Freitag, 12. Mai 2017

Von der deutschen Freiheit

von San Casciano

Freiheit ist einer jener Begriffe, der heute am häufigsten missbraucht und fehlgedeutet wird. Im Mittelalter bedeutete „Freiheit“ ein Privileg: man war „frei“ von Diensten. Freie Städte unterstanden dem Kaiser direkt, und mussten keine Abgaben an einen Fürsten entrichten; stattdessen waren sie so frei, Zölle zu erheben oder eigene Befestigungen anzulegen. Der Begriff der „libertas“ stand symbolisch auf den Wappen und Flaggen der Städte Europas, um auf ihre privilegierte, freie Stellung hinzuweisen. Dies galt nicht nur im Heiligen Römischen Reich, das in seiner Blütezeit Mitteleuropa prägte, sondern ebenso in den abendländischen Städten des Mittelmeerraums, von Barcelona bis Dubrovnik.

In der Frühen Neuzeit bildete sich im Heiligen Römischen Reich – nun mit dem Zusatz: Deutscher Nation – der Begriff der „teutschen Freiheit“ oder „teutschen Libertät“ heraus. Das Reich bestand aus einem Flickenteppich hunderter Territorien. Die flächenmäßig größten lagen im Osten: Brandenburg, Sachsen und Böhmen. Im Süden und Westen bildeten bereits kleine Grafschaften aus wenigen Orten eigene Territorien; darunter sogar „Reichsdörfer“, die als eigene Gebietskörperschaften nicht über die Grenzen des eigenen Dorfes hinausreichten. Berüchtigt sind die Reichsritter und deren Güter, die als reichsunmittelbar galten und daher nur dem Kaiser untergeben.

Alle reichsunmittelbaren Personen und Körperschaften hatten, so sie Reichsstand waren, einen Sitz im Reichstag und ließen sich im Selbstbewusstsein ihrer Freiheiten nicht alles bieten. In komplizierten Verhandlungen legte man hier fest, was recht und billig war. Und selbst wenn ein Gesetz beschlossen wurde, bedeutete dies nicht, dass es wirkte. Ein Aushang war – anders als heute – nicht genug. Man musste das Gesetz auch befolgen. Es gab Fälle, in denen der Reichstag ein Gesetz beschloss, sich aber die Einwohner einer Reichsstadt über den Aushang lustig machten. Wenn ein Gesetz erlassen wurde, aber sich keiner daran hielt, war es nichtig; das war das Rechtsverständnis der damaligen Zeit. Ein langfristiger Boykott konnte dazu führen, dass sich ein Gesetz oder eine Verordnung nicht durchsetzte.

Deutsche Freiheit, das hieß demnach grob übersetzt: „du kannst mir nicht vorschreiben, was zu tun ist, solange ich es nicht akzeptiere“. Deutsche Freiheit und deutscher Trotz treffen sich hier. Die Reichsstände waren sich darüber einig, dass das Reich unveräußerliche Grundrechte garantierte, im Gegensatz zu jener absolutistischen Sklaverei, der „Servitut“, wie sie in Spanien herrschte. Selbst dem Kaiser diente man nur, wenn jener diesen Konsens beachtete. Gängelung galt als Todsünde. Dass nicht nur der Adel, sondern auch die städtischen Eliten ein solches Bewusstsein pflegten, zeigt das eben zitierte Beispiel. Es war immanenter Bestandteil einer anti-zentralistischen, föderalistischen, aber auch grundsätzlich gegen jede Einmischung gerichtete Mentalität jenes Reiches, das Mitteleuropa vom Ende des Mittelalters bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts prägte.

Von der preußischen Geschichtsschreibung – und das heißt ab 1871: der deutschen Geschichtsschreibung – wurde dieses „Alte Reich“ kritisiert. Zu behäbig, nicht entscheidungsfreudig, ein Kuddelmuddel, das im Gegensatz zu England und Frankreich kein „Staat“ war, sondern Opfer der Einzelinteressen von Landesfürsten. „Deutsche Kleinstaaterei“ wurde ein Schimpfwort. Statt sich für die „deutsche Sache“ einzusetzen, hätten die Partikularinteressen Deutschland geschwächt – und wäre damit Opfer seiner Nachbarn geworden. Das morsche, alte Reich wurde demnach von der französischen Revolution und Napoleon mit Leichtigkeit weggefegt. Frankreich und Großbritannien hatten in ihrer Geschichte Weltreiche geschaffen – Deutschland dagegen besaß aufgrund dieses Irrweges bis 1871 nicht einmal einen Nationalstaat.

Gab die Geschichte dieser Ansicht nicht Recht? Hatte Napoleon nicht auf demütigende Weise das Alte Reich vernichtet? War das nicht Beweis genug für dessen Wehrlosigkeit? Das Argument wirkt auf den ersten Blick bestechend – stimmt aber nur bedingt. Drastischer formuliert: kein Land Europas konnte Napoleon widerstehen, gleich welche Regierungsform oder staatlichen Aufbau es hatte. Ihm gaben sowohl die unbesiegbaren Schweizer Eidgenossen, die Handelsmacht Niederlande, als auch das absolutistisch-zentralistisch (!) regierte Spanien nach; einzig die Weite Russlands wurde dem Feldherrn zum Verhängnis. Es erscheint wenig überzeugend, der Verfassung des Alten Reichs die Schuld an seinem Untergang zu geben, wenn damals die gesamte alteuropäische Welt zusammenbrach.

Ein ganz anderes Bild von der außenpolitischen Stärke des Reiches gewinnt man, wenn man sich dessen Erfolge ansieht. Denn es war das Alte Reich, das als einziges über die wirtschaftliche Grundlage verfügte, das Osmanische Reich aufzuhalten. Niemand anders als die vermögenden Reichsstädte Deutschlands vermochten die Unsummen an „Türkenpfennigen“ aufzubringen, mit denen Wien zweimal verteidigt wurde; auch die berühmten Reiter des polnischen Königs Sobieski waren von deutschen Geldern finanziert worden. Damit war auch der Grundstein für die christliche Reconquista des Balkans gelegt. Selbst die Reunionskriege Ludwigs XIV. waren keineswegs so katastrophal und räuberisch wie ihre Legendenbildung. Die Weltmacht Spanien büßte im Krieg gegen Frankreich die eigene Vormachtstellung und weit größere Territorien ein, als das Reich mit seinen vergleichsweise kleinen Randgebieten. Als der Sonnenkönig im Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) an den Rand des Untergangs gedrängt wurde, war dieser sogar bereit, alle eroberten Territorien in Lothringen, Elsass und der Freigrafschaft Burgund zurückzugeben; dass dies nicht zustande kam, hing weniger mit der Schwäche des Reiches, als einem englischen Separatfrieden mit Frankreich zusammen, der das anti-französische Lager erheblich schwächte.

Die deutsche Freiheit bedeutete im Krieg gegen Türken und Franzosen demnach die Verteidigung der eigenen Unabhängigkeit. Auf der einen Seite kämpfte es gegen das absolutistische Frankreich, in dem es keine Freiheit gab; auf der anderen setzte sich das Heilige Römische Reich gegen den osmanischen Christenfeind zur Wehr.

In der Verteidigung ihres „Neuen Reichs“ übersah die Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts demnach die Leistung des Alten Reiches. Die war aber nicht außenpolitischer, sondern innenpolitischer Natur. Im Gegensatz zu Frankreich war das Reich nicht expansiv, sondern ein Garant für Frieden und Recht in Mitteleuropa. Das Reichskammergericht gewährte selbst Bauern ein Klagerecht, wenn sie sich von ihren Herren schlecht behandelt führten; Streitigkeiten zwischen einzelnen Landesherren wurden hier friedlich in deutsch-bürokratischer Manier beigelegt. Trotz 30-jährigem Krieg war und blieb das Reich das prosperierende Herz Europas, das sich spätestens im Laufe des 18. Jahrhunderts erholte und zur Wiege einer ungekannten kulturellen Blüte wurde. Mit dem Reichstag existierte eine föderale Ständeversammlung und Vertretung von Interessengruppen aus Klerus, Adel und Bürgerlichen der Reichsstädte; von diesen „Freiheiten“ konnten Frankreich und Spanien nur träumen. Dort wurden die Stände nicht mehr einberufen, um die Zentralgewalt des Königs zu stärken.

Dies war übrigens kein „Sonderweg“. Der polnische Sejm funktionierte nach ähnlichen Mustern, hatte aber größere Rechte als der Reichstag und neigte eher zu Blockaden als die deutsche Variante. Auch in den italienischen Republiken und in der Schweiz hatten Räte und Versammlungen weit mehr Gewicht als die repräsentativen Oberhäupter. Diese Vertretungen reihten sich in eine Gruppe von vorparlamentarischen Gremien ein, deren bekanntesten Vertreter das englische Parliament und der schwedische Riksdag waren.

Parlamentarismus ist daher nicht nur Grundlage einer deutschen, sondern auch einer europäischen Freiheit. Sie steht im Gegensatz zu bevormundenden Zentralorganen, die in der Tradition des Absolutismus stehen. In der heutigen Zeit der Manipulation, der Bevormundung und der Entrechtung ist dieses Freiheitsverständnis wichtiger denn je.

Dennoch wird man den Gedanken nicht los, dass in Brüssel bald ein neues Versailles entsteht.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Trefflich beschrieben. Können Sie mir Lit(t)eratur zum HrRdN empfehlen?

Laurentius Rhenanius hat gesagt…

Herzlichen Dank für diesen Artikel. Das Heilige römische Reich Deutscher Nation ist ja nicht wegen der Überrennung durch den korsischen Emporkömmling untergegangen, sondern vielmehr an der mangelnden Haltung eines ungenannten Erzhauses ausgelöscht worden, wenn ich das mal als "Reichsdeutscher" mit hochgezogener Augenbraue über die Alpen senden darf.
Ich selbst stamme aus jener Ecke zwischen Rhein und Ruhr, wo jeder Flecken und Weiler "irjenzwie wat eigenes" war. Diese von ihnen beschriebenen Mentalitäten spüren Sie noch heute bei den alteingesessenen Familien, trotz der Entwicklungen im 19. und 20. Jh. Man bezeichnet z.B. sich nicht als "Bochumer", wenn man nicht aus der Innenstadt stammt. Man ist Stiepeler, Weitmarer, man ist konfessionell unterschieden, hat zumeist keine hohe Meinung von den anderen "Dörfern" und spürt geradezu körperlich die Fremde, wenn man die alten, nicht mehr sichtbaren Grenzsteine überschritten hat. Alles andere (FC Schalke, H. Grönemeyer etc) ist Ersatzfolklore. Vergessen Sie alles, was Sie über den Schmelztiegel Ruhrgebiet gehört haben! Es sind die Grenzen des alten Reiches, die bis heute nachwirken. Und ich sehe in dem Untergang aller Duodezherrschaften, reichsunmittelbaren Käffern, Städtchen und geistlichen Gebieten einen schlimmen Verlust, den wir bis heute nicht verwunden haben. Der Stolz (nennen Sie es meinetwegen auch "Identität")und die gleichzeitige Bescheidenheit und Beschränktheit dieser Herrschaften waren ihre Größe. Ich wünschte mir, Europa hätte sich daran orientiert.

Le Penseur hat gesagt…

Cher Laurentius,

in vielem d'accord mit Ihnen - aber das mit den hochgezogenen Brauen ... naja ...

Ich bin nun wirklich kein fanatischer Habsburg-Fan, aber daß die Gründung des Rheinbundes der Niederlegung der Kaiserwürde durch Kaiser Franz II (resp. danach I) vorausging und ihn letztlich zu diesem Schritt veranlaßte, wird wohl kaum bezweifelt werden können. Und die bourbonenfreundliche Haltung vieler Rheinländer war (neben der Büberei des Separatfriedens seitens der Engländer) mit einer der Gründe, warum die Rückgewinnung der lothringischen Gebiete, ja sogar der Freigrafschaft Burgund, im spanischen Erbfolgekrieg letztlich nicht geklappt hat.

Und nein, ich sehe durchaus daß es nicht um Balken und Splitter in diversen Augen geht, sondern um Balken und Balken. Aber eben diverse Balken in diversen Augen ...