Gerade noch rechtzeitig, bevor die Heimreise angetreten wird und mich wieder der Orkus meines überfüllten Schreibtisches verschlingt, konnte ich wenigstens einige meiner im letzten Augenblick vor der Abreise noch ins Gepäck gestopften Bücher fertiglesen (oder doch wenigstens so intensiv »durchblättern«, wie sie es mir wert waren).
Angeregt durch das Gedenken an Thomas Manns Todestag nahm ich mir ein weiteres Mal »Lotte in Weimar« vor — jenes Werk, das ich schon bisher als das für mich »lesbarste« dieses Autors ansah. Und dennoch — was hätte man aus dieser Idee machen können, und was machte Mann daraus … … es ist (bei aller Qualität des Resultats, die nicht verschwiegen sei) zum Weinen! Auf weite Passagen, will mir scheinen, kombiniert Mann die Untugenden dreier großer Romanciers, die seiner schriftstellerischen Wiege Pate standen: Gustav Freytag, Wilhelm Raabe und Theodor Fontane: die Pedanterie Freytags mit endlos verschnörkselter Verschrobenheit Raabes, und inhaltsarm dahinplätschernden Unterhaltungen Fontanes. Was wäre eine »Lotte« geworden, die die Vorzüge dieser drei vereint hätte? Die geradlinige, klug disponierende Kompositionstechnik Freytags (Manns »Lotte« hält sich — wenigstens nach meinem Dafürhalten — viel zu lange mit den Präliminarien auf) mit dem still lächelnden, wehmütig-verständigen Humor Raabes und leichtfüßig dahingetupfte Dialoge, bei denen es letztlich piepegal ist, was die Leute sagen, weil das wie ihrer Ausdrucksweise so fesselnd, so treffend charakterisierend und illustrierend ist, daß ein nur vage abschließendes »nun«, gefolgt von drei Punkten, oft mehr im Leser nachschwingen läßt, als die altfränkisch verschachtelten Perioden Mann’scher Stilistik.
Seit langem auf meinem Leseprogramm standen Harry Graf Keßlers (den die Ausgabe des Inselverlags und Wikipedia hartnäckig zu einem »Kessler« machen — ich halte mich da doch lieber an Meyers Enzyklopädie) »Tagebücher 1918 bis 1937«, die auf über achthundert — freilich taschenbuchformatigen — Dünndruckseiten die letzten zwei Jahrzehnte dieses kultivierten, weltläufigen Mäzens, Kunstsammlers, wichtigen Inspirators und Kooperators Hugo von Hofmannsthals etc. etc. Revue passieren lassen. Teils faszinierende Lektüre, teils erschütternd zu lesen, wie sehr selbst so ein Weltmann, von Beruf Diplomat (deutscher Gesandter in Polen 1918-21, danach im Auswärtigen Amt, und bspw. in der Delegation bei Genua und Rapallo), von seiner Herkauft aus einer Bankiersfamilie mit Menschen, Welt und Wirtschaft nicht unvertraut, Gardeulan, aber ohne altadelige Borniertheit (erst der Vater wurde geadelt und bald darauf in den Grafenstand erhoben) — wie so ein Mensch also trotz vieler ungemein klarsichtiger Kommentare zur politischen Lagen teilweise so … … man kann nur sagen: naiv den Gang der Ereignisse beurteilt, und in diesem seinem Urteil so sehr von Zeitströmungen und Illusionen abhängt. Etwa, wenn er unter dem 8. März 1933, auf dem Weg von Frankfurt nach Paris, bemerkt:
Im Saarbrücker Abendblatt stand ein Artikel, in dem ein gewisser v. Leers die Nazi-Politik gegen die Arbeiter definiert. Sie geht darauf hinaus, aus Deutschland eine wirkliche Heimat für die deutschen Arbeiter zu machen, a land fit for heroes to live in. In Wirklichkeit kann es sich dabei nur um einen neuen Gimpelfang handeln, ein Wiederaufleben des patriarchalisch für seine Arbeiter sorgenden Herrn im Hause, der Arbeiter mehr oder weniger gehätschelt, aber wie ein minderjähriges Kind ohne Selbstbestimmungsrecht. Also nie und nimmer eine »Links-Politik«, deren Wesen eben das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen ist, nicht seine Stallfütterung.
Bei den letzten Worten fragt man sich: hat der Mann die Entwicklungen in Rußland seit 1917 verschlafen? Ist ihm Mexiko — über das er 1898 immerhin ein einfühlsames, faszinierend zu lesendes Reisetagebuch veröffentlicht hatte —, seine Geschichte und Geschicke danach, insbesondere seit der linken Revolution ganz am Ohr vorbeigegangen? Daß ein welterfahrener Diplomat die emanzipatorischen Tiraden der Linken für bare Münze nimmt, wirft ein Schlaglicht in die Abgründe und die innere Haltlosigkeit seiner Zeit- und Standesgenossen, die die Gefahren teils von links und teils von rechts sahen — aber leider ebenso falsch einschätzten. Nicht nur die Hitlers (und vorher die Clemanceaus et al. — man denke an das geistvolle Bonmot der Lady Astor, daß Hitlers Geburtsort Versailles wäre), auch die Keßlers stehen an der Bahre Deutschlands — letztere händeringend und bedauernd, und doch nicht unschuldig an dem nun folgenden ...
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