Mittwoch, 7. Februar 2024

Eindrücke eines Exilwieners von seiner Heimatstadt (Teil II)

 von Helmut


Soziale Eindrücke und Gespräche mit Wienern:

Tagsüber ist genügend Leben auf den Straßen, auch auf den traditionellen Lebensmittelmärkten, aber wenn es einmal auf 21 Uhr zugeht, dann bekommt man das Gefühl, dass man eigentlich die Gehsteige hochklappen könnte. O.k., es war z.B. an einem Mittwoch, also unter der Woche, als ich diese Beobachtung machte. Es war die Gegend um die Landstraßer Hauptstraße, Rochusgasse, etc. In einem Lokal in der Nähe vom bereits geschlossenen Markt sah man durchs Fenster ein paar Leute sitzen, die sich in ruhiger Form unterhielten, aber irgendein Lokal mit Musik, oder einen Musikklub im Keller mit Livemusik, - tote Hose. Gerade in der Rochuskirche saßen auch zu später Stunde ein paar Leute drinnen, ansonsten bekam man den Eindruck einer aussterbenden Stadt.

Möglicherweise gibt‘s da noch Angebote im Zentrum des 1. Bezirkes, Herrengasse usw., aber ich habe ein Lokal, das von ca. 10 Lokalen im Internet in dieser Richtung angepriesen wurde, aufgesucht, um festzustellen, dass dort auch nur eine Handvoll Leute drinsitzen und man mir unter Bedauern mitgeteilt hat, dass diese angepriesene Musikunterhaltung nur an den Wochenenden stattfindet.

Das war in meiner Jugendzeit anders, - wie so vieles andere auch. Da gingen wir auch unter der Woche in die Disko oder sonst wohin, wo Musik war. Ob das mit der Jahreszeit zusammenhängt oder damit, dass die Bewohner der Stadt überaltert sind, und die jüngeren Leute im täglichen Hamsterrad drinstecken und für nichts mehr Zeit (oder auch Geld) haben, - ich weiß es nicht. Wenn ich mir den Ballkalender für Januar und Februar 2024 ansehe, dann fällt auf, dass die meisten Bälle nur mehr am Wochenende stattfinden, nur sehr selten mal ein Ball an einem Donnerstag oder an einem Dienstag.

In meiner Sturm- und Drangzeit fanden in der Ballsaison in Wien täglich (auch unter der Woche) mehrere Bälle statt, - es war für uns immer eine körperliche Meisterleistung, um 20 Uhr den ersten Ball zu besuchen (da bezahlte man den Eintritt), dann um 23 Uhr zum zweiten Ball zu wechseln (ab 23 Uhr wurde kein Eintritt mehr verlangt), und um 2 Uhr früh ging‘s zum dritten Ball. Die Schwierigkeit bestand für uns Jungvolk hauptsächlich darin, am darauffolgenden Morgen bei der Arbeit die verlangte Leistung abzuliefern und dabei die Augen offen zu halten. Aber wir haben‘s immer hingekriegt.

Am Abend war ich am Gürtel in einem Lokal, in dem man zentimeterweise seine Bestellung aufgeben konnte (der Wiener weiß, welches Lokal ich meine). Preise o.k., auch die Qualität der Speisen, und auch das Ambiente war ansprechend, Bedienung höflich und kompetent. Gemäß meinem Naturell gehe ich immer auf die jungen Leute zu, - da saß eine Gruppe am Tisch, - Burschen und Mädchen. Ich suchte das Gespräch, um herauszufinden, wie sie sich fühlen, wie sie die Stadt sehen und auch ihre Zukunft.

Was mich gefreut hat, das war vor allem die Offenheit, die Bereitschaft, mitzudenken und auch die Freundlichkeit im Gespräch. Irgendwie kam ich auf die Frage, ob sie denn keine Eltern oder Großeltern haben, die ihnen von früher erzählt haben, wie das Leben in den 60er und 70er Jahren hier war und welche Zukunftsvisionen sowie Einkommensverhältnisse damals existierten.

Und genau an diesem Punkt erkannte ich das prinzipielle Manko. Nicht nur, dass das Geschichtswissen bei den jungen Leuten eindeutig im Argen liegt, sondern auch die Neugier, wie es denn früher einmal war, bei der älteren Generation abzufragen, - das wird nicht praktiziert. Ich dagegen habe mit 16 Jahren bereits begonnen, die verschiedensten Personen (bekannte und auch mir weniger bekannte) danach auszufragen, wie das denn in der Zwischenkriegszeit und im 2. WK war.

Die Palette meiner Gesprächspartner ging vom KZ-Insassen bis zum SS-Mann, und ich profitierte von den Erzählungen der Erlebnisgeneration. Sehr beeindruckt hat mich damals das Gespräch mit dem damaligen Leiter der Arisierungsbehörde in Wien, und wie er mir von den moralischen Diskrepanzen erzählt hat, wenn er einen hochverdienten und kriegserfahrenen Offizier des 1. WK aus der deutschen Wehrmacht aussondern sollte, weil da irgendeine jüdische Oma im Stammbaum drin war. Oftmals ging er das Risiko ein, derlei Dinge zu umgehen, weil er personelle Nachteile für die Wehrmacht dadurch befürchtete.

Nun, die Generation der Kriegszeit lebt zum überwiegenden Teil nicht mehr, aber die goldenen 70er Jahre, das sollten doch eigentlich die jungen Leute wissen, wie es damals war. Vor allem sollten sie wissen, was ihnen die Politiker im Laufe der Jahrzehnte im Vergleich zu heute weggenommen haben. Hier und heute den Eltern und Großeltern die Frage zu stellen, warum man denn das zugelassen hat, warum man geschwiegen hat, so wie meine Generation damals den Älteren über die Hitlerzeit diese Frage gestellt hat, - das wäre doch angebracht.

Aber vielleicht schweigen die Älteren aus Scham, und es ist für die Jüngeren auch besser, den Vergleich nicht zu sehen. Denn ansonsten bestünde die Gefahr, dass da einige Radikaldenkende sich eine Kalaschnikow besorgen und die „biologische Ablösung“ bei den Regierungsmitgliedern bewirken.

Im Gespräch mit diesen jungen Leuten verfestigte sich bei mir der Eindruck und der Vergleich mit einem Kettenhund. Nehmen wir das Beispiel von einem jungen Hund, der mit ca. 8 Wochen vom Muttertier weggenommen und vor seiner Hütte an die Kette gelegt wurde. Er wird seinen Herrn immer anhimmeln und freudig wedeln, wenn er sein Fressen bekommt, sein Leben lang. Denn er kennt nichts anderes; er weiß nicht, was Freiheit ist. Er denkt, das ist alles „normal“.

Ich habe mich dann auch an einen Tisch gesetzt, an dem sich ältere Leute unterhalten haben, und habe in Erfahrung gebracht, dass der überwiegende Teil der jungen Leute versucht, das Beste draus zu machen und sich in einer Art Nihilismus mit dem abzufinden, was ihnen heute serviert wird. Die wenigen Idealisten, die es noch gibt, organisieren fast jede Woche irgendeine Demo, an der zahlenmäßig verschwindend geringe Teilnehmer mitmachen. Aber die Themen dieser Demos sind oftmals haarsträubend. Die Älteren dagegen haben schon lange das Handtuch geworfen und wollen eigentlich nur mehr ihre Pension verleben, solange es noch geht.

 
Schlussbetrachtung:

Ja, es tut weh, wenn man durch die Straßen geht, die einem von früher her vertraut sind und man stellt fest, dass sich hier sehr vieles verändert hat. Es tut weh, wenn man sich als Fremder in seiner Heimatstadt fühlt. Obwohl es vom „Ratio“ her nur logisch ist, dass sich ein Stadtbild ständig verändert. Aber es hat sich zu viel verändert. Nur Weniges zum Besseren, vieles ist dabei auf der Strecke geblieben.

Nun, ich bin wieder zurück nach Siebenbürgen gefahren, mit Wehmut im Herzen, aber auch mit der Erkenntnis, dass ich in dieser Stadt, in der ich einmal geboren wurde, heute nicht mehr leben könnte. Mich in einem Alter, in dem ich vielleicht nicht mehr flexibel bin, dort in eine Gemeindebauwohnung hineinzupferchen, das würde für mich in spätestens zwei Jahren das Ende bedeuten. Aus diesem Grunde bin ich froh, dass ich den Weg eingeschlagen habe, den meine Frau und ich vor mehr als 25 Jahren gemeinsam beschlossen haben. 
 

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Werter Helmut,

Danke für Ihren Bericht.
Auch ich habe der Stadt vor etwa 2 Jahrzehnten den Rücken gekehrt und mache nur noch kurze Besuche in Wien.
Mein Grätzel, in dem ich es liebte zu leben, ist völlig verändert. Die kleinen Läden vom Knopfgeschäft bis zum Schuster gibt es längst nicht mehr. Dafür umso mehr "Händi-Shops", exotische Supermärkte und Kebab-Läden.
Wenn man mir in jungen Jahren gesagt hätte, daß ich Wien jemals verlassen würde, ich hätte ihn ausgelacht. Ich liebte es, in dieser einst wunderschönen, größtenteils sicheren Stadt zu leben, die wirklich fast alles bot, was das Leben lebenswert macht. Wien war meine Heimat.
Jetzt bin ich froh (wenn auch mit leiser Trauer im Herzen), wenn ich nach meinen Besuchen das Ortsschild von Wien im Rückspiegel sehe..

mfG
Tanit

Grantscherben hat gesagt…

ich kenne Wiener die mittlerweile aufs Land geflüchtet sind und solche die es gerne würden wenn sie es finanziell könnten!

Ex oriente lux hat gesagt…

Wer früher Wien liebte, dem kann geholfen werden: Moskau, Pjöngjang und Ankara halten heute jedem Vergleich mit dem schönen alten untergegangenen Wien stand. Traumhafte Städte! 👍

Anonym hat gesagt…

Hallo Helmut,
andere Stadt, ähnliches Empfinden.
Belgrad soll heute auch sehr schick sein (was es vor 20 jahren ja ausdrücklich nicht war.
Aber andererseits sei froh, dass Du Deine Stadt so erlebt hast, wie es Dir angenehm war, Du also zur richtigen Zeit gelebt hast.
Denn wäre es heute noch so, gehörest Du auch nicht mehr dazu, Du würdest den Generationenunterschied merken.
Und warum war man früher beim Ball?
Wegen der Mädels.
Die noch alle tassen im Schrank haben gehen bei der gegenwärtigen Überfremdung, die für viele täglich tragische Folgen zeitigt, heute sowieso nicht mehr dort hin!
Es gab auch Zeiten, da wurde in Restaurants zu Mittag ein Panist angestellt und die Leute tanzten auch.
Da war mal ein Metzger in Deutschland der Filme über die Zeiten gemacht hat, so zwischen 1930 bis 1960. Gab irgendwo Videos dazu.
Auch nach dem Krieg tanzte man noch, aber immer immer weniger.

Die Kultur lebt nur von und mit den Menschen, wenn sie sich ihrer nicht bewusst sind, stirbt die Kultur!
Jegliche Kutur, auch die Esskultur, die Du ja auch ansprichst.

Wenn man dem Menschen Aktivitäten vermaleidet, dann werden Inaktive draus und die Auswahlmöglichkeiten heutzutage sind ja auch ein Faktor!

Das Leben findet zunehmend im Netz statt.
So wie hier ja auch!

Sei froh, dass Du den Absprung an einen offensichtlich für Dich richtigen Ort geschafft hast!

Wäre Ungarn auch eine Option für Dich gewesen und wenn nicht, warum nicht?

helmut-1 hat gesagt…

Herrn Anonym:

Das meiste nicke ich ab. Noch ein Wort zur Frage:

"Wäre Ungarn auch eine Option für Dich gewesen und wenn nicht, warum nicht?"

Die Gründe liegen auf mehreren Gebieten. Zum einen die Sprache. Rumänisch ist eine romanische Sprache, und dadurch, dass ich in der Schule Latein hatte und auch ziemlich gut spanisch gesprochen habe, bin ich da schnell reingekommen. Beim ungarisch lernen hätte ich zu knabbern gehabt. Der finnisch-ugrische Sprachstamm ist nicht ganz so einfach, das habe ich schon damals bei meinen Besuchen in Finnland bemerkt.

Zum anderen die Mentalität. Der Ungar ist ein Typ Mensch, der sich, was die Nationalität betrifft, sehr "erhaben" gegenüber anderen Nationen, besonders der deutschen, verhält. Wobei der Begriff "der Ungar" auch irreführend ist, es gibt solche und solche.

Natürlich sind mir die Vorgänge in der Kriegszeit sowie im anschließenden Kommunismus geläufig. Da gibts ein gutes Buch darüber:

https://www.umz.hu/wp-content/uploads/2021/04/Geschichte-der-Deutschen-in-Ungarn.pdf

Auf Seite 187 sieht man die Problematik, mit der sich die Deutschen in Ungarn auseinanderzusetzen hatten. Rumänien hat eine völlig andere Minderheitenpolitik, das war schon damals unter Ceausescu so gewesen. Nicht nur die mehrsprachigen Ortschilder, auch der Schulunterricht sowie die Gottesdienste in deutscher Sprache waren "normal" in Rumänien. Genauso gabs das alles in ungarisch in den ungarisch geprägten Gebieten in Rumänien.

Während meines 6 Jahre lang andauernden Umzugs meiner sämtlichen Werkzeuge, Maschinen und Geräte meines Betriebes nach Rumänien hatte ich mehrmals die Gelegenheit, die nationalistische Willkür der ungarischen Grenzer zu spüren.

Aber für meine Entscheidung war ja auch die Tatsache maßgebend, dass meine Frau aus der Stadt stammt, in die wir umgezogen sind und in der wir jetzt leben. Dazu kommt das in deutscher Sprache gehaltene Schulwesen in unmittelbarer Nähe unseres Hauses, und letztlich auch die Bewertung der Rumänen für das Deutschtum schlechthin, dem sie mit Respekt und Achtung begegnen.

Allerdings stammen meine Ansichten über Ungarn aus einer früheren Zeit, - Leute, die in den letzten Jahren dorthin umgezogen sind, sagten mir, dass sich das zum Positiven geändert hätte.

Was mir aktuell in Rumänien imponiert (wobei noch vieles hier im Argen liegt), das ist die in der Verfassung garantierte Meinungsfreiheit in Wort und Schrift. Das wird auch von allen staatlichen Stellen beachtet. Dieses Grundrecht, das auch in den Verfassungen vieler anderer Länder drinsteht, wird z.B. in Österreich und vor allem in Deutschland zunehmend beschnitten.