Dennoch: betrachten wir die derzeitige Aufweichung von Dogmen, die Verwirrung von Lehrmeinungen und eine falsch gemeinte Toleranz, die in ihrer Art jener auf politischer Ebene frappierend ähnelt, so macht mir das Hier und Heute zu schaffen. Wenn das Jesuskind nicht mehr das Wunder jenes Gottes ist, der seine Größe dadurch erreicht, dass er sich winzig machen kann, sondern stattdessen als schutzlos gilt; wenn Jesus nur noch als leidender Mensch erscheint, dem man Unterschlupf, Nahrung oder Krankenhilfe leisten soll, und nicht mehr der glanzvolle Sieger gegen den Tod am Tag der Auferstehung; wenn wir nur noch den Menschen in Christus sehen, nicht aber mehr den Gott; dann hat man den Eindruck, dass nur noch das Irdische eine Rolle spielt, nicht aber mehr das Überirdische. So, als sei dieser ganze Glaube nur noch ein Humanismus, angereichert mit ein paar Geschichten und Festen.
Nicht, dass ich die soziale Komponente herunterspielen wollte. Sie hat immer dazu gehört. Aber das Gewicht hängt meines Erachtens schief. Jesus durchleidet die Passion, doch allein: weil es so sein muss. Es ist aber auch derselbe Jesus, der über Wasser läuft. Um eine Anekdote zu bemühen: im Film „Passion Christi“ von Mel Gibson sprechen Pilatus und Christus auf Latein miteinander. Auch gläubige Zuschauer meinten darauf augenzwinkernd: hier flunkert der Film natürlich etwas zugunsten der Dramatik. Realistischer sei natürlich, dass die beiden in der griechischen Umgangssprache Koine gesprochen hätten. Eher unwahrscheinlich, dass ein Handwerkersohn das Latein des Westens beherrschte.
Ich konnte mir die Ironie nicht verkneifen: »Sie sind also der Meinung, dass der Sohn Gottes mit ein paar Broten und Fischen tausende Menschen ernähren kann, Dämonen austreibt und in Schweine fahren lässt, Kranke heilt und den Lazarus von den Toten auferweckte – aber Sprachprobleme mit Pilatus gehabt haben soll, weil er kein Latein konnte?«
Womöglich hat mich der Entschluss gegen die Theologie davor bewahrt, jenen etwas naiven, volkstümlichen Katholizismus zu verlieren, wie er manchmal kindlich auf dem Dorf gelebt wird. Das ist der Grund, warum mir Guareschi so nahe steht: diese Welt ist meiner Erfahrung viel näher als die Verlautbarungen von „modernen“ Kardinälen und Bischöfen, wie sie heute medienwirksam in Zeitungen stehen oder in Hörfunkgeräten erklingen. Das ist auch der sehr einfache Glaube meiner Verwandten. Kurz: wenn für Gott nichts unmöglich ist, wie der Engel sagte – warum halten wir uns mit solchen Lappalien auf? Der mittelalterliche Mensch hätte deswegen keinen Moment daran gezweifelt, dass Jesus in der Anwesenheit des Pilatus auf Latein gesprochen hätte, um mit ihm in der Heimatzunge zu korrespondieren. Das sähe Gott viel ähnlicher.
Für mich bedeutet daher Katholizismus (auch): Bejahung der Wunder, des Mythos, des Großen, des Übermenschlichen und des Unerklärbaren. Gott entzieht sich unserer Definition. Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Glauben und macht die Faszination aus. Aber: womöglich ist das auch der Grund, warum der Glaube eine Gabe bleibt, die nicht jedem gegeben ist. Heute verirren sich Kirchenleute in „Sonntagsevangelien“, weil sie meinen, man könne einen Menschen, der vor 2.000 Jahren lebte, nicht kennen. Ja, einen Menschen …
Damit sind wir bei einer Crux angelangt. Der Protestantismus hat diesen Fehler bereits begangen, indem er „den Menschen“ in den Vordergrund der Religion spielte. Es verwundert nicht, dass sogar prominente Vertreter weder an Auferstehung, noch an Gottessohnschaft glauben. Im Hinblick auf das diesjährige Jubiläum eine Katastrophe für Luthers Erben. Von neopaganen Verirrungen, wie einer Reise zur Datumsgrenze, wo man mit einer „Zeremonie“ den „Sonnenaufgang“ begrüßt, möchte ich hier nicht anfangen. Aber es sind dies die Symbole und Symptome unserer Zeit.
Der Katholizismus hat Zeit seines Bestehens die Devise gewählt, sich nicht der Zeit oder den Moden zu unterwerfen, sondern sein Programm – das heißt nach eigenem Verständnis: das Programm Christi – zu fahren. Dazu bedarf und bedurfte es klarer Regeln. Ein Grund, warum die katholische Erneuerung ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts so erfolgreich war und die Rekatholisierung Erfolge feierte. Möglich, dass dies auch autoritäre Ausläufer hatte, besonders bezüglich der Zentralisierung auf Rom hin und einer teilweise unerbittlichen Durchsetzung der Lehrmeinung. Sie sicherte aber eben auch zu, dass es nach Luther, Calvin und den anderen Persönlichkeiten des Reformationszeitalters keine Auflösungserscheinungen, keine Verwirrungen, keine großen Abspaltungen gab. Nicht nur aus historischer Perspektive war dies ein enormer Erfolg, sondern auch aus jener der der zeitgenössischen Kurie.
Eine Legende dazu: darauf angesprochen, ob denn die Gegenreformation so ein Erfolg war, wenn viele einst katholische Gebiete immer noch protestantisch seien, erwiderte der Papst, dass Gott der Kirche dafür eine ganze Neue Welt geschenkt hätte (womit Südamerika gemeint war).
Dieses Erfolgsrezept ist anscheinend aufgegeben worden, ansonsten hätte der in der Tagespost erschienene Artikel keinerlei Substanz. Es geschieht genau das: Rom gibt keine klare Linie vor, und stiftet damit selbst Chaos. Aus welchen Gründen? Ich mag nicht spekulieren. Doch bereits die Titulierung von Muslimen als „Brüdern“ durch Franziskus, das Laissez-faire in vorher umkämpften Glaubensfragen und andere Liebäugeleien in Richtung Zeitgeist wecken ungute historische Erinnerungen. Nicht nur in verschwörungstheoretischen Kreisen redet man von einer Weltreligion der Beliebigkeit, bei der für jeden etwas dabei ist, und die möglich geschmeidig jeden empfängt.
Ist es ein Zufall, dass wir wieder Assoziationslinien mit Rom ziehen können? In seinem Gedanken an endlose Expansion und der faktischen Gründung eines Weltreiches, das zumindest in seinen Territorien „die Welt“ war (davon ausgehend, dass die parthische, indische, und sinosphärische eine jeweils eigene bildeten), damit also Vorläufer eines möglichen Weltstaats, hatte Rom auch seine ursprüngliche Religion immer weiter angepasst und aufgrund vielgepriesener Toleranz auch geändert. Dies begann zwar schon in den Tagen von Veji, als die Römer nach dessen Eroberung auch die dortigen Patrone ins Pantheon eingliederten; doch kann dies vielleicht im latinisch-italischen Kreis noch als „naher“ Religionskreis, also quasi Eingliederung konfessioneller Art gelten. Differenzen mit griech. Göttern gab es zwar mehr, als man vielleicht vermutet – man denke an den Kontrast Chronos/Saturn – aber auch deren Eingliederung oder Interpretation ist kaum vergleichbar mit jener kultischen Welt des Orients.
Schon die alten „Konservativen“, wie Cato, hatten diese Aufgabe der „alten Religion“ kritisiert, doch es machte das Regieren de facto erheblich einfacher. Aber kann es Zufall sein, dass mit dem Niedergang des ursprünglichen altrömischen Kultes und dessen Verwässerung in einem Sammelsurium pantheistischer Gleichgültigkeit, nicht auch jenes Aufsprießen neuer, sektenartiger Religionsgemeinschaften begann? Der Mithras- und der Kybele-Kult nur als zwei Beispiele (böse Zungen würden das Christentum freilich dazu gesellen). Später musste der Kaiserkult als bindendes Glied gelten – Verherrlichung der Person, aber letztendlich auch des römischen Staates per se als Einheit des Ganzen.
Kurzum! Der Gedanke einer „One World Religion“, deren Ziel die Aufnahme anderer Kulte war (römische, religiöse Toleranz) hat sich am Ende ganz destruktiv auf die Ursprungsreligion ausgewirkt, zu deren Zersetzung, dann Auslöschung geführt, an deren Stelle neue, esoterische Konzepte traten. Nicht Einheit, sondern Zersplitterung und Auflösung war die Folge. Diese religiöse Verwirrtheit von Gruppen, Familien, womöglich Individuen ab dem 1. Jahrhundert, dürfte reziprok wiederum die Affinität zu „verlässlichen“ Doktrinen geweckt haben – im Allerlei suchten die Menschen Sinn, etwas Außergewöhnliches, nicht-Austauschbares, Beständiges, Dogmatisches. Der Siegeszug des Christentums dürfte auch so zu erklären sein.
Bleibt die Frage, welche Zukunft sich die jetzigen Statthalter Roms wünschen.
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