Mittwoch, 13. November 2019

Ulrike von Levetzow


... die letzte Liebe des wohl größten Deutschen aller Zeiten — auch wenn in seltener Einmütigkeit (wenn auch mit höchst unterschiedlichen Gegenvorschlägen) hier wohl alles, von rechtsextrem über patriotisch, klerikal, liberal und sozialistisch bis linksextrem aufheulen wird): Johann Wolfgang von Goethe. Und dieser hoffnungslosen Alterliebe verdanken wir eines seiner berührendsten Werke: die Marienbader Elegie. Sogar die oft so dröge dozierende Wikipedia wird darüber fast poetisch:
Im Sommer 1821 reiste Johann Wolfgang von Goethe zu einem Kuraufenthalt in das böhmische Marienbad. Auf der Suche nach Ablenkung vom tristen Alltag, von Gebrechen des Alters und von der Einsamkeit traf er auf die siebzehnjährige naiv-kokette Ulrike von Levetzow, die mit ihrer Mutter und den beiden jüngeren Schwestern den Sommer in Marienbad verbrachte. Im fast 72 Jahre alten Goethe entbrannte eine große Leiden-schaft zu dem 54 Jahre jüngeren Mädchen. Blind vor Liebe wagte er zwei Sommer später 1823 das beinahe Undenkbare: Mit Hilfe seines Freundes Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach hielt er schriftlich und formell bei Ulrikes Mutter, Amalie von Levetzow, um die Hand des Mädchens an. Carl August unterstützte den Antrag, indem er der Familie ein sorgenfreies Leben an seinem Hof versprach.
Man kann es sich ja kaum vorstellen: ein Staatsoberhaupt (das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war wohl etwa in der Liga eines heutigen Luxemburg angesiedelt!) kommt als Brautwerber für einen für damalige (und heutige) Verhältnisse alten Dichterfürsten — nein, heute wäre so etwas wohl nicht mehr möglich. Man versuche sich vorzustellen: der zwar nicht vom dichterischen Rang ebenbürtige, aber von seiner Bekanntheit und seinem Alter vergleichbare Nobelpreisträger Handke schickt den Bundespräsidenten Van der Bellen zur Mutter eines siebzehnjährigen Backfischs als Brautwerber ... Tableau! Undenkbar! Es wird eine Kabarettnummer draus, man kann's drehen und wenden wie man will ...

Diplomatisch antwortete man Seiner Königlichen Hoheit: »Das Fräulein hätte noch gar keine Lust zu heiraten« — ja, auch das wäre heute wohl nicht so wohlgesetzt und schonungsvoll zu erwarten. Die »Alterstorheit« eines Dichters würde in der Gosse des Geschwätz-TV in Talkrunden zu Tode gefaselt, er selbst der Lächerlichkeit und moralisierenden Verdammung preisgegeben. Der durchlauchtigste Brautwerber wäre ebensowenig zu beneiden. Ja, so ändern sich die Zeiten.

Martin Walser hat die Marienbader Elegie zweimal in seinem Schaffen zitierend verwendet: in seinem Eckermann-Stück »In Goethes Hand« (1982), wo er Goethe immer wieder jene erschütternde Strophe
Der Kuß, der letzte, grausam süß, zerschneidend
Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen.
Nun eilt, nun stockt der Fuß, die Schwelle meidend,
Als trieb' ein Cherub flammend ihn von hinnen;
Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen,
Es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen.
sprechen läßt. Ich erinnere mich an eine großartige Aufführung dieses Werkes, in welcher der damals schon betagte Paul Hoffmann den Dichterfürsten verkörperte (nicht bloß: spielte) — die Erschütterung im Publikum war spürbar. Ein zweites Mal nahm Walser in seinem Roman »Ein liebender Mann« (2008) auf jene Ereignisse Bezug; auch den Roman habe ich gelesen, gestehe aber, das Theaterstück doch für treffender gestaltet zu halten, doch de gustibus ...

Stefan Zweigs »Sternstunden der Menschheit« werden von Wikipedia ebenfalls zum Thema zitiert; da ist manches für meine Begriffe etwas überschwänglich (wie bei Zweig öfters der Fall).

Eine persönliche Anmerkung: in einem seiner Werke — ich finde das exakte Zitat leider nicht mehr — schreibt der von mir so geschätzte Werner Bergengruen, daß er als junger Mann einer alten Dame vorgestellt worden sei und ihr die Hand geküßt habe, die ihrerseits in ihrer Jugend die Bekanntschaft der alten Stiftsdame Ulrike von Levetzow gemacht hatte — die nicht nur nicht Goethe, sondern überhaupt niemals geheiratet hatte —, und knüpft daran, wenn ich mich recht erinnere, die feine Betrachtung, daß die Hand der alten Dame, über die er sich gebeugt habe, durch nur einen Händedruck von jener Hand entfernt gewesen sei, die seinerzeit Goethe geküßt habe.

Ulrike von Levetzow, der von Goethes Gefühlen überwältigte und überforderte Backfisch von 1823, spielte in seinem Leben und Schaffen wohl nicht die Rolle einer Marianne von Willemer. Und doch machte er sie unsterblich. Sie hatte es wohl so begriffen, deshalb den Weg einer Stiftsdame gewählt ... denn
In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißen’s: fromm sein! – Solcher seligen Höhe
Fühl’ ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.
mochte
ihr wohl den Gedanken, jemals einem anderen als eben Goethe, den sie abgewiesen, in ihrem Leben anzugehören, undenkbar machen. Zu ihrem Tod am 13. November 1899, also heute vor 120 Jahren, schreibt Dagmar v. Gersdorff (»Goethes späte Liebe«): »Am 13. November 1899 meldete ein Kärtchen des Kammerdieners Josef Konrad, daß Frau Baronin heute früh 3/4 6 ruhig und ohne Schmerzen entschlafen sei.« Auf Ulrike von Levetzows Sarg »... legte man einen aus Weimar geschickten Kranz. Er bestand aus Herbstblumen, die in Goethes Garten gewachsen waren.« In gewissem Sinne kann man durchaus sagen: Goethes Zeitalter ist an jenem Novembertag des 19. Jahrhunderts endgültig zu Ende gegangen.



1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Was für eine schöne, geistvolle Betrachtung. Danke.