von San Casciano
Freiheit ist einer jener Begriffe, der heute am häufigsten
missbraucht und fehlgedeutet wird. Im Mittelalter bedeutete „Freiheit“
ein Privileg: man war „frei“ von Diensten. Freie Städte unterstanden dem
Kaiser direkt, und mussten keine Abgaben an einen Fürsten entrichten;
stattdessen waren sie so frei, Zölle zu erheben oder eigene
Befestigungen anzulegen. Der Begriff der „libertas“ stand symbolisch auf
den Wappen und Flaggen der Städte Europas, um auf ihre privilegierte,
freie Stellung hinzuweisen. Dies galt nicht nur im Heiligen Römischen
Reich, das in seiner Blütezeit Mitteleuropa prägte, sondern ebenso in
den abendländischen Städten des Mittelmeerraums, von Barcelona bis
Dubrovnik.
In der Frühen Neuzeit bildete sich im Heiligen Römischen Reich – nun
mit dem Zusatz: Deutscher Nation – der Begriff der „teutschen Freiheit“
oder „teutschen Libertät“ heraus. Das Reich bestand aus einem
Flickenteppich hunderter Territorien. Die flächenmäßig größten lagen im
Osten: Brandenburg, Sachsen und Böhmen. Im Süden und Westen bildeten
bereits kleine Grafschaften aus wenigen Orten eigene Territorien;
darunter sogar „Reichsdörfer“, die als eigene Gebietskörperschaften
nicht über die Grenzen des eigenen Dorfes hinausreichten. Berüchtigt
sind die Reichsritter und deren Güter, die als reichsunmittelbar galten
und daher nur dem Kaiser untergeben.
Alle reichsunmittelbaren Personen und Körperschaften hatten, so sie Reichsstand waren, einen Sitz im Reichstag und ließen sich im Selbstbewusstsein ihrer Freiheiten nicht alles bieten. In komplizierten Verhandlungen
legte man hier fest, was recht und billig war. Und selbst wenn ein
Gesetz beschlossen wurde, bedeutete dies nicht, dass es wirkte. Ein
Aushang war – anders als heute – nicht genug. Man musste das Gesetz auch
befolgen. Es gab Fälle, in denen der Reichstag ein Gesetz beschloss,
sich aber die Einwohner einer Reichsstadt über den Aushang lustig
machten. Wenn ein Gesetz erlassen wurde, aber sich keiner daran hielt,
war es nichtig; das war das Rechtsverständnis der damaligen Zeit. Ein
langfristiger Boykott konnte dazu führen, dass sich ein Gesetz oder eine
Verordnung nicht durchsetzte.
Deutsche Freiheit, das hieß demnach grob übersetzt: „du kannst mir
nicht vorschreiben, was zu tun ist, solange ich es nicht akzeptiere“.
Deutsche Freiheit und deutscher Trotz treffen sich hier. Die
Reichsstände waren sich darüber einig, dass das Reich unveräußerliche
Grundrechte garantierte, im Gegensatz zu jener absolutistischen
Sklaverei, der „Servitut“, wie sie in Spanien herrschte. Selbst dem
Kaiser diente man nur, wenn jener diesen Konsens beachtete. Gängelung
galt als Todsünde. Dass nicht nur der Adel, sondern auch die städtischen
Eliten ein solches Bewusstsein pflegten, zeigt das eben zitierte
Beispiel. Es war immanenter Bestandteil einer anti-zentralistischen,
föderalistischen, aber auch grundsätzlich gegen jede Einmischung
gerichtete Mentalität jenes Reiches, das Mitteleuropa vom Ende des
Mittelalters bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts prägte.
Von der preußischen Geschichtsschreibung – und das heißt ab 1871: der
deutschen Geschichtsschreibung – wurde dieses „Alte Reich“ kritisiert.
Zu behäbig, nicht entscheidungsfreudig, ein Kuddelmuddel, das im
Gegensatz zu England und Frankreich kein „Staat“ war, sondern Opfer der
Einzelinteressen von Landesfürsten. „Deutsche Kleinstaaterei“ wurde ein
Schimpfwort. Statt sich für die „deutsche Sache“ einzusetzen, hätten die
Partikularinteressen Deutschland geschwächt – und wäre damit Opfer
seiner Nachbarn geworden. Das morsche, alte Reich wurde demnach von der
französischen Revolution und Napoleon mit Leichtigkeit weggefegt.
Frankreich und Großbritannien hatten in ihrer Geschichte Weltreiche
geschaffen – Deutschland dagegen besaß aufgrund dieses Irrweges bis 1871
nicht einmal einen Nationalstaat.
Gab die Geschichte dieser Ansicht nicht Recht? Hatte Napoleon nicht
auf demütigende Weise das Alte Reich vernichtet? War das nicht Beweis
genug für dessen Wehrlosigkeit? Das Argument wirkt auf den ersten Blick
bestechend – stimmt aber nur bedingt. Drastischer formuliert: kein Land
Europas konnte Napoleon widerstehen, gleich welche Regierungsform oder
staatlichen Aufbau es hatte. Ihm gaben sowohl die unbesiegbaren
Schweizer Eidgenossen, die Handelsmacht Niederlande, als auch das
absolutistisch-zentralistisch (!) regierte Spanien nach; einzig die
Weite Russlands wurde dem Feldherrn zum Verhängnis. Es erscheint wenig
überzeugend, der Verfassung des Alten Reichs die Schuld an seinem
Untergang zu geben, wenn damals die gesamte alteuropäische Welt
zusammenbrach.
Ein ganz anderes Bild von der außenpolitischen Stärke des Reiches
gewinnt man, wenn man sich dessen Erfolge ansieht. Denn es war das Alte
Reich, das als einziges über die wirtschaftliche Grundlage verfügte, das
Osmanische Reich aufzuhalten. Niemand anders als die vermögenden
Reichsstädte Deutschlands vermochten die Unsummen an „Türkenpfennigen“
aufzubringen, mit denen Wien zweimal verteidigt wurde; auch die
berühmten Reiter des polnischen Königs Sobieski waren von deutschen
Geldern finanziert worden. Damit war auch der Grundstein für die
christliche Reconquista des Balkans gelegt. Selbst die Reunionskriege
Ludwigs XIV. waren keineswegs so katastrophal und räuberisch wie ihre
Legendenbildung. Die Weltmacht Spanien büßte im Krieg gegen Frankreich
die eigene Vormachtstellung und weit größere Territorien ein, als das
Reich mit seinen vergleichsweise kleinen Randgebieten. Als der
Sonnenkönig im Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) an den Rand des
Untergangs gedrängt wurde, war dieser sogar bereit, alle eroberten
Territorien in Lothringen, Elsass und der Freigrafschaft Burgund
zurückzugeben; dass dies nicht zustande kam, hing weniger mit der
Schwäche des Reiches, als einem englischen Separatfrieden mit Frankreich
zusammen, der das anti-französische Lager erheblich schwächte.
Die deutsche Freiheit bedeutete im Krieg gegen Türken und Franzosen
demnach die Verteidigung der eigenen Unabhängigkeit. Auf der einen Seite
kämpfte es gegen das absolutistische Frankreich, in dem es keine
Freiheit gab; auf der anderen setzte sich das Heilige Römische Reich
gegen den osmanischen Christenfeind zur Wehr.
In der Verteidigung ihres „Neuen Reichs“ übersah die
Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts demnach die Leistung
des Alten Reiches. Die war aber nicht außenpolitischer, sondern
innenpolitischer Natur. Im Gegensatz zu Frankreich war das Reich nicht
expansiv, sondern ein Garant für Frieden und Recht in Mitteleuropa. Das
Reichskammergericht gewährte selbst Bauern ein Klagerecht, wenn sie sich
von ihren Herren schlecht behandelt führten; Streitigkeiten zwischen
einzelnen Landesherren wurden hier friedlich in deutsch-bürokratischer
Manier beigelegt. Trotz 30-jährigem Krieg war und blieb das Reich das
prosperierende Herz Europas, das sich spätestens im Laufe des 18.
Jahrhunderts erholte und zur Wiege einer ungekannten kulturellen Blüte
wurde. Mit dem Reichstag existierte eine föderale Ständeversammlung und
Vertretung von Interessengruppen aus Klerus, Adel und Bürgerlichen der
Reichsstädte; von diesen „Freiheiten“ konnten Frankreich und Spanien nur
träumen. Dort wurden die Stände nicht mehr einberufen, um die
Zentralgewalt des Königs zu stärken.
Dies war übrigens kein „Sonderweg“. Der polnische Sejm funktionierte
nach ähnlichen Mustern, hatte aber größere Rechte als der Reichstag und
neigte eher zu Blockaden als die deutsche Variante. Auch in den
italienischen Republiken und in der Schweiz hatten Räte und
Versammlungen weit mehr Gewicht als die repräsentativen Oberhäupter.
Diese Vertretungen reihten sich in eine Gruppe von vorparlamentarischen
Gremien ein, deren bekanntesten Vertreter das englische Parliament und
der schwedische Riksdag waren.
Parlamentarismus ist daher nicht nur Grundlage einer deutschen,
sondern auch einer europäischen Freiheit. Sie steht im Gegensatz zu
bevormundenden Zentralorganen, die in der Tradition des Absolutismus
stehen. In der heutigen Zeit der Manipulation, der Bevormundung und der
Entrechtung ist dieses Freiheitsverständnis wichtiger denn je.
Dennoch wird man den Gedanken nicht los, dass in Brüssel bald ein neues Versailles entsteht.
3 Kommentare:
Trefflich beschrieben. Können Sie mir Lit(t)eratur zum HrRdN empfehlen?
Herzlichen Dank für diesen Artikel. Das Heilige römische Reich Deutscher Nation ist ja nicht wegen der Überrennung durch den korsischen Emporkömmling untergegangen, sondern vielmehr an der mangelnden Haltung eines ungenannten Erzhauses ausgelöscht worden, wenn ich das mal als "Reichsdeutscher" mit hochgezogener Augenbraue über die Alpen senden darf.
Ich selbst stamme aus jener Ecke zwischen Rhein und Ruhr, wo jeder Flecken und Weiler "irjenzwie wat eigenes" war. Diese von ihnen beschriebenen Mentalitäten spüren Sie noch heute bei den alteingesessenen Familien, trotz der Entwicklungen im 19. und 20. Jh. Man bezeichnet z.B. sich nicht als "Bochumer", wenn man nicht aus der Innenstadt stammt. Man ist Stiepeler, Weitmarer, man ist konfessionell unterschieden, hat zumeist keine hohe Meinung von den anderen "Dörfern" und spürt geradezu körperlich die Fremde, wenn man die alten, nicht mehr sichtbaren Grenzsteine überschritten hat. Alles andere (FC Schalke, H. Grönemeyer etc) ist Ersatzfolklore. Vergessen Sie alles, was Sie über den Schmelztiegel Ruhrgebiet gehört haben! Es sind die Grenzen des alten Reiches, die bis heute nachwirken. Und ich sehe in dem Untergang aller Duodezherrschaften, reichsunmittelbaren Käffern, Städtchen und geistlichen Gebieten einen schlimmen Verlust, den wir bis heute nicht verwunden haben. Der Stolz (nennen Sie es meinetwegen auch "Identität")und die gleichzeitige Bescheidenheit und Beschränktheit dieser Herrschaften waren ihre Größe. Ich wünschte mir, Europa hätte sich daran orientiert.
Cher Laurentius,
in vielem d'accord mit Ihnen - aber das mit den hochgezogenen Brauen ... naja ...
Ich bin nun wirklich kein fanatischer Habsburg-Fan, aber daß die Gründung des Rheinbundes der Niederlegung der Kaiserwürde durch Kaiser Franz II (resp. danach I) vorausging und ihn letztlich zu diesem Schritt veranlaßte, wird wohl kaum bezweifelt werden können. Und die bourbonenfreundliche Haltung vieler Rheinländer war (neben der Büberei des Separatfriedens seitens der Engländer) mit einer der Gründe, warum die Rückgewinnung der lothringischen Gebiete, ja sogar der Freigrafschaft Burgund, im spanischen Erbfolgekrieg letztlich nicht geklappt hat.
Und nein, ich sehe durchaus daß es nicht um Balken und Splitter in diversen Augen geht, sondern um Balken und Balken. Aber eben diverse Balken in diversen Augen ...
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