Mittwoch, 15. Juli 2020

José Ortega y Gasset über Politiker


»Im allgemeinen ist der Politiker als solcher ein zweitklassiger Mensch. Würde man eine statistisch-biographische Studie der Menschen, die sich mit Politik befassen, anlegen, so wäre man überrascht, wie ungeheuer groß der Prozentsatz derer unter ihnen ist, die von anderen, anspruchsvolleren Berufen in die Politik abgesprungen sind. Da sie in ihnen gescheitert sind, wenden sie sich der politischen Betätigung zu, weil sie leichter ist und weniger präzise Arbeit erfordert. Die Politik ist das ewige „von ungefähr“. 

[…]

Dem Intellektuellen nötigt zunächst die Wendigkeit des Politikers, die Gewandtheit, mit der er sich bewegt, die Tapferkeit, mit der er in heiklen Situationen handelt, große Bewunderung ab, denn entgegen dem allgemeinen Urteil ist der Intellektuelle einer der wenigen Menschentypen, die echter Bewunderung fähig sind. Späterhin überzeugt er sich, daß diese Wenigkeit und diese Tapferkeit mit großen Beigaben von Unbewußtheit versetzt sind, das heißt, daß der Politiker die Situation nicht mit der Klarheit sieht wie der Intellektuelle — im Widerspruch zum allgemeinen Urteil — ; vor allem sieht er nicht die Folgen der Situation voraus, und diese gefährliche, manchmal augenfällig katastrophale Zukunft lastet nicht auf ihm. Derart, ohne Last auf den Schultern, ist es leicht, wendig zu sein; derart, ohne Bewußtsein der Gefahr, ist es leicht tapfer zu sein.«

(»Parlamentarische Sensationen«, 1932)


5 Kommentare:

FalkenaugeD hat gesagt…

Der peruanische Nobelpreisträger für Literatur Mario Vargas Llosa, der 1987 als Präsidentschaftskandidat für drei Jahre in die Politik ging, schilderte seine Erfahrungen mit den Politikern so:

„Sie können die hehrsten Ideen haben, aber sobald es an deren Verwirklichung geht, sind Sie Intrigen, Verschwörungen, Paranoia, Verrat und Abgründen an Schmutz und Niedertracht ausgesetzt. Wenn ich eins über den Morbus der Politik gelernt habe, dann dies: Der Kampf um die Macht lockt die Bestie in uns hervor. Was den Berufspolitiker wirklich erregt und antreibt, ist das maßlose Verlangen nach Macht. Wer diese Obsession nicht hat, wird der kleinlichen und trivialen Praxis der Politik angeekelt den Rücken zukehren.“

Aus:
https://fassadenkratzer.wordpress.com/2014/09/19/der-staat-als-instrument-der-machtsucht-einzelner/

Ulrike hat gesagt…

"Der Politiker" ist, jedenfalls in Deutschland, in einer überwältigenden Mehrheit (von weit über 90%) der Mann und die Frau, die ehrenamtlich neben dem Beruf die Abende und die Wochenenden drangeben, um sich für ihr Gemeinwesen einzusetzen. Weil man Demokratie in der Pfeife rauchen kann, wenn es solche Menschen nicht gibt. Also ist "der Politiker" jemand, der JFK's einfachen und einfach wahren Satz mit Leben füllt: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein Land tun kannst!" Ein Satz, der jedem Liberalen und Libertären in die DNA eingeschrieben sein sollte.

So gesehen ist dieses wohlfeile Politiker-Bashing der "Intellektuellen", auch wenn es bei einem so elitären Denker wie Gasset erwartbar ist, dümmlich und arrogant.

Le Penseur hat gesagt…

Chère Mme. (Mlle?) Ulrike,

Gott erhalten Ihnen Ihre Naivität! Sie leben leichter damit.

Ich weiß nicht, ob Sie selbst zu jenen "weit über 90%" gehören, die "ehrenamtlich neben dem Beruf die Abende und die Wochenenden drangeben, um sich für ihr Gemeinwesen einzusetzen."

Dies sind jedoch die kleinen Arbeitsameisen, die faktisch null Pouvoir in politischen Entscheidungsprozessen haben. Die dürfen in lokalen Gemeinderäten am Land über die Fassadenfarbe und Ausstattung von Gemeindekindergärten "entscheiden". Schön. Ist lkal auch nicht ohne Bedeutung, wie ich gerne konzediere.

Aber das sind nicht die Politiker, die Ortega y Gasset im Visir hat. Das sind Parlamentsabgeordnete (obwohl die zum größeren Teil auch noch "kleine Fische" sind), v.a. aber die Regierungsmitglieder auf regionaler und v.a. nationaler und multinationaler Ebene.

Und hier fängt der sprichwörtliche (große) Fisch durchaus am Kopf zu stinken an.

Es gibt wenige auf dieser Ebene (und ich kenne in Österreich eine Reihe von ihnen), denen ich größeres Vertrauen als einem Gebrauchtwagenhändler auf der Triesterstraße*) oder einem Bordellbesitzer entgegenbringe.

Ja, es gibt Ausnahmen. Es gibt auch heute noch, selten aber doch,den Politiker, der aus Gemeinschaftssinn "um der Sache willen", und ohne Parteibrille agiert. Wenn ich die unsere österreichische Bundesregierung blicke, fällt mir kein einziger dieser Sorte ein — und in unserem Parlament bestenfalls eine Handvoll.

Dr. Krall hat mit seinem herben Verdikt der "aversen Selektion" unserer real existierenden Politikerkaste leider nur zu recht!


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*) für Nicht-Wiener: eine Ausfallstraße Wiens in den Süden, an der v.a. früher eine Menge eher dubioser "Gebrauchtwagen-Plätze" loziert waren

Anonym hat gesagt…

@ Ulrike:
Und ich willfahrte dem alten Weiblein und sprach
also zu ihm:
Alles am Weibe ist ein Räthsel, und Alles am
Weibe hat Eine Lösung: sie heisst Schwangerschaft.
Der Mann ist für das Weib ein Mittel: der Zweck ist
immer das Kind. Aber was ist das Weib für den Mann?
Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel.
Desshalb will er das Weib, als das gefährlichste
Spielzeug.
Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und
das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andre ist
Thorheit.

Anonym hat gesagt…

"Ich aber beschloss Politiker zu werden."
Mit diesem folgenreichsten Satz des 20. Jahrhunderts ist eigentlich alles zum Thema Politiker gesagt.