Mittwoch, 18. März 2015

Die weißen Götter

Viele kennen diesen Titel. Nein, nicht von den »Göttern in Weiß«, unseren Ärzten, ist die Rede, sondern von dem berühmtesten Roman eines in den 1920er-Jahren zu Weltbekanntheit aufgestiegenen deutschen Kulturhistorikers, Ethnologen und Sprachwissenschaftlers — der, geboren heute vor 150 Jahren, also am 18. März 1865, in Moskau als Sohn eines deutsch-amerikanischen Großkaufmanns, nach vielfältigen Studien in Dresden und Berlin zunächst im Nebenberuf neben seiner reichhaltigen wissenschaftlichen Publikationstätigkeit in rauschender Wortpracht (und daher für unseren Literaturgeschmack inzwischen reichlich ungenießbare) symbolistische Dramen aus der Welt des Grals und der keltischen Mythologie verfaßte, bis ... ... ja, bis er eben jenen Roman schrieb, der als einziger bis heute untrennbar verbunden ist mit seinem Namen:

Eduard Stucken
 Die weißen Götter

Es ist dies der Roman von der Eroberung des mächtigen, und doch innerlich morschen Aztekenreiches durch ein wagemutiges Trüppchen Spanier unter Cortes (auf SPON Gutenberg-Projekt findet sich der ganze, zunächst in vier Bänden veröffentlichte, und in späteren Ausgaben meist in zwei Bände geteilte Roman — Band 1, Band 2). Und mehr als das. Geschrieben in den bis dahin düstersten Jahren Deutschlands seit über einem Jahrhundert, den Jahren unmittelbar zu und nach Ende des Ersten Weltkriegs (1918-22 erschienen die vier Bände), ist das Werk auch ein Sinnbild zerfallender Größe und vergeblichen Bemühens der Menschen. Ja, es ist schon irgendwie richtig, was der Wikipedia-Artikel über die Sprache Eduard Stuckens kritisch vermerkt:
Seine Prosaarbeiten sind geprägt von des Autors Hang zu Prunk und Exotismus sowie von einem zum Bombast neigenden Stil.  
Und doch trifft die Rüge hier daneben! Denn anders als in den — in der Tat allzu buntschillernd einherstelzenden — Gralsdramen, ist in den »Weißen Göttern« der Prunk und Exotismus notwendiges Stilmittel, uns Europäern die so gänzlich andersartige Kultur der Azteken auch nur irgendwie »begreiflich« zu machen! Schon der Beginn schlägt den Leser in seinen Bann:
Die Menschheit ist gefangen auf der Erde –: der blaue Äther ist ihre Kerkermauer.
Gefesselt an die Erde, gebunden ist die Menschheit. Ihre Gedanken sind die Gedanken der Erde, sie ist die Trägerin der Gedanken der Erde. Und sie trägt sich mit ihnen, als wären es Girlanden, als wären es keine lastenden Sklavenketten.
Oh, wenn wir die Ketten brechen könnten, das Gefängnis verlassen könnten! Jenseits der Kerkermauer – dem kristallenen Äther, der gewölbten Schädeldecke – sind andere Welten.
In Sternennächten lugen wir durch das Gitterfenster, ahnen und ersehnen. Und wohl spüren wir dann unsere grausige Kerkereinsamkeit, – ein Schiffbrüchiger auf kahler Klippe im Ozean ist nicht einsamer.
Seit uralters war es ein Menschheitstraum –: hinausfliegen ins All, den Fuß setzen auf einen anderen Planeten! Irdische Farben, Düfte, Klänge und Worte hinüberretten in die grenzenlose Welt! Außermenschliches schauen, miterleiden, miterleben! ... Überirdisch würde uns das Furchtbare dort sein, überirdisch auch das Schöne. (Unsere Blutsverwandten dort – sind sie vielleicht Schmetterlinge von betäubendem Schimmerglanz? onyxäugige Sphinxe vielleicht mit Luchsleibern und Mädchenantlitzen? buntschillernd gefiederte Harpyien vielleicht? oder sind sie übergroße, denkende, redende Blumen, ein zauberschönes, grausames Blumenvolk?) ...
Einst war die eine Erdenhälfte der anderen fremd wie ein ferner Stern. Da setzte Columbus den Fuß auf eine Neue Welt.
Doch er wußte es nicht. Stolz glaubte er, den Ostrand der Alten Welt erreicht zu haben.
Er sah keine buntgefiederten Harpyien-Menschen, kein schönes grausames Blumenvolk. Denn nur den Außenbezirk des seltsamen Erdreiches berührten seine Karavellen. Von der Inkaherrlichkeit und von den Pyramiden Mexicos kam ihm keine Kunde.
Auch nicht seinen Nachfolgern in der Statthalterschaft der Antillen. Ein Jahrzehnt lang hatten Vizekönige vollauf zu tun, die Insel Haiti zu pazifizieren – so nannte man die Ausrottung der armen Karaiben – und die zu vielen mißlebenden Abenteurer und Kolonisten vor Hunger zu bewahren. Entdeckungsfahrten aber und Freibeuterzüge nach dem Festland – im Norden und im Süden des Isthmus von Panama – scheiterten kläglich.
Doch nahe genug lagen die Wunderstätten, so daß ihr Glanz herüberglitzerte über die steilen Anden und Kordilleren und den Beutesuchern zum Bewußtsein kam. Sagenhaft erst und gleichsam symbolisch kündigte sich ein Goldland an. Gen Sonnenuntergang, hieß es, in einem See, in dessen felsiges Ufer Treppenstufen gemeißelt seien, bade allabendlich ein vergoldeter König. Jeden Morgen aber werde der nackte Mann mit Harz beschmiert und über und über mit Goldstaub und kleinen Goldplättchen bedeckt, so daß er für Tagesfrist wieder zum vergoldeten König – el Dorado – werde.
Unausrottbar setzte sich das Phantom des nackten vergoldeten Mannes fest in die Herzen aller Konquistadoren, schwebte ihnen vorauf, führte sie in Abgründe oder über Abgründe hinweg ...
Ein zweites Jahrzehnt ging dahin. Franziskaner- und Dominikanermönche stritten, ob die Indianer Menschen oder Sklaven seien. Bald gab es keine Indianer mehr auf Haiti.
Der letzte Statthalter Haitis pazifizierte daher Kuba, siedelte nach Kuba über. Nicht viele Indianer überlebten die Befriedung der Insel, und sie siechten in den Silberbergwerken dahin.
Die Silberbergwerke fraßen zu viele Indianer.
Sklavenraubzüge an den Küstenstrichen des Festlandes mußten Ersatz schaffen. Der Statthalter sandte drei Schiffe aus. Yucatan wurde entdeckt; doch mehr als die Hälfte der Schiffsbesatzung ging zugrunde, und die Ausbeute waren zwei armselige Sklaven.
Mehr Erfolg hatte ein späterer Raubzug. Sklaven zwar wurden nicht heimgebracht, dafür einiges Gold und die erste Nachricht von Mexico.
Freilich kaum mehr als der Name Mexico-Tenuchtitlan war, aus unverständlichen Reden der Küstenbewohner, den Weißen ans Ohr geklungen. Hätten sie in Erfahrung gebracht, daß die Stadt, befestigt inmitten eines Schilfsees, im Hochtal Anahuac siebentausendvierhundert Fuß über dem Meeresspiegel lag und daß das Hochtal, durch viele himmelnahe Kordillerenketten eingemauert, zwanzig Tagereisen von der Küste entfernt war – das Entzücken der beutegierigen Abenteurer, die Begeisterung für das zauberhafte Mexico wäre im Keime erstickt, und manche, die bald darauf Cortes auf seinem waghalsigen Freibeuterzuge folgten, hätten es für ratsamer gehalten, dem Phantom des nackten vergoldeten Mannes nicht nachzujagen.
So aber hatte man einen Namen erhascht und berauschte sich an seinem Wunderklang. Die Ahnungslosigkeit macht sieghaft. Ein Vierteljahrhundert nach des großen Admirals Entdeckung betraten Bewohner dieses alten Sternes ein Land, das sie fremdartig anmuten mußte wie ein anderer Stern im Weltenmeer.
Und auch uns mutet es so an, wenn wir das dahingeschwundene Reich betreten, durch seine zerstörten Tempel, durch seine versunkenen Paläste und Schloßgärten wandeln. Särge toter Völker sind die alten Chroniken – sie bergen Moder, Juwelen und tiefe Traurigkeiten.
Nein, es ist fürwahr kein hurrapatriotischer Kolonistenroman in mehr oder weniger exotisierenden Verbrämung (wie sie bis zum, und auch noch nach dem Ersten Weltkrieg zuhauf geschrieben wurden!), sondern ein tieftrauriger Roman um das vergebliche Haschen des Menschen nach dem Erfolg — oder eben dem, was er als »Erfolg« mißversteht ...

Und so spannt der Autor ein vielfältiges Panorama vor unseren Augen aus, das in all seiner lebensvollen Buntheit den Leser stets wie zitternd vor einem bevorstehenden Verhängnis in Atem hält. Allein die Fähigkeit, das — ohne den Leser zu ermüden — über hunderte Seiten zweier dickleibiger Bände durchzuhalten, ist schon beeindruckend! Der literarisch versierte Kenner möge mich nicht steinigen, wenn ich den gewagten Vergleich mit Ray Bradburys »Mars-Chroniken« wage — und, in der Tat, vieles in Stuckens Roman wirkt wie eine Vorahnung von »Science Fiction«, nur eben in die Vergangenheit gewendet! Das Mexiko der Aztekenzeit könnte nicht fremdartiger wirken als die Marsianer Bradburys. Und die »Entfremdung« schlägt auch auf die — oberflächlich betrachtet — erfolgreichen Eroberer um Cortes durch. Und der gewaltige Bogen dieses Epos' eines Unterganges, einer oft geradezu mutwilligen Zerstörung (jetzt nicht nur von Seiten der Spanier, wohlgemerkt), eines geradezu als »Todestrieb« zu charakterisierenden Zuges vieler Handlungen und Verhaltensweisen, endet mit Stuckens resignativen Zeilen, die den zweiten Band beschließen:
Die drei letzten Jahre seines Lebens verbrachte Cortes am spanischen Hofe, angefeindet, verärgert und verbittert.
Die mexikanische Göttin Ixcuinan, die Herrin der Lust und der Erde, verführte den Büßer Yappan. Als er sie umarmte, wurde sie zu Staub. Nichts, nichts behielt er von der Berückenden zurück als eine Handvoll grauen, sickernden Erdenstaub. 
 Nein, es ist wohl nicht bloß der Exotismus, der den Erfolg dieses Romans ausmachte. Der gehört eben notwendig dazu, so wie der spanische Hof zu Schillers »Don Carlos« (dem in einem Setting, sagen wir, eines schwäbischen Bauernhofes ja auch einiges an dramatischer Wirkung gebräche!) — aber das Entscheidende ist dennoch die Meisterschaft, mit der uns der Autor durch diese fremde Welt leiten kann, sie uns, wenn schon nicht nahe (ginge das denn?), so doch näher zu bringen weiß, bis wir in den fremden Mustern — uns selbst zu erkennen vermögen.

Mit keinem seiner anderen Romane hat Stucken diesen einen »Bestseller«-Erfolg wiederholen können, obwohl sie alle qualitativ hochstehend und von ihrer Handlung immer aufs neue fesselnd genannt werden können. Bei einem Roman, den ich als Student zufällig in der Bibliothek einer schon etwas sonderbar gewordenen, steinalten Tante entdeckte, welche ihn mir bei einem Abschiedsbesuch als Reiselektüre für die längere Bahnreise lieh, und den ich bei dieser Fahrt und der anschließenden Nacht im Hotel (ich glaube, es war vier Uhr morgens) »in einem Zug« auslas, bedauere ich seine fast völlige Verschollenheit besonders, denn es handelt sich wirklich um ein Meisterwerk: »Giuliano« — ein Roman aus der späten Medici-Zeit, ein Vexierspiel erster Güte, das einen in der Präzision seiner Abläufe an gleichzeitige Romane eines Leo Perutz erinnert, diese aber in der berauschenden Schönheit seiner Sprache doch weit überragt (erst in seinem letzten, posthum erschienenen Werk »Nachts unter der steinernen Brücke« legte Perutz ein einzigartiges Meisterwerk vor, das auch von der Schönheit der Sprache dem immer schon meisterhaft geführten Handlungsverlauf Perutz'scher Romane nicht bloß ebenbürtig ist, sondern sogar diesen noch übertrifft — aber das nur nebenbei bemerkt ...).

Auch Eduard Stucken ist — wie könnte es für einen Autor, der die Hitler-Zeit nicht im Exil (oder im KZ) verbrachte, oder doch wenigstens als, post-45, strammer Linker »geläutert« gelten darf, auch anders sein! — unserem Zeitgeist suspekt.
Im Oktober 1933 zählte er zu den Unterzeichnern des "Gelöbnisses treuester Gefolgschaft", einer an Hitler gerichteten Ergebenheitsadresse regimetreuer deutscher Autoren.
... vermerkt Wiki indigniert, und bedauert merklich, nicht mit gepfefferteren Enthüllungen aufwarten zu können, als mit einer Unterschrift unter eine ziemlich belanglose Liste. Wäre auch schwer möglich — denn wer nur einige Zeilen des Autors las, fände jeden Gedanken an seine geistige Nähe zum Nationalsozialismus einfach absurd.

Die symbolistischen Frühwerke sind auch in Zukunft wohl nur als literarhistorische Rarität zu bestaunen — lesen (oder gar aufführen) kann man sie wohl kaum. Immerhin: »Die weißen Götter« sind im Buchhandel noch erhältlich (antiquarisch gibt es das Werk natürlich ohnedies in einer Vielzahl von Ausgaben! Kaum ein Antiquariat, in dem man es nicht fände ...) — aber vielleicht entdecken einige der Leser dieses Blogs auch Stuckens zweites Meisterwerk, den »Giuliano«. Wert wäre er es allemal ...   

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