Samstag, 8. August 2020

Einer der bedeutendsten Symphoniker seines Landes


... und wie man durchaus hinzusetzen darf: der gesamten Musikgeschichte starb heute vor siebzig Jahren, am 8. August 1950:

Nikolai Mjaskowski

 

»Nikolai Mjas ... who?!« Nie gehört! Stimmt leider, denn seine Symphonien, von denen er immerhin 27 komponiert hat (eine in der Musikgeschichte nach Mozart schon rein zahlenmäßig ziemlich herausragende Leistung!), werden bei uns so gut wie nie aufgeführt. Wären da nicht die CD-Produktionsfirmen mit ihrem fürwahr unersättlichen »Content-Hunger«, der sie immer neue Kostbarkeiten (und leider auch viel zweitklassigen Mist!) aus den Archiven ausgraben und v.a. mit »billigen« (aber trotzdem guten) Provinzorchestern des früheren Ostblocks aufnehmen läßt, und das ebenso unerschöpfliche Klangarchiv, das Youtube uns (auch — neben allzuvielem Schrott!) einen Mausklick weit entfernt anbietet — Mjaskowski wäre heutzutage wohl »töter als tot« ...

Und das wäre in der Tat sehr bedauerlich — denn nur wenige Symphoniker haben in einer so großen Zahl von Werken so konstant einen beeindruckenden Level an kompositorischer Technik und (!) Inspiration vorzulegen gewußt, wie eben dieser Nikolai Jakowlewitsch Mjaskowski.

Doch dieser Mann verdient nicht nur wegen dieser bemerkenswert konstanten »Qualitätsleistung« auf kompositorischem Gebiet Beachtung, sondern auch wegen der — trotz seines Lebens unter einem der wohl grausamsten Verbrecherregimes aller Zeiten, dem Sowjetkommunismus, speziell in seiner Ära des Stalinismus — unerschütterlichen Standhaftigkeit, mit der er die Angriffe eines mediokren Polit-Apparatschiks wie Schdanow ignorierte, welcher im Jahr 1948 einen Rachefeldzug gegen die ihm unliebsamen Komponisten der UdSSR (und das waren praktisch alle bedeutenden — von Sergei Prokofjew über Dmitri Schostakowitsch bis zu Aram Khatschaturjan) anzettelte und diese, von ihm als »Formalisten« und »Speichellecker der bourgeoisen Musikszene« diffamiert, zu Selbstkritik und Unterwerfung unter sein Musik-Herostratentum in öffentlichen Tribunalen verdonnerte. Classical.net schreibt über diese Machenschaften:
Although highly respected by the Soviet musical community, Myaskovsky was named in the infamous 1948 attacks on "formalism" and "bourgeois decadence" by the Central Committee of the Soviet Communist Party. Myaskovsky had been largely "conformist" in writing music that satisfied government policy while eschewing propaganda and keeping his unique voice; but no prolific composer was spared from the denunciations and Myaskovsky joined Shostakovich, Prokofieff (who had returned to the U.S.S.R.), and Aram Khachaturian (his former student) as cultural advisor Andrei Zhdanov's main targets. The dignified Myaskovsky refused to take part in hearings or "repent" his sins, imposing a death sentence on his compositional career.
(Hier weiterlesen)
Schostakowitsch und die anderen hatten sich, gedemütigt, unterworfen und waren gehorsam zu Kreuze (oder, bessergesagt: zum Sowjetstern) gekrochen. Mjaskowski hingegen ging ins innere Exil und vollendete seine letzten Symphonien: Meisterwerke besonderer, ungebrochener Reife ...

Der Artikel ist überhaupt eine sehr sachkundige Einführung in Leben und Werk Mjaskowskis — weit besser geeignet, eine Ahnung von Größe und Bedeutung dieses Komponisten zu vermitteln, als der etwas belanglos wirkende deutsche Wikipedia-Artikel.

Die Fülle allein an symphonischen Werken macht eine bescheidene Auswahl nötig, soll dieser Artikel nicht alle Dimensionen sprengen — doch sind alle Symphonien (und auch viele weitere, ebenso wertvolle Werke des Komponisten) auf Youtube, teilweise in mehreren Interpretationen, zu finden.

Ein Dirigent freilich verdient hier besondere Beachtung: Jewgeni Swetlanow, unter dessen Leitung das Staatliche Akademische Sinfonieorchester Russlands alle 27 Symphonien Nikolai Mjaskowskis einspielte (1965-1994) — wobei Swetlanow in den turbulenten Jahren nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems teilweise die Orchestermusiker aus eigener Tasche (d.h. von Dirigentenhonoraren im westlichen Ausland) bezahlte, um dieses sonst wohl unfinanzierbar gewordene Großprojekt zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Eine bemerkenswerte Tat, die in der Geschichte der Musik wohl kein anderes Beispiel kennt ...

Doch lassen wir den jungen Mjaskowski mit seinem Erstlingswerk, der Symphonie in c-moll, op. 3, nun zu Wort kommen. Ein früher, genialer Wurf, aus dem man, quasi »ex ungue leonem«, den geborenen Symphoniker erkennt, der keinen Vergleich mit Zeitgenossen jener Jahre, wie z.B. Rachmaninow, zu scheuen braucht:


Die 2. Symphonie, in cis-moll, op. 11, in den Jahren 1910/11 geschrieben, war für damalige Ohren sicherlich avangardistisch, vergleichbar mit den dissonanten Klangexperimenten eines Skiabin, nur etwas »gemildert« durch einen gelegentlichen melancholischen Lyrismus:


Während die beiden folgenden Symphonien in eigenständiger Weise das »Grundthema« des frühen Mjaskowski, eine melancholisch-dramatischen »Tragödie des Menschen«, fortsetzen, schlägt die 5. Symphonie in D-dur, op. 18 (1918) frische, burleske Töne an, die man aufgrund der Vorgängerwerke nicht vermutet hätte:


Mit Mjaskowskis 6. Symphonie in es-moll, op. 23, der »Revolutions-Symphonie«, tritt sein Schaffen in eine neue Periode. Weit davon entfernt, die glatte, banale Apotheose des blutigen Umsturzes durch die Bolschewiken abzuliefern, atmet das ganze Werk doch einen revolutionären Elan, der sicherlich den KP-Funktionären gut zu ihren »futuristischen« Konzepten auf anderen Gebieten der Kunst paßte, jedoch nie in jenen unerträglichen Agitprop-Stil ausartet, der damals in der »revolutionären« Kunst-Szene weit verbreitet war:


Ein gutes Beispiel für Mjaskovskis Einbeziehung der zahlreichen ethnischen Wurzeln, aus denen sich die russische Kultur und Musik speist, gibt seine 8. Symphonie in A-dur, 1924/25 komponiert. Die Weisen der Kosaken und Baschkiren, vermengt mit persischen und anderen orientalischen Klängen, geben der Musik ein exotisches Flair:


Mit der Ausbootung, Vertreibung und Ermordung seiner Konkurrenten hatte Stalin mittlerweile eine kaum angefochtene Position als Generalsekretär der KPdSU erreicht, und die von ihm propagierten Grundsätze des »sozialistischen Realismus«, die in Literatur und bildender Kunst bereits erkennbare Spuren zogen, sollten nach Stalins Willen auch die Musik prägen. Was sich Mjaskowski bei der Komposition seiner 12. Symphonie in g-moll, 1931/32, der sogen. »Kolchosen-Symphonie«, dem 15. Jahrestag der Oktoberrevolution gewidmet, dachte, ist nicht überliefert. Aber auch hier versteht er aus einer banal-propagandistischen Vorgabe ein charakteristisches Werk voller Schwung und Kraft zu schaffen, mit still-versonnenen Passagen, die sich mit kunstvoll fugierten abwechseln:


Mitten in der Verschärfung des stalinistischen Terrors während der 1930er-Jahre, der Zeit der großen, blutigen »Säuberungen«, entsteht eine der bedeutendsten Symphonien Mjaskowskis: die 17. in gis-moll, op. 41 — ein Werk von Klangschönheit und tiefer Empfindung, als wollte der Komponist zur grausigen Realität dieser Tage einen bewußten Kontrast schaffen:


In gewissem Sinne war Mjaskowski mit dieser Symphonie zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt, nur reifer, vollendeter, in seiner Stilistik unverwechselbar und doch immer wieder überraschend neu. Und von diesem wiedergewonnenen Ausgangspunkt gehen auch die folgenden Symphonien immer eigene Wege, und nur Zeit- und Platzmangel verhindern ihre Erwähnung im einzelnen.

Für mich zählen Mjaskowskis Symphonien 25-27 zu den eindrucksvollsten: der Altmeister schöpft mit voller Kraft aus seinen ureigensten Quellen, kaum beeindruckt von den Kriegsereignissen und der allgegenwärtigen Tyrannei Stalins. Eine ergreifend schöne und ausgewogene Interpretation bringt uns Jewgeni Swetlanow mit seiner Aufnahme aus dem Jahr 1990. Wenn nach der knapp eine Minute dauernden Einleitung durch die Holzbläser die Streicher mit einem ruhig atmenden Thema einsetzen, dann sich steigern und wieder beruhigen ... große Musik, zu der mir spontan die Charakterisierung »Rachmaninow — nur eben ohne Parfümierung« in den Sinn kam:


Die Symphonie Nr. 26, in C-dur »Über russische Themen«, komponiert 1948 (also dem Jahr seiner Maßregelung durch Schdanow) setzt diesen Weg fort:


Auch in der 27. Symphonie, c-moll, bewährt sich ein letztes Mal die Meisterschaft des Komponisten: trotz Krankheit und Alter ist seine Inspiration und »handwerkliche« Meisterschaft ungebrochen. Nach einer kurzen, langsamer Einleitung entwickelt sich der erste Satz, Allegro molto agitato, in mitreißender Dynamik, immer wieder durch zurückhaltendere Passagen kontrastiert:


Der 2. Satz und das Finale halten diese Spannung. Der Grund, weshalb ich diese Symphonie als einzige in einzelne Sätze zerteilt bringen muß: die ganze Symphonie in der Swetlanow-Interpretation gibt es zwar auch in einem einzigen File, das nur leider knapp vor dem Schluß abgeschnitten wurde.

Nächstes Jahr, wenn sich der Geburtstag Mjaskowskis zum 140. Male jährt, will ich auch sein Oeuvre auf dem Gebiet der Kammermusik vorstellen. Welche Ankündigung freilich niemanden, der durch diesen kleinen Gedenkartikel zum Mjaskowski-Fan geworden ist, dran hindern soll, auf eigene Faust auf Erkundungsreise zu gehen. Denn ohne Zweifel: er wird reich belohnt.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Danke für die tolle Vorstellung des Komponisten! Ich höre mich gerade durch ...

Anonym hat gesagt…

Werter le penseur,
Ich höre mir gerade das 1.Stück an....entspricht genau meiner Gemütsverfassung. Jetzt fehlt nur noch Theodor Fontanes Effi Briest oder Anna Karenina , dann würde ich mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und die ganze Nacht durchheulen . Ein wunderschönes, trauriges Stück "schluchz"

mlg Alexandra