Sonntag, 18. Mai 2014

»Hundert notwendige Gedichte und ein überflüssiges«

… lautete der Titel eines Buches, dessen früheren Aufenthaltsort in meiner Bibliothek mir noch heute fest eingeprägt ist — bis … ja bis es zu einer jener notwendigen Umräumaktionen kam, welche dieses Buch (und einige andere) für mich momentan unauffindbar machen — das Wissen um den früheren Standort hilft da leider nicht weiter. Ein Schicksal, das dem Besitzer von Bibliotheken, deren Umfang schön langsam vom vierstelligen in den fünfstelligen Bereich changiert, nicht unbekannt vorkommen dürfte.

Wie auch immer: das schmale Bändchen war recht unterhaltsam zu lesen — einhundertein Gedichte standen da, mit einem Vorwort (oder war es ein Nachwort?), daß der Leser doch, bitteschön, das überflüssige Gedicht selbst herausfinden möge. Hm ... Ich hatte das Problem, gleich eine ganze Reihe davon eher überflüssig zu finden … … aber andererseits: was weiß ich über die literarischen Bedürfnisse jenes Verfassers — recte: Kompilators— des Büchleins?

Durch einen eminent gescheiten und lesenswerten Essay von Josef Hofmiller, über den ich heute bei der Suche nach einer geeigneten Lektüre für den abendlichen Tee gestolpert bin, angeregt, kamen mir eben die »Hundert notwendigen Gedichte …« in den Sinn — und der Gedanke, vielleicht einmal mein Hundert an Gedichten auszuwählen und auf diesem Blog vorzustellen.

Solche eine Auswahl kann nur höchst subjektiv ausfallen, das ist schon klar. Balladen sagen dem einen nichts, den andern begeistern sie. Dieser liebt Sonette, jener verspottet sie als bloß künstliches Reimgeklingel etc. etc. … — dessen ungeachtet hat der bloße Plan, seine höchst-persönlichen »hundert notwendigen Gedichte« (das »überflüssige« lassen wir doch gleich weg …) zu wählen, eine nicht zu unterschätzende Wirkung: er zwingt zum Nachdenken, zur Ent-, und damit: Bescheidung — zur bewußten Wahl …

Die häufig gestellte Frage nach den drei Büchern, »die man auf die einsame Insel mitnehmen wolle« — ach, schrecklich! Es gibt eben nicht bloß drei Bücher, mit denen man sein restliches Leben ausschließlich verbringen möchte, ja könnte, mögen sie so großartig wie auch immer sein! Deshalb formuliere ich die selbstgestellte Frage um: welches sind meine hundert Gedichte, die ich keinesfalls missen möchte. So wird ein Schuh daraus …!

Eine Einschränkung allerdings: da ich nicht beabsichtige, mir Schwierigkeiten einzuhandeln, wird kein Autor, der nach dem 18. Mai 1944 noch am Leben war, zitiert (außer es ginge, bspw. bei einem Kurzgedicht, »innerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts«, wie das gern im Impressum vorgestanzt wird — na, mal sehen …), denn Abmahnklagen von Verlagsanwälten sind lästig bis ruinös. Damit scheiden manche meiner »Lieblinge«, wie z.B. Bergengruen, leider aus.

Eine weitere Einschränkung: ich will nur Originalgedichte, also keine Übersetzungen, aufnehmen — was die Sammlung natürlich schwer »deutschlastig« macht. Aber es geht ja hier nicht um eine (ohnehin ein aussichtloses Unterfangen!) Anthologie der Top-100-Gedichte-der-Weltliteratur, sondern um meine Auswahl aus dem, was ich kenne. Und wie viel kenne ich schon einfach nicht …

Kollege Morgenländer hat vor einiger Zeit mit einer ähnlichen Serie begonnen — vielleicht bietet mein Projekt für ihn eine Anregung, wieder aus dem seit 21. Oktober 2013 gepflegten Winterschlaf zu erwachen. Der Frühling ist da! Nun also, dann fangen wir doch gleich mit einem Gedicht von Joseph von Eichendorf an. Auch wenn es herbstlich, ja winterlich beginnt. Und das ich — dennoch oder deshalb — nicht missen wollte, nein: dieses wirklich nicht …
Das Alter

Hoch mit den Wolken geht der Vögel Reise,
Die Erde schläfert, kaum noch Astern prangen.
Verstummt die Lieder, die so fröhlich klangen,
Und trüber Winter deckt die weiten Kreise.

Die Wanduhr pickt, im Zimmer singet leise
Waldvöglein noch, so du im Herbst gefangen.
Ein Bilderbuch scheint alles, was vergangen,
Du blätterst drin, geschützt vor Sturm und Eise.

So mild ist oft das Alter mir erschienen:
Wart nur, bald taut es von den Dächern wieder
Und über Nacht hat sich die Luft gewendet.

Ans Fenster klopft ein Bot’ mit frohen Mienen,
Du trittst erstaunt heraus — und kehrst nicht wieder,
Denn endlich kommt der Lenz, der nimmer endet.
Im Gymnasium haßte ich immer Aufsätze, in denen eine Gedichtinterpretation das Thema war. Gott sei Dank selten, denn unser Deutschprofessor war ein amusischer Mensch, und so machte er um Lyrik instinktiv einen Bogen. Deshalb verschone ich die geneigten Leser auch meinerseits mit Gedanken zu diesem Gedicht. Sie mögen sich ihre eigenen dazu machen — oder auch nicht …

1 Kommentar:

Brettenbacher hat gesagt…

Ob die "frohe Miene" nicht die des Nachtbarn ist, der sich freut, daß der Gevatter eben beim andern klopft und nicht bei ihm ?
(ein Nachtgedank, ein sich (g)krausender...)
Was es so alles gibt ! Also auch ein Eichendorff-Gedicht, das man noch nicht kannte.
Und es klingt ein wenig wie der "späteste" Hölderlin.
Im Schwarzwald im tiefen freuen wir uns auf weitere Lichtungen im Gedicht.