Freitag, 3. Oktober 2014

Vor vierzig Jahren

... also am 3. Oktober 1974, starb bei München hochbetagt die deutsche Dichterin Ina Seidel. Ob die ihr von Wikipedia unterstellte Nähe zum Nationalsozialismus wirklich so groß war, bleibt fraglich, auch wenn der Artikel diesbezüglich ein — atypisch süffisantes — Bonmot von Werner Bergengruen zitiert (er nannte sie wegen einiger Glückwunschgedichte zu Führergeburtstagen in Anspielung auf ihren Bestseller »Das Wunschkind« das »Glückwunschkind«). Doch Ina Seidel hat Glück: da sie Frau ist, gerät sie posthum in ein feministisches Biographie-Forschungsprojekt, und da wird über sie bspw. zusammengetragen, was Victor Klemperer in seinen Tagebüchern über sie zu schreiben wußte:
Mittwoch 28 Juni 44 Mittags.
[...] Cohns brachten ein dickes Buch, das ich oft nennen gehört u. immer – ich weiß nicht weshalb – für reine Unterhaltungsware gehalten habe: Das Wunschkind von Ina Seidel. Ich sagte mir, wenn ein Wälzer von über 1000 Seiten, 1930 erschienen, es auf 350 000 Exemplare gebracht habe, dann müsse er irgendwie charakteristisch für das Denken seiner Zeit sein. Woraus ich die Berechtigung vor mir selber schöpfte, den Band zu lesen. Urteil, vorläufiges, nach den ersten 100 Seiten: ungeheuer charakteristisch für die Blutromantik, für die Relation Romantik – Materialismus-Rasse-Sippe. Fraglos eine bedeutende u. interessante, wenn auch mir persönlich wenig zusagende Leistung. Stil scheint mir auf Ricarda Huch hinzuweisen. Klassische Form für romantische Entgrenzung u. Entgeistigung in Natur u. Blut.
Sonnabend Vorm. 1. Juli 44.
Der innere Vorwurf, nun schon seit Tagen nur einen abseitigen Roman zu lesen, ist verstummt: auch die LTI wird aus dem Wunschkind Nahrung ziehen. Ich werde immer wieder an Ricarda Huch erinnert; aber die etwas unnahbare Würde der Huch fehlt; alles ist ebenso klassisch, ebenso hoch über dem Alltag u. seiner Sprache, u. dabei doch wärmer, menschlicher, näher, natürlicher. Übrigens ein Stilkunstwerk, modern u. doch 18ième, historisch ohne antiquiert u. gemacht zu klingen – nur, ein dutzendmal wiederkehrender Fehler – sollte es in der Sprache von 1792 bis 1813 nicht immerfort letzten Endes für schließlich heißen. [...]
Der aus »Rassegründen« entlassene Romanistik-Professor Victor Klemperer, dessen auf diesem Blog bereits (und wegen seiner späteren SED-Funktionen nicht unkritisch) vor einiger Zeit gedacht wurde, war viel zu sehr Literaturexperte, als daß er selbst in seiner durch die Nazis bedrängten Lage nicht gute von schlechter Literatur zu unterscheiden gewußt hätte. Und sein knappes Urteil (aaO, 7f.)
Neben die religiöse Seite der Romantik (Sehnsucht, Natur, Naturwissenschaft, Ahnung, Kirchen) tritt die politische: von Napoleon zu Preußen-Deutschland. Auch hier Toleranz u. Geistigkeit: die platonische Idee Deutschland, aus Süden u. Preußen gemischt u. abstrahiert, in Christoph verkörpert. Auch hier aber die Gefahr des Abgleitens ins Blut. So liegen die Dinge 1930 bei einer innerlich reinen Dichterin. Von hieraus ist zu ersehen, was der Natsoc. erbt, u. wie er das Erbe herunterzieht, vom Geist zum Blut, zum Materialismus, zur Versklavung, zur Lüge. 
ist sicherlich zutreffend. So wird Ina Seidels literarisches Erbe über ihren Tod hinaus heruntergezogen von ihrer sicherlich naiven Annäherung an Hitler und seine Ideologie. Daß sie selbst von einem ganz anderen Menschenbild geprägt und durchseelt war, ist jedem, der sich die Mühe macht, auch nur ein einziges ihrer Werke durchzulesen, völlig klar! Ricarda Huch war weniger naiv — übrigens auch weniger naiv als Klemperer (um dessen Karriere nach 1945 positiv zu deuten!), denn sie entzog sich durch ihre Emigration in die Westzonen der Vereinnahmung durch stalinistische »antifaschistische« Kulturfunktionäre!

Seidel hat einige Gedichte von schlichter, bezwingender Schönheit geschrieben. Vielleicht mir nicht ganz so nahe, als daß ich sie in meine Serie als »Hundert notwendige Gedichte« aufnähme — obwohl: eines ist darunter, bei dem ich es mir vorstellen könnte:
Der Ahorn

Ich werde den Ahorn wiederfinden.
Einmal am Ende der Tage
Wird es sein, daß ich zu ihm sage:
Ahorn, wo warst du so lang?


Er ist alt und selig geworden,
Er nimmt mich in seine Äste,
Er wiegt mich im herbstlichen Neste:
Kind, wo warst du so lang? 
Wo war sie so lang ... ...

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