von Fragolin
Um unsere Kleinen gleich auf den zarten Unterschied zwischen schnödem
Faulenzen am Strand und der erbauenden Beschäftigung mit Historie
und Kultur aufmerksam zu machen, unterbrachen wir ihre täglichen
Bestrebungen, eine Art Klein-Venedig zwischen den Liegen und
Sonnenschirmen zu fluten, um ihnen das großartige echte Venedig zu
zeigen. Sie sollten den Glanz und die Glorie des Alten Kontinentes,
das Herz der Entdeckung der Welt, die Heimat großer Weltbezwinger
wie Marco Polo, kennenlernen.
Und sie lernten es kennen.
Schwitzende Menschenmassen multikultureller Prägung schoben sich
durch eine glutheiße Stadt, die man wohlmeinend als Müllhalde mit
offenem Abwassersystem einstufen könnte. Schon während meines
ersten Besuches dort vor immerhin mehr als einem Vierteljahrhundert,
war Venedig ein verfallendes, faulig müffelndes Drecksloch mit ein
paar ausgespachtelten und frisch geschminkten Fassaden und wurde von
mir schon damals als Markenzeichen des niedergehenden Europa
bezeichnet: tolles Marketing, eine aufgebügelte Fassade aus
vergangener Größe, ein Überrest einstiger Leistungen, der heute
nur noch einen faulenden Sumpf versteckt.
Am Markusplatz, der sich irgendwo unter tausenden Füßen versteckte,
dann noch ein Lehrbeispiel für unsere Kleinen, was einerseits den
Unterschied der Kulturen ausmacht und wie man andererseits schaffen
kann, sich durchzusetzen:
Ein Gutmeinender einer örtlichen Organisation, irgendwas mit
„Respect Venice“ oder so, die wohl dafür sorgen wollen, dass die
letzten paar für Touristen überhaupt sehenswerten
Sehenswertigkeiten in einem irgendwie, nun ja, sehenswerten Zustand
bleiben, versuchte einige Touristen davon zu überzeugen, sich nicht
vor den Gebäuden auf den Treppenstufen hinzusetzen und den anderen
damit den Zugang zu verbauen oder das Fotomotiv zu verhageln. Und die
Kleinen konnten gleich etwas über unterschiedliche Kulturen lernen:
Während die Weißen und Ostasiaten nach der Ansprache sofort und
ohne Widerworte lächelnd aufstanden und die Stufen räumten,
versuchten es einige Dunkelhäutige in quietschbunten Fetzen, mit
viel Geschrei und Diskussion, ihr Recht auf Sitzenbleiben
durchzusetzen, was ihnen aber anscheinend argumentativ nicht gelang,
denn nach einer Minute erhoben sie sich keifend und gestikulierend
und zogen von dannen. Derweil blieb eine komplette indische
Großfamilie einfach stoisch sitzen, ignorierte den redenden und
fuchtelnden „Respect“-Harlekin komplett und schaute nicht einmal
in seine Richtung. Der konnte machen was er wollte, der
Mahatma-Gandhi-Verschnitt mit dem dicken Turban und sein Gefolge
saßen seelenruhig da, verteilten sich sogar auf einige der gerade
von den Afrikanern geräumten Stufen, und kauten seelenruhig
irgendeine Stärkung. Nach einigen Versuchen, sich Seiner Ignoranz
bemerkbar zu machen, zog der venezianische Ordnungshüter resigniert
ab. Die Inder aber saßen kauend und grinsend da und scherten sich
einen Dreck um den Rest der Welt.
Ich muss mal Ahnenforschung betreiben, ob es bei meinen Kindern
indische Vorfahren gibt. Das mit dem Ignorieren beherrschen sie
nämlich perfekt.
Ach ja, was mir auch noch aufgefallen ist: Vor einem
Vierteljahrhundert waren die großen Renner auf den Touristenstrecken
und in den Seitengassen Schachspiele. Handgeschnitzt aus edlen
Hölzern oder mit kunstvollen Glasfiguren. Heute: keines. Nicht
eines. Ich weiß es, weil mein Großer gerade Schach lernt (und das
freiwillig und aus Freude an dem Spiel) und ich ein für einen
Achtjährigen adäquates und doch edles Spiel aus verschiedenfarbenen
Hölzern gesucht habe. Dafür haufenweise pigmentverstärkte
Straßenverkäufer, die alle den gleichen Mist verkaufen:
irgendwelche glibberigen Matschfiguren, die man mit lautem Platschen
auf den Asphalt schmeißen kann, wo sie als zermatschter Fleck landen
und sich dann innerhalb weniger Sekunden wieder zur ursprünglichen
Glibbergestalt aufrichten. Die Menschen vor fünfundzwanzig Jahren
spielten Schach. Die Menschen heute freuen sich, wenn glibberige
Kunststoffe ein Formgedächtnis besitzen. Ich habe den Verdacht, mein
schachspielender Sohn wird in einem Jahrzehnt auswandern müssen, um
hier nicht in einem Kuriositätenkabinett ausgestellt zu werden.
Der Modder und die Fäulnis in den Kanälen Venedigs ist nur ein
Gleichnis für das, was sich heute in den Gehirnen der meisten
Menschen dieses langsam im eigenen Müll versinkenden Kontinentes
abspielt.
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