von Franz Lechner
Steckt ein tiefer metaphyischer Sinn hinter dem Umstand, dass Bruckners Neunte unvollendet geblieben ist? Ist es der erklärte Wille des Allerhöchsten, dass für uns das „Lob- und Preislied an den Lieben Gott“, das Bruckner für seine Schlussapotheose vorgesehen hatte, nie erklingen wird? Oder ist es schlichter Zufall, der Niedertracht von Bruckners „Verehrern“ geschuldet, die ausgerechnet die letzten (begonnenen) Partiturseiten unmittelbar nach dem Tod des Komponisten von dessen Schreibtisch entwendet, sprich gestohlen hatten? Aber was kann schon der Begriff „Zufall“ bedeuten – auch was uns als „zufälliges“ Ereignis erscheint, kann nur letztlich nichts anderes als Gottes Wille sein. Und Gott ist, was die Neunte betrifft, als Widmungsträger auf jeden Fall mit von der Partie.
Ich
für meinen Teil lehne derart pseudometaphysischen oder gar abergläubischen Mumpitz entschieden ab. Bruckners Neunte ist, trotz aller umwerfenden Großartigkeit und trotz aller metaphysischen Bedeutungstiefe, der sich analytisch nachweisen lässt, Tand wie jegliches Gebilde aus Menschenhand und kein Gegenstand kultischer Verehrung.
Wir haben das Recht, Bruckners letzten Willen zu ergründen (sprich zu rekonstruieren) bzw in dieser Form zu erleben. Dort, wo dies nicht möglich ist (eben am Schluss der Neunten), muss seine Partitur von fremder Hand ergänzt, und vollendet werden. Das ist ein schwieriges
Unterfangen, und ich darf anmerken, dass ich auch hiezu meinen Beitrag zu leisten versucht habe. Derzeit existiert, was die Komposition des
komplett fehlenden Schlusses betrifft (ca 5 – 7 Minuten) nach meinem Kenntnisstand und meinem Dafürhalten nur eine einzige einigermaßen
befriedigende Arbeit, und diese stammt von William Carragan.
Das Finale hat sich jedenfalls in der Gunst des überalterten, vom Aussterben bedrohten, stockkonservativen und geistig überaus träge gewordenen europäischen Konzertsaalpublikums nicht durchsetzen können, dazu ist es zu progressiv, thematisch und klanglich zu spröde, zu dissonant, zu schroff, zu laut, zu ungewöhnlich und ungewohnt, ja zu verstörend. Es ist einfacher, seine Existenz nicht anzuerkennen bzw es als „unausgearbeitet“ und „unfertig“ (was hinsichtlich der erhaltenen Teile keinesfalls zutrifft) abzuqualifizieren. Man genießt die Neunte lieber als dreisätzigen Torso, der, wie zugestanden muss, in der Tat formal überzeugend und abgerundet klingt – ein großes Glück im Unglück.
Leider wird damit Bruckners Intention ins Gegenteil verkehrt – aus einem triumphalen Werk zur Ehre Gottes wird eine dunkle, todtraurige, pessimistische und katastrophal endende symphonische Dichtung, an deren Schluss gerade mal die Grabesruhe als ansatzweise Versöhnung stehen
darf. Ihr zuvorgegangen ist die ungemein brutale Schilderung der Kreuzigung Christi, dh des Gottesmordes als größtmögliche denkbare, dh letztlich schier undenkbare Sünde. Entsprechend „undenkbar“ im Sinne der Entstehungszeit sind die verwandten Mittel der Dissonanzballung. Diese Stelle hat keine funktionsharmonische Grundlage mehr, sie soll nur möglichst „schiach“ und falsch klingen. Dieser letzte vollendete Satz, das Adagio, ist nach Bruckners Worten „das Schönste, das ich je geschrieben habe“.
Das kann sich nur auf das Hauptthema beziehen, das Christus als „Majestät der Majestäten“ huldigt. Nach einem frei- bis atonalen Beginn wendet sich die Musik überraschend nach D-dur, der königlichen Tonart (D = italienisch Re = König). D-dur scheint als
Tonika durch einen als halbwegs dominantisch umgedeuteten, zunächst als funktionsfrei empfundenen Vierklang notdürftig legitimiert. Von hier aus geht es weiter ins überraschend eintretende E-dur. Dieses steht somit eine Stufe (tonleiternmäßig gesehen, in funktionsharmonischer Hinsicht zwei Stufen) über der „königlichen Tonart“, und sein Eintritt ist afunktional, somit durch keine harmonischen Gesetze legitimiert. E-dur ist somit „nicht von dieser Welt.“
Finale Carragan:
LePenseurs „Guru“ Dave Hurwitz gehört zu den Vielen, welche die Größe des Finales offenbar nicht kapiert haben:
Hier eine großartige Einspielung, mit der besten Interpretation des Finales (der einzigen, die mE nicht überhudelt erscheint). Das Finale, an sich weit besser rekonstruiert als zB von Carragan, ist allerdings nur bis 1:26:29 brauchbar – die Neukomposition des Schlusses ist inferior:
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