Donnerstag, 16. Juni 2022

Bruckners Vierte in der Erstfassung von 1874

Gastkommentar
von Bernhard Zlabinger
 
 
Irgendein witziger Zeitgenosse, vermutlich aus angloamerikanischen Gefilden, hat in etwa geschrieben: Wäre Bruckner noch am Leben, so hielte er heute bei seiner Symphonie Numero 51 — und bei der ungefähr 48. Fassung der Vierten.

Die Vierte zählt bekanntlich zu Bruckners beliebtesten Werken. Während seines realen Lebens brachte es Bruckner auf immerhin drei Fassungen der ersten drei Sätze und sogar vier Fassungen des Finales. Die Urfassung wurde 1874 geschrieben, bereits in den Folgejahren sukzessive überarbeitete und schließlich 1878 durch die sogenannte 2. Fassung ersetzt. Uraufgeführt wurde sie erst ungefähr hundert Jahre nach ihrer Entstehung, nämlich am 20.9. 1975 in Linz durch Kurt Wöss und die Münchner Philharmoniker (und zwar ziemlich schlecht). Insgesamt ist die Vierte von 1874 mit 2.322 Takten die längste aller Brucknersymphonien, was die Anzahl der tatsächlich gespielten Takte betrifft (dh dass das Scherzo-Da capo doppelt zu zählen ist, wodurch die gleichfalls sehr lange „Ur-Dritte“ von 1873 ob ihres kurzen Scherzos ihren „partiturmäßigen“ Vorsprung verliert).

Die Musikwelt bevorzugt seit langem die durch eine weitere Umgestaltung des Finales aus dem Jahr 1880 erweiterte Zweitfassung. Wobei „Fassung“ nicht in allen Fällen das richtige Wort ist: Das Scherzo der Erstfassung ist komplett verworfen, ausgetauscht respektive neukomponiert worden. Man kann sagen, dass es mit jenem berühmten „Jagdscherzo“ von 1878 der Zweit-(und Dritt-)Fassung keine einzige Note gemeinsam hat. Aber auch die anderen Sätze haben gravierende Veränderungen erfahren, wobei immerhin das thematische Material über weite Strecken gleich bzw ähnlich geblieben ist. Zumindest in den ersten beiden Sätzen: im Finale wurde in etwa die Hälfte der Themenkomplexe von Grund auf neu geschaffen, Reprise und Coda bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Am wenigsten war noch der Kopfsatz betroffen, obschon dieser 1874 sowohl mikro- als auch makro-strukturell – gemeint: in periodischer, satztechnischer beziehungsweise in großformaler Hinsicht - ungleich wilder und „unberechenbarer“, man kann auch sagen: reichhaltiger organisiert erscheint, je-doch in seinem substanziellen Verlauf sich letztlich nicht allzu sehr von den Spätfassungen unter-scheidet.

Hingegen stellt der langsame Satz gegenüber den Spätfassungen eine eigenständige Komposition auf identischer thematischer Grundlage dar. Besonders originell ist die ekstatische Höhepunktgestaltung mit technisch sehr schwierigen Streicherfigurationen.

Das äußerst eigenwillige "Ur-Scherzo" besteht aus einem Wechselspiel zwischen einsamen Hornrufen und stetig anwachsenden Klangkontinua, in welchen duolische und triadische rhythmische Muster überlagert werden. Wie bei Bruckner üblich, ist es in monothematischer Sonatensatzform gehalten, wobei die Satzhöhepunkte am Ende von Exposition und Reprise eintreten. Die Durchführung sorgt für vielerlei Überraschungen, lässt jedoch im Wesentlichen die Entwicklungsansätze ins Leere laufen. Von erlesener melodischer und klanglicher Schönheit ist das Trio, das ebenfalls in metrisch-rhythmischer Hinsicht komplex gestaltet ist, jedoch anders als das robuste Scherzo von leichtem, gleichsam schwebendem Charakter ist.

Das 1874er-Finale ist der vielleicht komplexeste und erstaunlichste, sicher jedoch der rhythmisch experimentellste Satz in Bruckners gesamtem Oeuvre. Hier wird die metrische Grundidee des symphonischen Zyklus, gerade und ungerade Rhythmen gegeneinanderzustellen bzw zu kombinieren, gleichsam auf die Spitze getrieben. Allerdings geht es hier nicht mehr ausschließlich um das relativ einfache Zahlenverhältnis 2:3 (den sogenannten Bruckner-Rhythmus, der in den vorangegangenen Sätzen in diversen Spielarten aufgetreten ist). Über weite Teile der Faktur treten im Vierer-Takt quintolische Muster auf, zunächst im ersten Seitenthema Achtelquintolen, dann sogar Viertelquintolen, überlagert mit „gewöhnlichen“ Vierteln, doppeltpunktierten Achteln, und auch Vierteltriolen. 
 
Diese Kumulierungen diverser metrischen Muster verweisen eher auf Ligeti und Lutoslawski als auf Varèse, Bartok und Strawinsky (so gesehen erfolgte die Uraufführung 1975 zur rechten Zeit). Am Ende implodiert das metrische System: die Quintolen umfassen gleichsam die gesamte Faktur – sobald auch die Trompeten den übrigen Bläsern folgend auf Quintolenmodus „umsteigen“, endet das Stück quasi im Fünf-Viertel-Takt. Ein ekstatischer Schluss, der Seinesgleichen sucht, und der mitunter sogar bei Schallplattenaufnahmen in die Hose ging, von der Uraufführung ganz zu schweigen! 
 
Auch wenn natürlich das harmonische Grundkonzept der Kombinierung von Quintfall und Mediantik (Terzverwandtschaften), das sich bereits aus dem berühmten Hauptthema mit der Moll-Sext-Ausweichung ergibt, erhalten blieb und ohne Frage für ausreichende strukturelle Verdichtung sorgt, stellt der Entfall der rhythmisch-metrischen Sinnstiftung von 1874 in den Finalsätzen der Folge-fassungen von 1878 („Volksfest“ genannt), 1880 (der meistaufgeführten) und 1888 doch einen gewissen Verlust dar, den der Komponist vor allem durch ein Mehr an materiellem Aufwand zu kompensieren trachtete. So erfuhren die Themenkomplexe beträchtliche Erweiterungen, vor allem was die mit einem neuen Vorspann versehene Gesangsperiode und (die völlig neu erfundene) Schlussgruppe von 1880 betrifft. Hinsichtlich des Hauptthemenkomplexes wurde die höchst originelle „Regenwetter-Musik“ des Beginns durch jene berühmt gewordene romantisch-düstere Dämmerstimmung ersetzt. Auch die Instrumentation wurde mehrfach erweitert und insgesamt prächtiger gestaltet.

Die Umarbeitungen sollten laut Bruckners überlieferter Äußerung an einen deutschen Musikschrift-steller vor allem die zahlreichen Imitationen eliminieren, die, so Bruckner, bereits etwas Suchtartiges an sich hätten und dem Werk schaden würden — eine Meinung, der ich vehement entgegentreten würde. Aber das war wohl nur ein psychologischer Auslöser, denn die Abänderungen sollten vor keinem Parameter Halt machen. In keinem anderen Fall ist Bruckner derart drastisch vorgegangen. Letztlich muss man ihm sogar recht geben: Die späteren Fassungen legten den Grundstein für seinen Weltruhm, während die Erstfassung seinerzeit technisch unaufführbar und überdies auch für seine wenigen damaligen „Parteigänger“ völlig unverdaulich, sprich unverständlich gewesen wäre.

Heue hingegen sollte dies nicht mehr der Fall sein. Mir sind vier hervorragende Einspielungen bekannt, allen voran Eliahu Inbal (RSO Frankfurt)
 
  
gefolgt von Denis Russell-Davies (Bruckner-Orchester Linz) 
und Simone Young (Hamburger Philharmoniker). Dass es von Bruckners nach wie vor populärster Symphonie eine, zumindest in meinen Augen oder Ohren, ziemlich unbekannte Bestfassung gibt, stellt, wie etliche mit Bruckner in Zusammenhang stehenden Umstände ein faszinierendes Curiosum dar. Unter der Prämisse des Fortbestandes unseres heutigen Kulturbetriebes würde ich der Vierten von 1874 eine grandiose Zukunft voraussagen. 
 

4 Kommentare:

Franz Lechner hat gesagt…

Was ist mit Ihnen los, cher Penseur? So Knall und Fall unter die Brucknerianer gegangen? Noch dazu ein unausgegorenes Werk, dh den Frühzustand eines solchen lobpreisend, von dem sogar die meisten anständigen Brucknerianer nicht viel wissen wollen? Wieder so eine Sch...-Fassung, pflegen Orchestermusiker zu sagen, wenn ihnen der Dirigent so was aufzwingt.
Bin da von Ihren Musikbeiträgen mehr Seriosität gewohnt! Nächstens kriegen wir wohl vom Herrn Zlabinger eine Eloge auf die Nullte zu lesen?

Le Penseur hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Kollege,

da sehen sie eben, wie tolerant ich bin! Ich toleriere sogar einen Gastkommentar über Bruckner ... und noch dazu über eine obskure Erstfassung der "Romantischen", die der Komponist zu seinem und unserem Glück überarbeitet hat ...

Ich werde Kollegen Zlabinger allerdings ersuchen, die Sache nicht zu übertreiben. Jetzt jede Fassung von jeder Bruckner-Symphonie in Zwei-Seiten-Länge erklärt zu bekommen, würde wohl noch den geduldigsten Leser vertreiben ;-)

Franz Lechner hat gesagt…

Ist der Herr pt. Zlabinger vielleicht auch Jurist? Wegen "Kollege"? Und wollen Sie mir jetzt vielleicht sagen, dass Sie die 1878/80er Fassung schätzen oder gar lieben?

Le Penseur hat gesagt…

Geschätzter Collega Lechner,

1. auf diesem Blog spreche ich über meine Co-Autoren, Gastautoren und Gastkommentatoren (inkl. sämlicher *Innen, selbstmurmelnd), ja sogar gelegentlich, wenn ich generös bin, einfaches Kommentarpostervolk wie bspw. Sie ;-) per "Kollege" an.

2. ob der in diesem Sinne "Kollege Zlabinger" Jurist ist oder nicht, mag ich angesichts der beeindruckenden Wortkaskaden seines Artikels bestenfalls zu vermuten, nicht jedoch mit Sicherheit zu bestätigen.

3. als alter Brahmine (als welcher ich mich hinlänglich ausgewiesen habe) kann ich weder der von Kollegen Zlabinger hymnisch gepriesenen 1874we-Fassung, noch der gängigeren 1878/80er-Fassung allzuviel abgewinnen. Ja, ich konzediere gerne: Bruckner war sicherlich ein durchaus bedeutender Komponist. Nicht so bedeutend wie sein Kontrahent im Wiener Musikstreit des 19. Jahrhunderts, aber doch ja, zweifellos bedeutend.

Aber zum Anhhören: da bevorzuge ich halt anderes —muß nicht unbedingt Brahms sein (aber wäre kein Fehler, wenn ...)