von LePenseur
... starb heute vor hundert Jahren:
JOSEPH CONRAD
Autoren, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben, sind an sich schon selten ... aber daß ein non-native speaker gerade im Englischen (das ja nur auf den oberflächlichen ersten Blick eine "einfache" Sprache zu sein scheint!) die Fremdsprache nicht nur beherrscht, sondern mit ihr geradezu stilbildend für andere Autoren werden kann, ist wohl einzigartig.
Conrad zählt zu meinen "frühen" Lieblingsautoren, obwohl ich ihn mir von den Eltern als Jugendlicher eher aus einer Laute, einer Neugier heraus einige Bände der damals neu übersetzten Fischer-Gesamtausgabe als Weihnachtsgeschenk erbat. Das dickste Buch unter den fünfen, die ich bekam, war "Nostromo" ... und mit jugendlicher Unbedarftheit setzte ich mich über die Feiertage hin, den Roman zu verschlingen (Leseratte war ich seit ich lesen gelernt hatte). Doch ... ähm ... nein, das war eigentlich nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Die komplizierte Rückblenden-Technik, die Conrad hier (wie in seinen meisten anderen Romanen) anwandte, überforderte mich youngster hoffnungslos. Der Roman gedieh zuächst nicht über die ersten 80 Seiten oder so ...
Später, in meiner Studienzeit, als ich doch schon literarisch reifer geworden war und auch einige andere Werke von Conrad intus hatte (ich gebe zu, es waren vorwiegend Erzählungen, da gingen sich Rückblenden nicht so aus ...), nahm ich "Nostromo" immer wieder her und ackerte von neuem durch den Roman. Es war ... harte Arbeit. Verbissene und doch fruchtlose Arbeit. Immer wieder, mal wieder von vorne beginnend (weil ich inzwischen längst vergessen hatte, worum es da bei der unübersichtlichen Handlung überhaupt ging), dann wieder kühn 50 Seiten weiterblätternd nach dem Motto "Na, es wird sich schon aufklären". Was es aber nicht tat.
Bis ich beim x-ten Versuch an eine Stelle kam, der der es mir auf einmal wie die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen fiel und ich verstand, worum es in dem Roman ging: es ging um Verrat. Um das Scheitern einer großen Sache an kleinen Niedrigkeiten. Es ging um die conditio humana, die offenbar Größe, welcher Art immer (und das kann eine dunkle, gesetzlose Größe umfassen), nicht erträgt und mit miesen Mitteln vernichtet.
Ich gestehe: ich habe "Nostromo" bis heute nicht fertiglesen können, obwohl ich den Roman seit mehr als einem halben Jahrhundert besitze und lese. Und ich glaube, daß ich ihn auch in der lestlichen Lebenszeit, die mir hoffentlich vergönnt ist, nicht fertiglesen werde ... ich "weiß" ja, worauf er hinausläuft und wie er wohl enden wird. Aber ich will es mir nicht antun, nach der letzten Seite mit zerrissenem, blutendem Herzen dazusitzen und angesichts der Gemeinheit des Lebens, die man vor Augen geführt bekam, Suizidgedanken zu wälzen.
Den geneigten Lesern, die sich mir Conrad noch nicht beschäftigt haben, sei als Warnung gesagt: in der einen oder anderen Form laufen fast alle seine Romane und die meisten seiner Erzählungen darauf hinaus, den Leser nach dem Scheitern des Roman-Protagonisten ("Helden" kann man meist nicht sagen) verstört zurückzulassen. "Die Schattenlinie" ist da vielleicht eine Ausnahme, sicher der "angenehmste" Einstieg in Joseph Conrads Werk.
Und nein, verstehen Sie das nicht falsch: ich empfehle es trotzdem jedem, seine Werke zu lesen! Sie sind einzigartig. Wer fein-verästelte Psychogramme enträtseln will, wer die subtile Erzähltechnik auf sich wirken läßt, wird zutiefst fasziniert sein, was dieser melancholische Pole (seit 1896 mit britischer Staatsbürgerschaft) aus auf den ersten Blick wenig ansprechenden "Stoffen" alles herausholen kann.
Man muß die Werke mit offenen Augen, mit aufmerksamem Blick lesen. Auch auf die Gefahr hin, daß sie sich am Ende mit Tränen füllen.
P.S.: Joseph Conrad sprach Englisch bis zu seinem Tod mit einem harten, slawischen Akzent. Und so ist es umso unbegreiflicher, mit welcher diffizilen, manchmal fast "impressionistisch" wirkenden Feinheit des Ausdrucks er es bereits ab seinem ersten Roman schreiben konnte ...
1 Kommentar:
Preußische Allgemeine:
https://paz.de/artikel/scharfer-blick-ins-herz-der-finsternis-a11993.html
PP
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