Sonntag, 25. August 2024

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4

von Franz Lechner
 
 

Wieviel Symphonien hat Anton Bruckner geschrieben?

Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Je nach Sicht- oder Zählweise bieten sich unterschiedliche Ergebnisse an. Neun – klar, soviel wurden vom Meister durchnumeriert, also gezählt. Zehn – wenn man die sogenannte Nullte mitberücksichtigt. Elf – wenn man zusätzlich noch die vor der Ersten (die Nullte entstand ungeachtet ihrer „Ordnungszahl“ zwischen der Ersten und Zweiten) entstandene Studiensymphonie mitzählt. Ich persönlich würde auf zwölf Symphonien kommen. Und dies führt uns in medias res, also zum Gegenstand unserer heutigen Betrachtung, nämlich zur sogenannten „Romantischen“ Symphonie Anton Bruckners, zu seiner Vierten also, die in Wahrheit einen gigantischen Komplex verschiedener Fassungen oder, im Extremfall, nämlich was das Verhältnis der Urfassung zu den späteren Fassungen betrifft, sogar eigenständiger Werke darstellt.

Die Urfassung oder Erste Fassung von 1874 unterscheidet sich somit derart wesentlich von der „gängigen“ Zweitfassung von 1878/80 (und der hinsichtlich ihrer Authentizität lange Zeit umstrittenen Drittfassung von 1888), dass ich gewillt bin, sie als eigene, somit als zwölfte Symphonie zu zählen (dh als in chronologischer Hinsicht sechste, während die Zweitfassung demnach die achte wäre). 

Der dritte Satz, Scherzo samt Trio wurde 1878 vollständig ausgetauscht, dh neukomponiert; hier finden sich nicht einmal thematische Anklänge oder Verwandtschaften. Auch das Finale von 1880 stellt de facto eine Neukomposition dar, wobei Haupt- und Gesangsthemen wenigstens im Kern erhalten blieben, jedoch umfangreiche Modifikationen, Streichungen und auch Erweiterung erfuhren, was in der Folge zu einer Komplett-Umgestaltung von Reprise und Coda bis zur Unkenntlichkeit führte. 

Auch im zweiten Satz wurde wirklich jede Stelle umgeschrieben, wobei jedoch wenigstens die Themen als solche unverändert blieben. Dagegen nehmen sich die Veränderungen des Kopfsatzes marginal aus, wobei auch hier die 3. Themengruppe neu komponiert wurde, was naturgemäß einen anderen Verlauf von Exposition und Reprise bedingte. Auch die Änderungen in Durchführungen und Coda sind äußerst weitreichend.

Wenn Sie also als braver Konzertgeher vermeinen, die „Vierte Bruckner“ einigermaßen zu kennen, so trifft das maximal zur Hälfte zu. Dabei müssen hier noch die weiteren Fassungen (Plural!), erwähnt werden: Vom Finale existiert eine Zwischenfassung aus 1878, die dann 1880 mE zurecht verworfen wurde, und auch die 1888er Fassung ist ziemlich intensiv bzw invasiv, vor allem was das Finale, dh dessen Schluss (Coda) betrifft, der plötzlich in extrem langsamem Tempo zu spielen ist … 

Hier einige Hörtipps:

Meine unbedingte Vorliebe gilt der Erstfassung, insb dem grandiosen Finale, dessen Ekstatik in späteren Werken allenfalls erreicht, aber nicht übertroffen werden konnte. Man beachte dabei die rhythmisch-metrische Komplexität (vier gegen fünf!), die auch Bruckner höchstwahrscheinlich nicht geheuer war und zu den Verflachungen von 1878 führte, und die bewirkte, dass die Uraufführung von 1974 (also hundert Jahre später!) ebenso wie eine Schallplattenaufnahme (!) aus der UdSSR mit einem Schmiss endete. Diese Aufnahme hingegen ist untadelig:

Unübertroffen aber diese: 

  https://www.youtube.com/watch?v=gBIz3wOTGb8

Hier nun die vielgerühmte Celi-Interpretation (2. Fassung). Eigentlich handelt es sich dabei, was das Finale betrifft, um eine Mischfassung aus 1880 und 1888, indem Celi wahrscheinlich in Unkenntnis der seinerzeit verfemten Partitur von 1888 in genialer Kühnheit einfach die Coda in jenem dort vorgeschriebenen extrem langsamen Tempo schlug, eine Maßnahme, durch die sich das 1880er Finale in seiner Grandiosität erst richtig voll entfalten kann:

 

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