Samstag, 7. Mai 2016

Stanisław Jerzy Lec



… (der Name wurde ursprünglich »Letz« geschrieben, und ist auch so auszusprechen) entstammte einer adeligen jüdischen Familie — sein Vater, Benno Letz de Tusch, war Bankdirektor in Lemberg —, und wurde am 9. März 1909 in Lemberg, im damaligen Königreich Galizien der österreichischen Reichshälfte der Donaumonarchie, geboren, lebte ab mit seiner Familie ab 1914 in Wien, das er als seine »zweite Heimat« bezeichnete, und kehrte mit ihr nach dem Ersten Weltkrieg nach Lemberg zurück, wo er 1927-33 Polonistik und Jus (für Piefkes: Jura) studierte, und mit dem Magisterium abschloß.

In den 30er-Jahren arbeitete er an einigen Satirezeitschriften mit und veröffentliche erste Gedichte. Er wurde nach dem deutschen Einmarsch in Polen verhaftet und ins KZ Tarnopol gebracht, aus dem er knapp vor einer geplanten Hinrichtung 1943 entfliehen konnte. Bis zum Kriegsende lebte er im Untergrund in polnischen Widerstandskreisen, und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Presseattaché an der polnischen Gesandtschaft in Wien. Als er 1950 von dort abberufen werden sollte, ging er als Emigrant nach Israel, kehrte aber aus Heimweh schon 1952 wieder nach Warschau zurück.

Mit dem kleinen kulturellen Tauwetter im »polnischen Oktober« von 1955 wurde er in Polen durch seine Aphorismen, die er unter dem Titel »Unfrisierte Gedanken« herausgab, berühmt. Weitere Aphorismensammlungen folgten; ihre Übersetzungen ins Deutsche, insbesondere von Karl Dedecius, machten ihn schließlich weit über die Grenzen seines Heimatlandes bekannt.

Wie würdigt man einen Aphoristiker? Man hat Lec oft als »Lichtenberg des 20. Jahrhunderts« bezeichnet, und er ist der beste Beweis dafür, daß es nicht unbedingt eines vielbändigen Werkes bedarf, um Weltruhm zu erlangen — sein Schaffen fand (abgesehen von einigen Ephemera und Frühwerken) in einem einzigen, locker gesetzten Band von ca. 500 Seiten Platz.

Doch nochmals gefragt: wie würdigt man einen Aphoristiker? Am besten durch eine — obgleich notwendigerweise immer höchst subjektiv bleibende! — Blütenlese seiner »kleinen Weisheiten« (zitiert aus: »Sämtliche unfrisierte Gedanken«, Hanser 1996):

Espen zittern unter jedem Regime. Aber zum Kuckuck! Sie grünen auch unter jedem.
Viele, die ihrer Zeit vorausgeeilt waren, mußten auf sie in sehr unbequemen Unterkünften warten.
Die Fetten leben kürzer. Aber sie essen länger.
Puritaner sollten zwei Feigenblätter vor den Augen tragen.
Man bedenke, daß in demselben Feuer, das Prometheus den Göttern gestohlen hatte, Giordano Bruno verbrannt wurde.
Nun bist du mit dem Kopf durch die Wand. Und was wirst du in der Nachbarzelle tun?
Die künftigen Darwins werden vielleicht eine These aufstellen, daß die hochentwickelten Wesen (zu denen sie zählen werden) von den Menschen abstammen. Das wird ein Schock sein!
Auch wenn Bürger zittern, gibt es Risse in den Grundmauern des Staates.
Politik: Derby trojanischer Pferde.
Auch zur Bewachung von Gedanken verwendet man Eunuchen.
»Gedanken sind zollfrei?« Sofern sie die Grenzen nicht überschreiten.
Umgang mit Zwergen krümmt das Rückgrat.
Auch wer durch den Styx schwimmt, hat Angst vor dem Ertrinken.
Die Wahrheit liegt meist in der Mitte. (Und ohne Gedenkstein.)
Wer Scheuklappen trägt, sollte wissen, daß dazu auch noch Zaum und Peitsche gehören.
Er lachte nur im Geiste — und wenn, dann in dem des Gesetzes.
Große Zeiten können beachtliche Mengen kleiner Menschen beherbergen.
Die offizielle Pflichtsprache ist der beste Knebel.
Die »Schutzhaft« ist eine Erfindung der Nazis. Sie warfen die Juden ins Gefängnis und gaben vor, sie vor dem Volkszorn schützen zu müssen. Genauso werden wir vor den Faschisten geschützt.
Wer den Himmel auf Erden sucht, hat im Erdkundeunterricht geschlafen.
Sage mir, worüber ein Volk lacht, und ich sage dir, wofür es sein Blut zu vergießen bereit ist.
Wenn Könige nackt sind, werfen auch die Lakaien ihre Livree ab.
Erbarmungslos ist des Menschen Selbstzensur; wir kennen nicht einmal die Gedanken, die wir nicht denken wollen.
Marx und Engels waren in der glücklichen Lage, ihr Grinsen hinter Vollbärten verstecken zu können.
Die dritte Seite der Medaille? Die Brust, an der sie hängt.
Über die Echtheit eines Zeitdokuments entscheidet meist das Amtssiegel der nachfolgenden Regierung.

Neben den Aphorismen finden sich in seinem Werk einige (Kurz-)Erzählungen und Gedichte, letztere einerseits zum Beginn seiner literarischen Laufbahn wie auch vor allem in seinen letzten Lebensjahren verfaßt. Aus dieser späten, enigmatisch-epigrammatischen Lyrik zwei Beispiele:

 Noch einmal, ach,
diese Flügel öffnen,
mit denen ich damals
der Erde
nicht entfliehen konnte —
vielleicht
könnte ich jetzt
mit ihnen zur Erde
zurückkehren,
ohne am eigenen Schatten
zu zerschellen,
der unten
noch vor mir
landet.


»Mehr Licht!«
Hatte Goethe gesagt,
doch uns betraf das nicht.
Es war der erste Befehl
des Ministers im Fürstentum
des Ewigen Dunkels.


 Heute vor fünfzig Jahren, am 7. Mai 1966, ist Stanisław Jerzy Lec in Warschau gestorben. Den treffendsten Nachruf auf sich hat er selbst in einen Aphorismus geprägt:


»Ende der Todesanzeige: Er ist nicht tot. Er hat seine Lebensweise geändert.«

1 Kommentar:

Uli07 hat gesagt…

Mein Favorit:

Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.