Die Lebensmittelindustrie ist noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen. Die EU-Kommission verzichtet zwar auf ursprünglich ins Auge gefasste gesetzliche Regelungen gegen ungesundes Essen. Doch Gesundheitskommissar Markos Kyprianou gibt der Industrie nur noch Zeit bis 2010. Kommt es zu keiner Selbstbeschränkung, werde Brüssel gemeinsam mit den Mitgliedstaaten strenge Auflagen erlassen, so Kyprianou bei der Präsentation eines EU-Weißbuchs zur Gesundheit am Mittwoch in Brüssel.
Was hält dieser amoklaufende Levantiner eigentlich von Dingen wie Privatautonomie? Offenbar hat er noch nie gehört, daß es sowas gibt — hat sich wohl bis in Europas fernen Osten, zu diesem Inselstaatchen im Schatten der Türkei, noch nicht durchgesprochen. Nach Zigaretten, bei denen noch die (wenngleich maßlos übertriebene) Gefahr des Passivrauchens als Rechtfertigung an den Haaren herbeigezogen werden kann, und Alkohol, bei dem, außer im Falle von Embryonen, das Phänomen des Passivsaufens bislang völlig unbekannt geblieben ist, aber wo man ja irgendwie noch mit der Gefährdung durch besoffene Autofahrer zu argumentieren versucht, ist jetzt das Fett dran. Oder noch besser: gleich alles, was ungesund ist.
Und was ungesund ist, bestimmt die EU. Durch Herrn Kyprianou und seinesgleichen.
Spätestens hier endet wohl auch die größte Toleranz des geduldigen Bürgers gegenüber der militanten Bevormundung: es geht Herrn Kyprianou schlicht und einfach einen Dreck an, was ich esse und trinke! Das hat ihn ebensowenig zu kümmern wie die Frage, welche Kravattenfarbe ich bevorzuge, oder ob mein Musikgeschmack zu Mozart oder zu Musikantenstadel tendiert.
Und überhaupt: was ist denn "ungesund"? Ich erinnere mich an eine Studie, bei der die Lebenserwartung im Zusammenhang mit Ernährungsgewohnheiten geprüft wurde. Heraus kam (wohl zur geringen Freude der damals Cholesterin-fixierten Ernährungswissenschaftler), daß in Armenien der höchste Anteil an über 100-Jährigen Hand in Hand mit der Gepflogenheit ging, einmal wöchentlich ein halbes Kilo Butter im Kesselchen zu schmelzen, und das so gewonnene goldgelbe Butterschmalz — schmatz! — hinter die Binde zu gießen. Ich nehme an, daß der Herr Professor, der das herausfand, nach einem kurzen Griff ans stechende Herz sein nächstes Cholesterin-senkendes Pülverchen einwarf.
Mag ja sein: wer ständig Junk-Food frißt, wird möglicherweise früher sterben. Und hat sich um jede Menge gesünderer Genüsse gebracht. So what? Wie ich mich umbringe (oder eben nicht), ist gefälligst jedem Menschen selbst zu überlassen. Auch Liebeskummer verkürzt bekanntlich die Lebenserwartung — wird deshalb auch die Liebe verboten? Autofahren verkürzt die Lebenserwartung noch viel mehr, aber da wird natürlich nichts verboten, denn hier kann die Industrie schön Profite machen und eine Menge Kommissionen Regeln und Bürokratien erfinden, daß den Untertanen schwarz wird vor den Augen ...
Herrn Kyprianou sei gesagt: Politiker mit ausgeprägtem Sendungsbewußtsein, die Welt verbessern zu wollen, bei gleichzeitiger Überzeugung, ganz genau zu wissen, wie das gefälligst zu geschehen hat, sind weitaus gefährlicher als jeder Zigarettenrauch, den einem ein fettleibiger Prolet mit Alkoholfahne und Frittengestank nur je ins Gesicht blasen kann! Unter den vielen Politikern, die die Welt verbessern wollten und genau wußten, wie's geht, war u.a. ein gewisser Robespierre. Und da das Volk in seiner Blödheit nicht recht mitwollte, mußte man es halt ein bisserl zwingen. Nur zu seinem Besten, versteht sich. Wir wissen, was dann daraus wurde. Und was aus Robespierre wurde, als dem Volk endlich doch die Geduld gerissen war, wissen wir auch — wenngleich wir heute in so humanen Zeiten leben, daß die Enthauptung eines entmachteten EU-Kommissars bedauerlicherweise doch eher unwahrscheinlich sein dürfte.
Doch dem umtriebigen Weltverbesserer reichen bloße Negativmaßnahmen wie Verbote keineswegs — da muß auch schon noch was "aktiv" getan werden!
Neben der falschen Ernährung hat das EU-Weißbuch auch vor der mangelnden Bewegung der europäischen Bevölkerung gewarnt. So zeigen Studien, daß jeder dritte Europäer sich in seiner Freizeit überhaupt nicht körperlich betätigt und daß der durchschnittliche Europäer mehr als fünf Stunden täglich sitzend verbringt. Kyprianou kündigte gemeinsame Initiativen der EU und der Mitgliedstaaten an, um Sport wieder attraktiver zu machen. Es gehe dabei nicht um den sportlichen Wettbewerb. "Es geht darum, daß vor allem Kinder wieder Spaß an der Bewegung vermittelt bekommen."
Na also, wer sagt's denn — willkommen in Peking! Am Platz des Himmlischen Friedens wird uns Euro-Schlaffis doch längst vorgeturnt, was Leibesertüchtigung heißt. Und überhaupt könnten wir uns von China eine Scheibe abschneiden, meint die EU-Kommission. Keine lästige Demokratie, keine Extrawürste mit angeblichen Bürgerfreiheiten — alles wird in EU-Richtlinien zweckmäßig geregelt! Also nix mehr mit Sonntagsnickerchen: Gymnastik und Wandertouren sind lt. EU-Fitnessrichtlinie angesagt! Ich hoffe, Herr Kyprianou fällt jetzt nicht in Ohnmacht (was bei seiner stattlichen Leibesfülle ja durchaus passieren könnte) wenn ich ihm sage, daß ich da am Sonntag doch viel lieber in aller Ruhe ein saftiges Wiener Schnitzel mit Kartoffel-Mayonnaise-Salat esse, und dazu einen gut gekühlten, spritzigen Grünen Veltliner aus der Wachau trinke. Danach gibt's zum Cappuccino — mit ein bisserl Schlagobers, versteht sich — eine gute Havanna. Und ein Gläschen Port. Im Hintergrund ein Streichquartett von Haydn.
Und das soll ich gegen rudelweises Gelenkedehnen eintauschen, damit ich — bloß möglicherweise, so ich nicht z.B. von einem Auto überfahren werde — länger lebe, und mit dieser meiner — unserer! — angeblich längeren Lebenserwartung das Pensionssystem endgültig über den Jordan schicke?
Nein Herr Kyprianou, das alles mag ich nicht. Und das mögen viele Bürger nicht. Die, die's mögen, haben ja bereits heute die Freiheit, im Microfaser-Neon-Look schwitzend durch den Park zu keuchen. Sollen sie doch! Ich sehe von meiner Terrasse zu und genieße Kaffee und Zigarre. Und wenn die keuchenden Lemminge endlich vorbeigehastet sind, gieße ich mir noch ein Schlückchen Port nach — man gönnt sich doch sonst nichts ...