Donnerstag, 22. Dezember 2016

Bedeutende Menschen

... sind auch in ihren Irrtümern, und trotz ihrer Irrtümer bedeutend. Der Praeceptor Germaniae, als welchen ihn Thomas Mann einst gepriesen (und später schamhaft verleugnet) hat, Paul de Lagarde, Orientalist und selbstbekundeter "Prophet Deutschlands", ist so ein Fall. Aus Anlaß der 125. Wiederkehr seines Todestages sei an einen im wahrsten Sinne des Wortes "eigenartigen" Geist erinnert, an den sich heute keiner erinnern mag.
Paul de Lagarde stammt in männlicher Linie aus einer Familie Boetticher, die weitverzweigt im Braunschweig-Lüneburgischen, in Preußisch-Sachsen und in der Mark saß. Seine näheren Vorfahren wirkten fast hundertfünfzig Jahre hindurch als Pfarrer an den Grenzen der Altmark und des Herzogtums Braunschweig. Sein Großvater soll freilich nur wider seinen Willen Geistlicher gewesen sein. Er wird als heftig und leidenschaftlich, ja zornsüchtig geschildert, zugleich voll Energie und Trägheit. Seine Ehe war unglücklich; eine Disziplinaruntersuchung führte dazu, daß er aus seinem Amt entfernt wurde. Gewisse krankhafte Züge an Lagarde gehen wohl auf diesen Ahnen zurück.

Sein Vater Johann Friedrich Wilhelm Boetticher (1798 bis 1850) verband mit der Theologie humanistische Wissenschaft (klassische Philologie). Er wirkte als Lehrer am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium zu Berlin . In ihm sollen sich schon die Grundzüge von Lagardes Wesen gezeigt haben: unbestechliche Charakterfestigkeit, opfermutige Hingabe an Wahrheit und Leben, heißblütige Frömmigkeit, strengste Gewissenhaf-tigkeit, unbändiger Fleiß, ausgebreitete Gelehrsamkeit, vor allem aber eine glühende Vaterlandsliebe. Im Jahre 1825 hatte er sich mit Luise Klebe verheiratet, der Tochter des Ökonomiekommissars Klebe in Berlin, deren Familie (nach Lagarde) wohl aus Cleve eingewandert war; ihr Name Klebe leitet sich von Cleve ab. Mütterlicherseits entstammte Luise Klebe der Familie de Lagarde.

Diese waren ursprünglich in Metz ansässig. Sie betrieben die Gerberei, waren angesehen und wohlhabend, aber nicht adlig; ihr Name stammt wohl von einer in Metz an der Mosel hin führenden Wallstraße (rue de la garde). wie die meisten Angehörigen der sog. »französischen Kolonie« in Berlin waren die Lagarde um ihres protestantischen Glaubens willen 1634 aus Frankreich vertrieben worden, von einem der Lagarde soll Friedrich der Große gesagt haben: »Mein Nachbar Lagarde und ich sind die fleißigsten Menschen in Preußen.«

Luise Klebe hatte aus ihrer Ehe mit Wilhelm Boetticher zwei Kinder: ein Töchterchen Marie, das 1826 geboren wurde, aber schon in demselben Jahre starb, und Paul, geboren am Allerseelentage 1827 in Berlin im Hause Kochstr. 13. Schon am 14. November starb seine Mutter, kaum neunzehnjährig. Sie soll von lieblichem Wesen und reichem Gemütsleben gewesen sein. Des mutterlosen Knaben nahmen sich in den ersten Jahren zwei Tanten seiner Mutter an: Eleonore Klebe und Ernestine de Lagarde. Von dieser, die ihn später adoptierte, übernahm er auch den Namen. Von der ersteren erzählt Lagarde: »Sie pflegte nach dem Tode ihrer Nichte Luise bis zur Wiederverheiratung des Witwers deren Sohn, dem sie auch später von ihrer Armut zuliebe tat, was sie vermochte. Das erste Material für seine persischen Studien hat sie ihm geliefert. Sie starb am 18. Juni 1861 zu Berlin (geb. 1778), noch auf dem Sterbebett in ihrer tiefsten Armut mit ihren 83jährigen langen weißen Haaren, der großen Hakennase und den kleinen scharfblickenden blauen Augen eine Erscheinung, die an das alte deutsche Heidentum erinnerte, von dem ihr Großneffe ein gutes Stück in sich trägt.«

Im Jahre 1831 verheiratete sich Lagardes Vater, Wilhelm Boetticher, wieder, und zwar mit Pauline Segert, der Tochter eines angesehenen Berliner Arztes. Ein Töchterchen aus dieser Ehe war für Paul eine zärtlich geliebte Gespielin; es starb freilich schon im dritten Lebensjahr. Auch zwei Knaben gingen aus dieser Ehe hervor; mit dem jüngeren der beiden Halbbrüder war Paul in inniger Freundschaft verbunden bis zu dessen Tode im Jahre 1885. Von seiner Stiefmutter hat er später bezeugt, daß sie ihm »eine sorgsame Mutter gewesen, und daß ihre milde Reinheit, die Schlechtes gar nie für möglich hielt, in ihren letzten Lebensjahren, nachdem ein schwerer Druck von ihr genommen worden, wieder in ihrer ganzen Liebenswürdigkeit hervorgetreten sei«.

Dieser »schwere Druck« ging von der religiösen Entwicklung des Vaters aus. Er war – wie Lagardes Frau in ihren »Erinnerungen« erzählt – ursprünglich nicht nur »eine grundtüchtige, aufs Ewige gerichtete, sondern auch eine frische, allem Schönen und Edlen zugängliche Natur« gewesen. Er hatte sich zunächst der frei-geistigen Auffassung des Christentums, wie sie Schleiermacher vertreten hatte, angeschlossen, er hatte als junger Lehrer am Pädagogium in Halle mit Begeisterung Musik getrieben, hatte Goethe und Shakespeare geschätzt. Mehr und mehr hat sich nun seine Religiosität in der Richtung einer engherzigen, äußere Kirchlichkeit überschätzenden Orthodoxie entwickelt. »Der Sohn hat vom Vater neben der Unbestechlichkeit des Charakters den Sinn für Religion mitbekommen, aber dieser bei beiden die Grundlage fürs Leben bildende Sinn für Religion hat sich bei beiden in gerade entgegengesetzter Weise ausgebildet: traurig, krankhaft, alles um sich herum verkümmernd bei dem Vater, kräftig, gesund und Frucht tragend bei dem Sohne.«

»Jene stetig zunehmende ungesunde Religiosität verdunkelte das Haus mehr und mehr: dem Hausherrn ging allmählich der Zusammenhang mit dem praktischen Leben völlig verloren, und auf die ganze Familie legte sich ein Druck, der jede freie Bewegung hemmte, jede unbefangene frohe Regung erstickte. In solcher Atmosphäre gedeiht kein Mensch: Lagarde bezeichnet sich selbst als einen in ihr krumm gewachsenen Baum, an dem keine Freude zu haben sei.«

In ihm lebte ursprünglich ein tiefes Bedürfnis, geliebt zu werden – so trauerte er zeitlebens der so früh verstorbenen Mutter nach –; und selbst zu lieben und zu verehren war geradezu Lebensbedingung für ihn. Dem entsprach in keiner Weise der vom Vater beherrschte Geist des Hauses. Nur wiederholte Besuche bei Brüdern des Vaters, die auf dem Lande lebten, waren Lichtpunkte in Pauls verdüsterter Jugend. In der Schule war er allen voran, aber auch hierfür hörte er vom Vater nie ein Wort der Anerkennung. Außerordentlich knapp hielt dieser ihn auch während der Studienzeit. Durch Lesen von Korrekturen verdiente sich Paul etwas Geld; manche notwendigen Bücher schrieb er sich ab, um sie nicht kaufen zu müssen, und zwar – wie seine Frau erzählt –, »um Papier zu sparen, auf so engen Linien und mit so winzigen Buchstaben, daß es mich schmerzte, die Blätter nur anzusehen, zumal bei dem Gedanken, daß dies alles mit den armen Augen hatte geschehen müssen, deren Schwäche z. B. den Militärdienst ausschloß«.

»Unterstützungen und Stipendien, die als Anerkennung und zur Aufmunterung seines Fleißes dem Jünglinge zufielen, nahm ohne weiteres der Vater an sich, um sie diesem oder jenem frommen Hause oder Menschen zuzuwenden.« Die einzige Erholung während und nach der Studienzeit war für Paul, täglich in einer Abendstunde, während der Vater ausgegangen war, auf dem Klavier zu spielen, das – um der Hausandachten willen – vorhanden war. Seine Neigung für Musik wie auch seine Begabung dafür war groß. (Für seine Frau gab es später »nichts Ergreifenderes und zugleich Beruhigenderes, als ihn phantasieren zu hören«.)

Je mehr Paul auch wissenschaftlich heranreifte, um so mehr vertiefte sich der Gegensatz zum Vater. Dieser war »ein tüchtiger Kenner des Griechischen und Lateinischen, ein angesehener Lehrer beider Sprachen in den oberen Gymnasial-klassen; aber er war nicht zu bewegen, wo es sich um Feststellung einer falschen Übersetzung bei Luther oder sonst um einen Streitpunkt über biblische Bücher handelte, die Vergleichung mit dem griechischen Texte auch nur zu versuchen. Das begriff der Sohn nicht; zu einer solchen Beschränktheit des Blickes hatte in seinen Augen der Vater mit seinem Wissen und Können kein Recht: während umgekehrt der Vater im Sohne nur ein ungehöriges Pochen auf sein Wissen und Können, einen gänzlichen Mangel an Ehrerbietung und Demut sah«.

Jahre hindurch ward an den Sonntagabenden offenes Haus gehalten. Der Vater sah mit Befriedigung auf die sich um ihn versammelnden frommen Seelen: während nicht nur der älteste (Paul), sondern sogar schon der noch recht jugendliche und harmlose jüngste Sohn zu bemerken glaubten, vielen dieser Andächtigen säße die Seele im Magen, und an den – bewußten und unbewußten – Heuchlern Anstoß nahmen. Der Vater durchschaute in seiner eigenen Reinheit solche Heuchelei und Liebedienerei nicht, sie mochte noch so augenfällig sein; jeder Hinweis auf dergleichen reizte ihn und bewies ihm von neuem den Hochmut des Sohnes, zu dem auch der Jüngste mit verführt werden sollte.

Vertieft wurde endlich noch der Konflikt durch die politischen Ereignisse des Jahres 1848. Im Gegensatz zu dem starren reaktionären Konservatismus des Vaters bildete sich Paul damals die Anschauungen, die er 1853 in einem Vortrag und 1884 in seinem »Programm für die Konservative Partei Preußens« dargelegt hat.
Wer Paul de Lagardes Schriften gelesen hat (und das lohnt sich durchaus, auch und gerade wenn man mit Inhalt und Tendenz nicht übereinstimmt!), der wird seine Abstempelung zum "Wegbereiter und geistigen Ahnherrn des Nationalsozialismus' in Deutschland" recht platt und kurz gegriffen finden. Und in der Tat: allmählich scheint eine differenziertere Betrachtung (natürlich mit allen denkbaren Kautelen abgesichert) Platz zu greifen. Konnte DieZeit 2007 noch vollmundig "Misanthrop und Judenhasser" dahinschreiben, so zeigt eine Rezension zu Ulrich Siegs Buch Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, im selben Jahre erschienen, schon einige Nuancen, die früher durch die Nazi-Keule plattgemacht zu werden pflegten.

Nicht, daß LePenseur die Gedankenwelt Paul de Lagardes besonders nahestünde: aber man vertieft seine eigenen Anschauungen nicht durch die Lektüre "immer desselben", sondern nur durch die des "ganz anderen" ... 


1 Kommentar:

Kreuzweis hat gesagt…

Danke für den Lektürehinweis!
"De Lagarde" war mir noch kein Begriff und nun werde ich mich - "moderner Antisemit" aus dem Munde der heutigen Minusmenschen ist mir eine zusätzliche Empfehlung - nach seinen Schriften umsehen.

"Antisemitismus"-Ruferei weckt bei mir meist automatisch den Verdacht, einen Denkbehinderten vor mir zu haben. Abgesehen davon, daß der Begriff als solcher bereits eine begriffliche Lüge ist (wie z.B. Verfassungsgericht in der brd), treffe ich äußerst selten jemanden, der von den geistigen Grundlagen des Judentums auch nur einen Schimmer hat.
Diese Spezies soll der jüdische Mitbürger (den ich übrigens sehr schätze) Heinrich Heine so beschrieben haben: "Der Deutsche glaubt die Juden zu kennen, allein weil er deren Bärte gesehen hat."