Montag, 5. November 2018

Zur neunzigsten Wiederkehr des Todestages




... sei an einen heute nicht nur fast vergessenen, sondern geradezu verfemten Lyriker erinnert, der 1920 gemeinsam mit Rainer Maria Rilke von der Dt. Schillerstiftung den Mejstrik-Preis zuerkannt erhielt: Ottokar Kernstock, Can.Reg. des steirischen Chorherrrnstiftes Vorau und Pfarrer in Festenburg, der am 5. November 1928 auf Schloß Festenburg, achtzigjährig, seinen irdischen Lebensweg beschloß. Des Dichters wurde schon auf diesem Blog mit einem längeren Artikel gedacht und so sollen hier nur einige Gedichte zitiert werden, die die literarische Bedeutung dieses Priester-Dichters zum Ende des 19. und Anfang des 20 Jahrhunderts erläutern.

Denn ungeachtet der oft haßerfüllten Karikaturen und Malicen, die Kernstock von Karl Kraus erfuhr: er war wegen des für damalige Ohren »neuen« Tones seiner Lyrik durchaus als Neuerer anerkannt, und keineswegs nur der platte Kriegslyrik schreibende Reimschuster, als den ihn Kraus hinstellen wollte!

Sicherlich — ihn mit einem Rilke in einer Preisverleihung quasi »in einem Atemzug« genannt zu sehen, ist für das heutige Verständnis gewöhnungsbedürftig. Und doch: auch Kernstock hatte seinen eigenen Stil, der ihn unverwechselbar aus der Dutzendlyrik jener Jahr(zehnt)e heraushob. Man lese etwa ein Gedicht zu Friedrich Gottlieb Kopstocks Ehren:
Ein Dichterkuß

Der Sänger des »Messias« war einmal
Unfern dem Zürcher See, im Limmat-Tal,
In einem Nonnenstift zu Gast geladen.
Verlangen trugen die ehrwürd'gen Frau'n,
Von Angesicht zu Angesicht zu schau'n
Den Fürsten des Gesangs von Gottes Gnaden.

Mit Lautenschall und süßen Symphonien
Empfing ein magdliches Orchester ihn.
Und als er dankte, scholl es in der Runde:
»Lest uns aus Euerem "Messias" vor!
Ein Stündchen noch währt's bis zum Abendchor.
O bitte, lest!« klang's wie aus einem Munde.

Gefällig nickte der Poet und schlug
Die Handschrift auf, die er just bei sich trug:
Der fünfte Sang war's, den er jüngst vollendet.
Im Prachtgestühle an des Punksaals Wand
Nahm das Kapitel Platz und hielt gespannt
Die Blicke zu dem edlen Gast gewendet.

Der Dichter liest. Man fühlt das bange Weh
Des Opferlammes in Gethsemane,
Man glaubt sein Flehn, sein Angstgestöhn zu hören,
Man sieht das Blut, das aus den Poren dringt ...
Es schlägt die Uhr — das Horaglöcklein klingt;
Doch niemand will sich an sein Mahnen kehren.

Da zwingt ein Klaglaut, der durchs Zimmer zieht,
Den Leser aufzublicken, und er sieht
Von schmerzergriff'nen Schwestern sich umrungen.
D i e   hat ihr nasses Angesicht verhüllt,
D i e   steht wie ein versteinert Jammerbild,
Und jene halten weinend sich umschlungen.

Und schluchzend tritt die Jüngste aus der Schar,
Fast noch ein Kind. Das gold'ne Krauselhaar
Quillt widerspenstig aus der Nonnenhaube.
»Hab Dank!« so ruft sie, als der Dichter schloß,
»Jetzt erst ermess' ich ganz, wie grenzenlos
Die Liebe dessen war, an den ich glaube.«

»Zum erstenmal rief, seit dies Münster steht,
Die Glocke uns vergeblich zum Gebet.
Gott wird's verzeihn, ward gleich sein Dienst verspätet;
Denn niemals war er uns so nah wie heut,
Nie schien mir größer seine Herrlichkeit —
Nie hat mein Herz inbrünstiger gebetet.«

Die Holde spricht's, sinkt in die Knie und will,
Besiegt von überströmendem Gefühl,
Die Hand des Dichters küssen, des verehrten.
Der aber hebt ihr Köpfchen aufwärts, blickt
Gerührt ins feuchte Schwärmeraug' und drückt
Die Lippen auf die Stirne der Verklärten.

Erschreckt, verwirrt springt sie empor, entflieht
Und stürzt, von jungfräulicher Scham erglüht,
Sich ungestüm der Meisterin zu Füßen.
Doch die spricht milde lächelnd: »Sei nicht bang!
Der Dichtermund, der Gottgeweihtes sang,
Darf auch die Stirn der Gottgeweihten küssen.«

»Sein Ruhm wird sturmesgleich die Welt durchwehn,
Vergessen wird Dein Name untergehn.
Doch wie ein Stern auf Deinem Erdenpfade
Wird leuchten bis an Deines Daseins Schluß
Der erste und der letzte Manneskuß,
Die Dir der Sänger gab der Messiade.«

Keine Frage: das hat nicht die Originalität, das Genie Rilkes. Es bleibt wohlgesichert in klassischen Bahnen der Lyrik — aber ist es deshalb gering zu schätzen? Denn die ungezwungene Sicherheit, mit der der Dichter hier Metrum und Reime meistert, erweist ihn eben als Könner — nein: als Meister!

Kernstock war aber nicht nur Priester und Dichter — er leistete auch Grundlegendes als Archivar seines Stiftes, dessen ziemlich in Unordnung geratenes Archiv er als junger Kanoniker in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erstmals ordnete. Aus dieser Beschäftigung erwuchs auch sein Interesse an mittelhochdeutscher Dichtung, das ihn befähigte, auch selbst Gedichte in dieser Sprache zu verfassen, oder — öfter in seinen Lyriksammlungen — Annäherungen an jene tief in die Vergangenheit zurückgesunkenen Sprachschichten zu versuchen, die die Leser seiner Werke nicht so überforderten, wie Gesänge in »lupenreinem« Mittelhochdeutsch — denn wer kann, Hand aufs Herz, denn heute einen Walther von der Vogelweide im Originaltext stante pede lesen, ohne ins Stottern zu geraten ... und mehr noch: genießen?!

Einer der erfolgreichsten »Vermittlungsversuche«, die Kernstock auf diesem Gebiet gelangen (und auch durch mehrfache Vertonung »belohnt« wurde), ist

Isôt, la blonde

Es wohnt' eine Maid in Züchten
Im Lotharingerland,
Von ihrem Haar, dem lichten
Isôt, la blonde, genannt.
Die schuf viel Missewende
Manch minnegehrendem Mann,
Daß er bis an sein Ende
Nur einen Gedanken sann:
Isôt ma drûe, Isôt m'amie!
En vus ma mort, en vus ma vie!

Ein Spielmann sang am Rheine
Manch klanggewaltig Lied;
Der warb um die Vielfeine,
Und sprach, eh' denn er schied:
Fällt übers Jahr von heute
Auf Maienblüten der Tau,
Führ ich unter Glockengeläute
Dich heim, holdseligste Frau!
Isôt ma drûe, Isôt m'amie!
En vus ma mort, en vus ma vie!

Es wehten die Blütenflocken,
Da hat's auf ein Grab getaut;
Heim führte beim Dröhnen der Glocken
Der Sänger die tote Braut.
Er pflanzte Rosen und Reben
Zu Häupten seinem Lieb,
Die müssen den Stein umgeben,
Auf den er die Worte schrieb:
Isôt ma drûe, Isôt m'amie!
En vus ma mort, en vus ma vie!

Dann rief er: Schlaf in Frieden
Nur kurzer Tage Lauf!
Eh' noch der Sommer geschieden,
Weck ich dich wieder auf.
Dein Name soll erschallen
Noch manchen Frühlingstag,
Von Mund zu Mund soll's hallen
Wie Nachtigallenschlag:
Isôt ma drûe, Isôt m'amie!
En vus ma mort, en vus ma vie!

Auf süße Weisen sann er
Von sehnender Minne Not,
Die schönste der Mären spann er
Von Tristand und Isôt.
Und zum Gedächtnis der Trauten
Am Wasgenwalde — zieht
Ein Klingen von fränkischen Lauten
Durch des deutschen Sängers Lied:
Isôt ma drûe, Isôt m'amie!
En vus ma mort, en vus ma vie!

Dennoch: sein Bestes gab Kernstock doch weniger in seinen kunstreichen Dichtungen »in altem Gewand«, und auch seine oft verschmitzten Humor verratenden heiteren Gedichte, die er zu allen möglichen Anlässen schrieb, wollen uns heute oft etwas »altfränkisch« anmuten. Hingegen seine kurzen Sinnsprüche, und so mancher Stammbuchvers können immer noch durch ihre Prägnanz und Ausdruckskraft bestechen — so wie jener Vierzeiler, den ich schon vor Jahren einmal zitierte, und der nun dieses kurze Gedenken beschließen soll:

Wenn sich dereinst des Lebens Rätsel lösen,
Wirst staunend du erseh’n geschärften Blicks,
Wie manches Glück nur Leid gewesen
Und manches Leid die Quelle reinsten Glücks.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank, verehrter Penseur! Ich habe das mit Freude und Interesse gelesen.

Ihr preußischer Piefke