Wer kennt ihn denn noch, außer Germanistikstudenten, die gerade ein Seminar über »Literatur der Jahrhundertwende« absolvieren, oder leidgeprüfte Antiquare, denen seinerzeit weitverbreitete Dehmel-Gesamtausgaben wie Blei in den Regalen liegen und verstauben ...
Da LePenseur in früheren Versuchen, diesen Blog über die auf Dauer, zugegeben, doch etwas ermüdende Thematik »Kampf gegen das Sozentum jedweder Couleur und Kampf für die Meinungsfreiheit« hinauszuführen, grandios am Desinteresse seiner Leserschaft gescheitert ist, soll hier dieses »verschollenen« Dichters nur kurz gedacht werden — aber die heutige 150. Wiederkehr seines Geburtstages am 18. November 1863 sollte bei einem einstmals so Berühmten doch nicht völlig unbeachtet vergehen. Wer über ihn Zahlen, Daten und Fakten sucht, möge auf Wikipedia nachlesen — der Artikel ist als Erstinformation brauchbar, recht kurz, faktenorientiert und ohne penetrante Gutmenschelei.
Hier sei nur kurz auf zwei der Gedichte eingegangen, die LePenseur mit Richard Dehmel besonders verbinden — das eine, weil er es für eines der schönsten der deutschen Literatur jener Zeit hält, das andere, weil es nach LePenseurs Ansicht zwar, nun sagen wir mal: nicht unbedingt grottenschlecht (das wäre unfair und am heutigen Gedenktag pietätlos ausgedrückt) ... aber eben doch alles andere als wirklich gut ist — dafür aber Inspirationsquelle eines der genialsten Frühwerke eines später auf eher unanhörbare Abwege geratenen, großen Komponisten wurde ... Eh voilà — hier sind die beiden Gedichte:
Sommerabend
Klar ruhn die Lüfte auf der weiten Flur;
fern dampft der See, das hohe Röhricht flimmert,
im Schilf verglüht die letzte Sonnenspur,
ein blasses Wölkchen rötet sich und schimmert.
Vom Wiesengrunde naht ein Glockenton,
ein Duft von Tau entweicht der warmen Erde,
im stillen Walde steht die Dämmrung schon,
der Hirte sammelt seine satte Herde.
Im jungen Roggen rührt sich nicht ein Halm,
die Glocke schweigt wie aus der Welt geschieden;
nur noch die Grillen geigen ihren Psalm.
So sei doch froh, mein Herz, in all dem Frieden!
Wie viele »große« Gedichte fallen einem ein, wenn man an »Sehnsucht nach abendlichem Frieden« denkt? Vielleicht eine Handvoll (angeführt von Goethes »Wanderers Nachtlied«) — unter denen das vorstehende aber um seinen legitimen Platz nicht zu fürchten braucht.
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Verklärte Nacht
Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;
der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen;
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:
Ich trag ein Kind, und nit von Dir,
ich geh in Sünde neben dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen.
Ich glaubte nicht mehr an ein Glück
und hatte doch ein schwer Verlangen
nach Lebensinhalt, nach Mutterglück
und Pflicht; da hab ich mich erfrecht,
da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
von einem fremden Mann umfangen,
und hab mich noch dafür gesegnet.
Nun hat das Leben sich gerächt;
nun bin ich Dir, o Dir begegnet.
Sie geht mit ungelenkem Schritt.
Sie schaut empor; der Mond läuft mit.
Ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Die Stimme eines Mannes spricht:
Das Kind, das du empfangen hast,
sei deiner Seele keine Last,
o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
Es ist ein Glanz um alles her;
du treibst mit mir auf kaltem Meer,
doch eine eigne Wärme flimmert
von dir in mich, von mir in dich.
Die wird das fremde Kind verklären,
du wirst es mir, von mir gebären;
du hast den Glanz in mich gebracht,
du hast mich selbst zum Kind gemacht.
Er faßt sie um die starken Hüften.
Ihr Atem küßt sich in den Lüften.
Zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht.
Fürwahr ein Gedicht, nahe am Schwulst gebaut — aber seine inhaltliche, menschliche Großartigkeit, mit der das Themenfeld Schuld, Gewissen, Vergebung, Annahme und Liebe hier behandelt wird, die uns die künstlerischen Mängel vergessen läßt, erschließt sich erst beim Anhören der Musik, zu der es Arnold Schönberg in seinem Streichsextett op. 4 inspirierte! Es ist eine Musik, die, wiewohl im tonalen System noch wurzelnd, dieses auf weite Strecken fast transzendiert (und insofern war die Konsequenz, die Schönberg mit seinem Weg in die Atonalität zog, nur logisch — wenn auch im Ergebnis eher wenig erbaulich anzuhören). Der damals 25-jährige Komponist schuf ein Werk, das sich klarerweise aus Vorbildern, durchaus disparaten Vorbildern übrigens wie Wagners Tristan und Spätwerken von Brahms, orgiastischen Musikeruptionen eines Richard Strauss ebenso wie tragisch umdüsterten Mahler-Symphonien, speist, doch über sie in einem unverwechselbaren Personalstil hinausgeht.
Es ist eine Musik, die zwar dem Verlauf des Gedichtes getreulich folgt, und doch in ihrer inneren Logik der Themenentwicklung nicht weniger konsequent ist als jedes Streichsextett »absoluter« Kammer-musik. Es ist aber v.a. eine Musik, die alle Stimmungsvaleurs, die sich im Text des Gedichts wohl intendiert, aber durch Worte als nicht hinlänglich »transportierbar« erweisen, mit einer geradezu erschütternden Tiefe auszudrücken weiß.
Ab min. 16:34 breitet sich eine »Verklärte Nacht« über wogend gebrochene Streicherakkorde und wird ab min. 18:57 zu einer intensiven Liebesszene, wobei ab min. 20:48 (man mag an »Er faßt sie um die starken Hüften« denken) die Musik wohl weit mehr verrät, als die spröden Worte »Ihr Atem küßt sich in den Lüften« sich auszusagen getraute. Und ab min. 24:30 schließlich gehen in der Tat zwei Menschen durch hohe, helle Nacht ...
Es verhält sich mit diesem meisterhaften Streichsextett wohl so, wie zwischen diesen zwei Menschen im Gedicht. Der Dichter könnte wohl zum Komponisten mit vollem Recht sagen: »... du wirst es mir, von mir gebären ...«.
P.S.: Schönberg erstellte 1917 auch eine Version für Streichorchester, welche gegenüber dem Original manche Vorzüge, aber auch Nachteile hat, jedenfalls aber durch das Hinzutreten von Kontrabässen und den satteren Klang eines Orchesters ungemein beeindruckend klingt. Besonders in Leopold Stokowskis großartiger Interpretation (bei der hier nur kurz auf die wirklich »gänsehauterregende« kurze Stelle bei min. 17:10 (die wohl den Vers »du treibst mit mir auf kaltem Meer« in Töne faßt), hingewiesen sei, und die so wohl nur in der Orchesterversion klingen kann!
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P.S.: Schönberg erstellte 1917 auch eine Version für Streichorchester, welche gegenüber dem Original manche Vorzüge, aber auch Nachteile hat, jedenfalls aber durch das Hinzutreten von Kontrabässen und den satteren Klang eines Orchesters ungemein beeindruckend klingt. Besonders in Leopold Stokowskis großartiger Interpretation (bei der hier nur kurz auf die wirklich »gänsehauterregende« kurze Stelle bei min. 17:10 (die wohl den Vers »du treibst mit mir auf kaltem Meer« in Töne faßt), hingewiesen sei, und die so wohl nur in der Orchesterversion klingen kann!
1 Kommentar:
Zumindest ich bin sehr an Ihren kunst- und kulturhistorischen Ausflügen interessiert, werter Hausherr. Schon allein deswegen, weil (ohne zuviel rumschleimen zu wollen, hehe) Sie es schaffen, den betreffenden Künstler in der Kontext einer Zeit zu setzen und entsprechend zu bewerten.
Sie liefern also das, was Kunsthistoriker eigentlich liefern müssten, heutzutage aber kaum noch leisten. Wenn man sich die gelegentlichen länglichen Elaborate in diesem Fachgebiet u.a. beim Ex-Leitmedium anliest, die von einem angeblich Studierten stammen, erkennt man vielleicht, was ich ausdrücken will. Der Name Dehmel ist mir schon einmal vor vielen Jahren untergekommen, jedoch ohne bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Ich hatte ihn inzwischen auch verdrängt, zugegeben. Daher danke für die Erinnerung.
Es stimmt allerdings nicht, dass der Linkipedia-Artikel frei von Gutmenschelei ist, denn wie sonst ist der im Kontext deplatzierte und völlig belanglose Hinweis auf Dehmels Durchhalte-Aufruf im WK I zu verstehen? Das Original wurde wahrscheinlich aus einer älteren, tatsächlich reputablen Quelle geklaut und dann mit ein paar suggestiven Nebensätzen "ergänzt". Dehmels Glück war sein früher Tod, um dort nicht als Wegbereiter der Nazis eingestuft zu werden. Aber vielleicht kommt das noch.
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