Wie so oft ist es lohnend, Prof. Anselm Salzer OSB — dessen auf diesem Blog übrigens ebenfalls gedacht worden ist — zu einem seiner Zeitgenossen zu befragen. So auch im Falle von Frank Thiess (welchen er »Thieß« schreibt) im fünften Band seiner »Illustrierten Literaturgeschichte«:
Getragen von Pessimismus ist die Weltanschauung des Livländers […]. In dem Buche »Das Gesicht des Jahrhunderts, Briefe an Zeitgenossen« (1923) analysiert er mit wissenschaftlicher Genauigkeit die seelische Grundhaltung des modernen Menschen und zeigt an den verschiedenen Beispielen, dem Journalismus, der Wissenschaft, Musik, Literatentum, dem kunstfremden Kino usw., wie sehr der Verfall der europäischen Kultur fortgeschritten ist. Auc wir finden die Zeit entsetzlich, doch wollen wir nicht mit der gleichen Einseitigkeit alles verdammen, denn es können gegen den Kulturpessimismus der Ausführungen Thieß’ gewichtige Einwände erhoben und Ansätze zu einer Aufentwicklung genannt werden. Immerhin sind diese Briefe reich an beachtenswerten Einzelheiten und in einem kultivierten Deutsch geschrieben. Die in den Briefen angeschlagenen Leitmotive kehren in seinen Dichtungen nicht nur wieder, sie finden dort erst scheinbar zwingende Gestalt. Ohne Zweifel besitzt Thieß ein nicht gewöhnliches künstlerisches Talent, doch scheint uns manches Lob, des seine Romane finden, übertrieben. Er ist, wie Georg Schäfer ihn bezeichnet, ein Zivilisationsliterat, einer, der mit großer Geschicklichkeit das ‚Instrument unserer Sprache beherrscht, der das Leben kennt und davon auch fesselnd zu erzählen weiß; aber es fehlt ihm das Letzte, die Beherrschung der Form, die matte Verschmelzung von Sinn und Sein. Man kann seine moralischen Absichten schätzen — auch da, wo die Übereinstimmung mit seinen Ideen fehlt — aber das kann nicht den Mangel an Wärme, die aus der innigen Beziehung zu den Dingen kommt, ersetzen.(Salzer, Illustrierte Literaturgeschichte V, S 2279 f.)
Daß der zwar höchst belesene, doch zumindest ebenso katholische Pater Anselm Salzer die über Jugendwirrungen handelnden Romane »Das Tor zur Welt« (1926) und »Abschied vom Paradies« (1927) mit starkem Vorbehalt sieht, überrascht nicht: das Thema des erwachenden Eros’ wird von ihm mit ebensoviel Skepsis aufgenommen, wie Thiess’ Ansichten über Nietzsche et al.
»Die Verdammten« (1923) wurden, wie im Gedenkartikel erwähnt, von den Nazis nach ihrer Machtergreifung »den Flammen übergeben« — doch auch Salzer findet die darin geschilderte Geschwisterliebe »… ein heikles Thema«. In der Tat: es geht bis hin zur erzwungenen Abtreibung, nach welcher die Schwester den nach Jahren wiedergefundenen Bruder verläßt.
Bei diesem durchaus wertschätzenden, doch insgesamt recht kritischen Urteil Salzers ist freilich zu bedenken, daß die Mehrzahl der »großen« Werke des Autors damals (1932) noch in der Zukunft lagen — Thiess war, wenn man so will, ein literarischer Spätentwickler, der sein Meisterwerk »Tsushima« erst als Mittvierziger veröffentlichte, von den essayistischen Werken über Byzanz, bei deren Abfassung er schon in den Sechzigern stand, ganz abgesehen.
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