Mittwoch, 28. August 2024

Der Olympier

von LePenseur
 
 
Es braucht fürwahr keine falsche Heroisierung, wenn man jenen Mann, der heute vor 275 Jahren das Licht der Welt in einem Bürgerhaus zu Frankfurt am Main erblickte, als das größte Universalgenie der Geschichte bezeichnet.


Daß die Rede von Johann Wolfgang von Goethe ist, braucht wohl nicht erwähnt zu werden: zu präsent ist "die Spur von seinen Erdentagen" nicht nur im deutschen Kulturkreis, sondern auch in der Kultur der gesamten Menschheit! Über die Jahrhunderte der wohl größte Dichter seiner Sprache, daneben Staatsmann, Minister, Diplomat, erst der Erzieher, später engster Berater seines Landesfürsten, ein vielseitiger Wissenschaftler, auch auf dem Gebiet der bildenen Kunst nicht untalentiert – "Olympier" ist da nicht zu hoch gegriffen!
 
LePenseur ist kein Germanist und hat leider weder Zeit noch die wissenschaftlichen Ressourcen, hier einen Abriß der Bedeutung von Goethe in der Weltliteratur zu geben – doch ein Gedicht als Beispiel zu zitieren, daß selbst dem größten Genius, selbst dem scheinbaren Liebling der Götter, bitterer Schmerz nicht erspart blieb, mag gerade in Unheil dräuenden Zeiten wie diesen wenn schon nicht Trost, so doch eine Sänftigung bedeuten.

Marienbader Elegie

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.

Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen,
Von dieses Tages noch geschloßner Blüte?
Das Paradies, die Hölle steht dir offen;
Wie wankelsinnig regt sichs im Gemüte! -
Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor,
Zu ihren Armen hebt sie dich empor.

So warst du denn im Paradies empfangen,
Als wärst du wert des ewig schönen Lebens;
Dir blieb kein Wunsch, kein Hoffen, kein Verlangen,
Hier war das Ziel des innigsten Bestrebens,
Und in dem Anschaun dieses einzig Schönen
Versiegte gleich der Quell sehnsüchtiger Tränen.

Wie regte nicht der Tag die raschen Flügel,
Schien die Minuten vor sich her zu treiben!
Der Abendkuß, ein treu verbindlich Siegel:
So wird es auch der nächsten Sonne bleiben.
Die Stunden glichen sich in zartem Wandern
Wie Schwestern zwar, doch keine ganz den andern.

Der Kuß, der letzte, grausam süß, zerschneidend
Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen.
Nun eilt, nun stockt der Fuß, die Schwelle meidend,
Als trieb ein Cherub flammend ihn von hinnen;
Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen,
Es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen.

Und nun verschlossen in sich selbst, als hätte
Dies Herz sich nie geöffnet, selige Stunden
Mit jedem Stern des Himmels um die Wette
An ihrer Seite leuchtend nicht empfunden;
Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere
Belastens nun in schwüler Atmosphäre.

Ist denn die Welt nicht übrig? Felsenwände,
Sind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten?
Die Ernte, reift sie nicht? Ein grün Gelände,
Zieht sichs nicht hin am Fluß durch Busch und Matten?
Und wölbt sich nicht das überweltlich Große,
Gestaltenreiche, bald Gestaltenlose?

Wie leicht und zierlich, klar und zart gewoben,
Schwebt, seraphgleich, aus ernster Wolken Chor,
Als gliches ihr, am blauen Äther droben
Ein schlank Gebild aus lichtem Duft empor!
So sahst du sie in frohem Tanze walten,
Die lieblichste der lieblichsten Gestalten.

Doch nur Momente darfst dich unterwinden,
Ein Luftgebild statt ihrer festzuhalten;
Ins Herz zurück! dort wirst dus besser finden,
Dort regt sie sich in wechselnden Gestalten:
Zu Vielen bildet Eine sich hinüber,
So tausendfach, und immer, immer lieber.

Wie zum Empfang sie an den Pforten weilte
Und mich von dannauf stufenweis beglückte,
Selbst nach dem letzten Kuß mich noch ereilte,
Den letztesten mir auf die Lippen drückte:
So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben,
Mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben.

Ins Herz, das fest, wie zinnenhohe Mauer,
Sich ihr bewahrt und sie in sich bewahret,
Für sie sich freut an seiner eignen Dauer,
Nur weiß von sich, wenn sie sich offenbaret,
Sich freier fühlt in so geliebten Schranken
Und nur noch schlägt, für alles ihr zu danken.

War Fähigkeit, zu lieben, war Bedürfen
Von Gegenliebe weggelöscht, verschwunden,
Ist Hoffnungslust zu freudigen Entwürfen,
Entschlüssen, rascher Tat sogleich gefunden!
Wenn Liebe je den Liebenden begeistet,
Ward es an mir aufs lieblichste geleistet;

Und zwar durch sie! - Wie lag ein innres Bangen
Auf Geist und Körper, unwillkommner Schwere:
Von Schauerbildern rings der Blick umfangen
Im wüsten Raum beklommner Herzensleere;
Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle,
Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle.

Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden
Mehr als Vernunft beseliget - wir lesens -,
Vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden
In Gegenwart des allgeliebten Wesens;
Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören
Den tiefsten Sinn, den Sinn: ihr zu gehören.

In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißens: fromm sein! - Solcher seligen Höhe
Fühl ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.

Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten,
Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften,
Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,
Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften;
Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,
Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.

Es ist, als wenn sie sagte: »Stund um Stunde
Wird uns das Leben freundlich dargeboten.
Das Gestrige ließ uns geringe Kunde,
Das Morgende - zu wissen ists verboten;
Und wenn ich je mich vor dem Abend scheute,
Die Sonne sank und sah noch, was mich freute.

Drum tu wie ich und schaue, froh verständig,
Dem Augenblick ins Auge! Kein Verschieben!
Begegn ihm schnell, wohlwollend wie lebendig,
Im Handeln seis, zur Freude seis dem Lieben.
Nur wo du bist, sei alles, immer kindlich,
So bist du alles, bist unüberwindlich.«

Du hast gut reden, dacht ich: zum Geleite
Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes,
Und jeder fühlt an deiner holden Seite
Sich augenblicks den Günstling des Geschickes;
Mich schreckt der Wink, von dir mich zu entfernen
Was hilft es mir, so hohe Weisheit lernen!

Nun bin ich fern! Der jetzigen Minute,
Was ziemt denn der? Ich wüßt es nicht zu sagen;
Sie bietet mir zum Schönen manches Gute,
Das lastet nur, ich muß mich ihm entschlagen.
Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen,
Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen.

So quellt denn fort! und fließet unaufhaltsam;
Doch nie gelängs, die innre Glut zu dämpfen!
Schon rasts und reißt in meiner Brost gewaltsam,
Wo Tod und Leben grausend sich bekämpfen.
Wohl Kräuter gäbs, des Körpers Qual zu stillen;
Allein dem Geist fehlts am Entschluß und Willen,

Fehlts am Begriff: wie sollt er sie vermissen?
Er wiederholt ihr Bild zu tausend Malen.
Das zaudert bald, bald wird es weggerissen,
Undeutlich jetzt und jetzt im reinsten Strahlen;
Wie könnte dies geringstem Tröste frommen,
Die Ebb und Flut, das Gehen wie das Kommen?

Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen!
Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos;
Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen,
Die Erde weit, der Himmel hehr und groß;
Betrachtet, forscht, die Einzelnheiten sammelt,
Naturgeheimnis werde nachgestammelt.

Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,
Sie trennen mich, und richten mich zugrunde.

 

15 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Eines Tages klopfte die Angst an die Tür. Da stand der Mut auf und öffnete, aber da war niemand draußen.
Das soll auch vom Geheimrat sein, gefällt mir mehr als Hardcore-Melancholie.
Grüße Uli

Anonym hat gesagt…

Zum Thema Melancholie/ Traurigkeit ein Thomas-Zitat:
Übermäßige Traurigkeit ist eine Geisteskrankheit, doch mäßige Traurigkeit kennzeichnet eine gut geordnete Seele und ist dem gegenwärtigen Zustand des Lebens angemessen.
ST 1-2 59.3ad3

Sandokan hat gesagt…

Mein Lieblingszitat von Goethe, und ausgerechnet aus einem Werk stammend, wo die meisten es nicht vermuten würden.

„Indessen bleiben wir allen aufgeregten Wall- und Kreuzfahrern zu Dank verpflichtet, da wir ihrem religiosem Enthusiasmus, ihrem kräftigen, unermüdlichen Widerstreit gegen östliches Zudringen doch eigentlich Beschützung und Erhaltung der gebildeten europäischen Zustände schuldig geworden.“
--Aus den Noten und Abhandlungen im West-Östlichen Divan

Anonym hat gesagt…

Als "Politiker" und als "Minister" hat er sich, so wird gesagt, nicht eben mit Ruhm übergossen. Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Was kam? Noch nicht einmal Anmecker.

helmut-1 hat gesagt…

Was mich immer wieder nachdenklich macht, das ist die Wortwahl, oder auch Vokabular genannt. O.k., es sind viele Worte nicht mehr so im Gebrauch wie früher, und viele Leute kennen ihre Bedeutung nicht.

Aber wenn ich den Sprachschatz eines Goethe mit dem vergleiche, was heute als "deutsche Sprache" bezeichnet wird, dann läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wie arm sind wir eigentlich geworden, ohne es zu merken?

Ich erinnere mich noch an einen Showmaster namens Lou van Burg, und als Kind noch an die Sendung "Sing mit mir – spiel mit mir". Aber ich erinnere mich auch noch an seine stolze Propaganda, dass er bei der deutschen Sprache nur über 300 Wörter verfügt, und das genüge ihm vollständig für seine Präsentationen.

Das hat mich damals schon abgestoßen, als Jüngling, der Schiller, Grillparzer und Kafka gelesen hat. Es ist also ein schleichender Niedergang, mit einem Beginn von vor vielen Jahren.

Tatsache ist, dass es nicht nur die deutsche Sprache betrifft, - es ist genauso in anderen europäischen Sprachen, wie im Englischen (Die Wortwahl Shakespeares war nun mal eine viel weitgreifendere), oder im Französischen, und auch im Rumänischen, dessen ich nach den vielen Jahren in Siebenbürgen mächtig bin. Auch hier ist der Wortschatz eines Eminescu (der auch auf der Wiener Uni bekannt war) nicht mehr mit dem zu vergleichen, was man heute in der Umgangssprache verwendet.

Kapieren wir eigentlich, dass wir trotz technischer Fortschritte immer ärmer werden, zumindest im kulturellen Bereich? Oder ist das eine Art des Ausgleichsphänomens, dass man bei jedem Schritt in Richtung Technik etwas von der Kultur verliert?

Juan d‘Austria hat gesagt…

Das ändert leider nichts daran, dass dieser woke Poet in diesem „Divan“ ganz fürchterliche Sachen verzapft hat. Die Wirkungen erleben wir heute. Von diesem Herrn, ein Inbild der deutschen Krämer- und Köterseele lese ich keine Zeile.

Sandokan hat gesagt…

Das ist leider eine korrekte Diagnose.
Alleine schon bei Verhunzungen wie Fuzo oder Mahü krampft es mich zusammen. Und das ist ja noch harmlos.
Anspruchsvolle Literatur zu lesen schafft etwas Ausgleich, ist aber momentan auch eine im Aussterben begriffene Liebhaberei.

https://www.lehrerfreund.de/schule/1s/aussterbende-woerter/2744

Anonym hat gesagt…

Meine Güte. Dieses larmoyante „Früher war alles besser, wir sind in einem unaufhaltsamen Niedergang“-Gejammer gab es zu allen Zeiten. Übrigens auch beim Weimarer Geheimrat selbst, der ebenfalls das Klagelied über die nie dagewesene Verarmung der deutschen Sprache intoniert hat. Also: Den Ball flach halten!

helmut-1 hat gesagt…

Für mich immer wieder unverständlich, wie man aus Prinzip alles durcheinanderbringt, um eine eigene Meinung zu manifestieren. Wo habe ich gesagt, das früher alles besser war? Ist auch nicht meine Meinung. Früher war vieles anders, - das würde es besser treffen.

Aber ich habe nur soviel gesagt, das früher der Sprachschatz ein anderer war, wesentlich umfangreicher und vor allem spezifischer. Dazu meine ich, dass es seit Jahrzehnten mit der Fülle des deutschen Sprachschatzes abwärts geht, und es wird auch weiter abwärts gehen.

Derjenige, er das anders sieht, kann das ruhig. Aber vermutlich hat er noch nie ein Buch gelesen oder höchstens Komiks mit Sprechblasen.

Anonym hat gesagt…

Der Meister hat sich auch über die heutige Wissenschaftsgläubigkeit - "Follow the science!", "The science is settled!", unseren Klabauterbach etc. - geäußert:
MEPHISTOPHELES.
Ich wünschte nicht, Euch irre zu führen.
Was diese Wissenschaft betrifft,
Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden,
Es liegt in ihr so viel verborgnes Gift,
Und von der Arzenei ist’s kaum zu unterscheiden.
Am besten ist’s auch hier, wenn Ihr nur einen hört,
Und auf des Meisters Worte schwört.
Im ganzen—haltet Euch an Worte!
Dann geht Ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein.
SCHÜLER.
Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein.
MEPHISTOPHELES.
Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Anonym hat gesagt…

Wie oben schon gesagt, dasselbe bejammerte auch schon Goethe. Der sah die Sprache auch im Niedergang. Vor 250 Jahren. Ist also alles nicht neu. Sprache verändert sich halt. Und klar, wir alten Knacker finden immer, dass früher besser gesprochen und geschrieben wurde. Aber um ehrlich zu sein: so wie man im Kaiserreich kommunizierte, mit diesem schwurbeligen gedrechselten Gutsherrendeutsch, so will heute keiner mehr reden. Um Himmels Willen.

helmut-1 hat gesagt…

"...so will heute keiner mehr reden"..
Es kommt immer drauf an, wovon die Rede ist. Die frühere Formulierung in der direkten Anrede wie z.B. "Herr Hofrat", oder "Herr Geheimrat", hat mich auch schon früher angekotzt. Sicher wird sich manches im Laufe der Jahrzehnte geändert haben, - aber mir geht es um die Feststellung, wie diese Änderung aussieht.

Und damit komme ich auf den Punkt. Es sind so viele Begriffe und Wörter, die heute nicht mehr verwendet werden und die in der Lyrik aber einen hervorragenden Stellenwert einnehmen. Dann kommt anschließend die Frage, ob diese Wörter von damals durch etwas anderes heute ersetzt wurden. Und da sehe ich nichts.

Ersatzwörter der neuhochdeutschen Sprache wie "Hey, Alter", oder "ich f.ck deine Mutter" oder so ähnliches, das kann es ja nicht sein.

Nur, um ein paar Beispiele aus der Literatur anzuführen, was ich an Verlust in der deutschen Sprache empfinde:

prangen, hehr, mitnichten, Nebelstreif, säuseln, Gram, wonnevoll, die Abendröte, usw. usw.

Gibts eine Ersatz dafür? Ich kenne keinen.

helmut-1 hat gesagt…

Noch als Nachtrag zu meinem letzten Kommentar:

https://www.facebook.com/reel/872979867327587

Anonym hat gesagt…

>> Ersatzwörter der neuhochdeutschen Sprache wie "Hey, Alter", oder "ich f.ck deine Mutter" oder so ähnliches, das kann es ja nicht sein. <<
Man nehme mal das ubiquitäre und alternativlose "cool". Heute ist alles nur "cool".
Wir sagten früher "spitze", "abgefahren", "erste Sahne", "heiß", "geil", "megageil", "affentittengeil", "megageil" usw. - je nach Szene, Objekt und Situation.
Also: keine Verarmung?

Anonym hat gesagt…

„Affentittengeil“ ist nicht nur ein viel komplexeres Wort, es ist vor allen drin DEUTSCHES Wort. Dieses entsetzliche „cool“ ist die Sprache der Amerikaner, und die sind unser Unglück. Also natürlich eine Verarmung.