technik ohne große Probleme möglich ist:
 

Neben den fünf Symphonien schrieb Skriabin nahezu ausschließlich für »sein« Instrument, das Klavier (wenn man von einem frühen Werk, der kurzen »Rêverie« für Orchester, op. 24, absieht): 10 Sonaten (plus zwei Frühwerke ohne Opuszahl), 24 Etüden, 24 Préludes op. 11 etc.

Heute vor 150 Jahren, am 6. Jänner 1872 also, wurde Alexander Skriabin in Moskau geboren, und dort ist er auch, viel zu früh, am 27. April 1915, nur wenige Tage nach der New Yorker Premiere seines »Prometheus«, an einer Blutvergiftung verstorben.

1 Kommentar:

gerd hat gesagt…

Werter Penseur,
auf diesem Wege mal ein Dankeschön für die immer wieder auftauchenden Kurzbiographien der musikalischen Genies ausserhalb von Bach und Beethoven auf diesem Blog. Was so mancher Künstler in seinem oft kurzen Leben an kostbaren Perlen geschaffen hat, macht demütig.