… also am 30. Juni 1893, wurde als »erstes Kind des gelernten Schneiders Ernst August Ulbricht und dessen Ehefrau Pauline Ida, geb. Rothe, Walter Ulbricht 1893 in der Leipziger Gottschedstraße 4 (heute 25) geboren«. So beginnt die Wikipedia den Lebenslauf eines überaus berüchtigten Ostblock-Politikers — eines Mannes, der mehr als die Hälfte der Zeitspanne, die die DDR auf deutschem Boden bestand, teils auch formell, immer jedoch auch faktisch an ihrer Spitze stand. Die biographischen Details kann und möge jeder selbst nachlesen — es gibt genug Quellen dazu! Denn wie immer in LePenseurs »historischen« Artikeln geht es um das Aufspüren von Gegenwartsbezügen, das Erkennen von Parallelen und Tendenzen, die auch uns Heutigen etwas zu sagen haben, und nicht so sehr um »Historiographie«. Der Artikel über Walter Ulbricht wird außerdem in zwei Teilen erscheinen: der erste — der sich mit seinem An-die-Macht-kommen und -bleiben beschäftigt — heute, zur 120. Wiederkehr von Ulbrichts Geburtstag; der zweite — der seiner Entmachtung und Verdrängung gewidmet sein wird — am 1. August, also 40 Jahre nach seinem Todestag.
Wer war nun dieser Mann mit dem Spitzbart, der hohen Stimme und dem starken sächsischen Dialekt, den man so herrlich karikieren konnte, der sich so gut als Projektionsfläche westdeutscher offenkundiger Haß- und Rache-, jedoch auch uneingestandener Unbehagensgefühle (nämlich mit der eigenen Situation als treue, aber immer noch mit latentem Mißtrauen und unterschwelliger Geringschätzung behandelte Gefolgsleute der Westalliierten) eignete? Der in Mitteldeutschland knapp vor der Nazizeit geborene amerikanische Journalist und Schriftsteller John Dornberg fand in seinem 1968 erschienenen Buch »Deutschlands andere Hälfte« für Ulbricht zwei Bezeichnungen: »der Prokonsul« und »der Büttel«. Beide zeigen in der Tat sehr typische Eigenschaften Ulbrichts auf, ohne freilich seinen Charakter damit auch nur annähernd vollständig zu beschreiben — sie führen uns bloß die Prophezeiung Clara Zetkins, der alten Kommunistin der Weimarer Zeit und mehrfachen Alterspräsidentin des Reichstags, vor Augen:
Schon bald nach Ulbrichts auch formellen Aufstieg zur Spitzenposition kam es 1961 zum Bau der Berliner Mauer — dem die Nachwelt sein wohl bekanntestes Zitat verdankt: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen« — und doch wird dieses Zitat, das allgemein als Beispiel für bedenkenlose politische Lüge gehandelt wird, zugleich zu einem Beispiel für den Facettenreichtum (man könnte auch sagen: die Doppelbödigkeit) der Geschichtsschreibung, sofern man sich denn entschließt, von vorgefaßt-etablierten Erklärungsmustern einen Augenblick abzusehen, und neben »kanonisierten« Geschichtsquellen auch andere zu beachten.
Gerald Götting wird bspw. in seiner Biographie von Peter Joachim Lapp (»Gerald Götting. CDU-Chef in der DDR«, Aachen 2011, S. 70) wie folgt zitiert:
Ulbricht war während all seiner Zeit als DDR-Machthaber freilich eines nur zu bewußt: er war bloß Statthalter (oder »Prokonsul« in Dornbergs Diktion), mit einer beliehenen Machtfülle über die lokale Nomenklatur und Bevölkerung, doch eben immer abhängig vom Wohlwollen, das man ihm und seinem Kurs in Moskau entgegenbrachte. Dieses Wohlwollen wechselte durchaus — einige Male, so z.B. 1953 unmittelbar nach Stalins Tod, oder 1956 nach der berühmten Geheimrede Chruschtschows, wäre Ulbrichts Sturz denkbar gewesen, doch immer wußte er sich in Moskau wieder unentbehrlich zu machen, als verläßlicherer Partner darzustellen als die, die gegen ihn intrigierten, oder die, die auch bloß (wie Grotewohl) aufgrund ihrer Stellung und ihres Ansehens quasi »geborene« Ersatzleute für ihn gewesen wären. Erst die Unduldsamkeiten und Versponnenheiten des Alters, aus denen heraus er mit dem Selbstbewußtsein einer wirtschaftlich — für Ostblock-Verhältnisse! — durchaus erfolgreichen DDR dem »großen Bruder in Moskau« Vorschläge zu unterbreiten, ja sogar die eine oder andere Kritik zu äußern wagte, war sein Verhängnis. Darüber wird aber der zweite Artikel näher berichten.
In wirtschaftspolitischen Fragen war Ulbricht sicherlich ein Gespaltener: einerseits in der traditionellen, dogmatisierten kommunistischen Doktrin der Kollektivierung befangen, erkannte er doch, daß die Ergebnisse dieser Kollektivierung keineswegs den Erfolg brachten, den sie der Ideologie nach eigentlich erbringen mußten. Es war daher kein Zufall, daß Ulbricht, nachdem er seine innerparteilichen Gegner ausgeschaltet, und die widerstrebende Bevölkerung durch den Mauerbau an der Flucht gehindert hatte, in den 60er-Jahren ein »Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung« (NÖSPL) propagierte, das eine Art von »sozialistischer Leistungsgesellschat« bringen sollte — aber eben, wie all solche Experimente, daran krankte, daß eine (möglichst) freie Preisbildung, die als Indikator wirtschaftlicher Sinnhaftigkeit unabdingbar ist, als »Marktwirtschaft« natürlich ideologisch unerwünscht, ja undenkbar gewesen wäre, und daher selbst bei bestem Willen aller Beteiligten das Ergebnis eher den Mutmaßungen der Gefesselten im platonischen Höhlengleichnis vergleichbar gewesen wäre, als der wirtschaftlichen Realität. Dennoch: Ulbricht brachte damit in den 60er-Jahren immerhin eine Art von »sozialistischem Wirtschaftswunder« zuwege, das freilich durch die bloße Tatsache, daß nun nicht ausschließlich auf ideologische Linientreue der Betriebsleitungen, sondern auch auf ihren wirtschaftlichen Sachverstand geschaut wurde, das lebhafe Mißfallen der altgedienten Nomenklaturisten erweckte, die seitdem innerlich von Ulbricht zunehmend abrückten, und sich nach einer dem »Apparat« freundlicheren Alternative umblickten.
Und gerade diese Zeit der späten Ära Ulbricht, der 60er-Jahre des »Neuen Ökonomischen Systems«, ist nun für den Vergleich mit der Gegenwart durchaus interessant — denn in Form unzähliger EU-»Richtlinien«, der Politik der EZB, der Schaffung des ESM, der Ausgestaltung des Bankwesens, des immer engeren Geflechtes von Politik und (Groß-)Unternehmen, begibt sich unsere Wirtschaft quasi »von der anderen Seite« zunehmend auf diese Ebene — und wir finden oft überraschende Parallelen zu unserer Zeit, die uns eigentlich warnen sollten. Keine Frage: die Mittel, mit denen das »Neue Ökonomische System« unserer Tage durchgesetzt werden sollen, sind subtiler und schwerer durchschaubar geworden, denn sie verstecken sich hinter den Masken einer unauslotbaren Geldpolitik der Zentralbanken ebenso, wie hinter Schlagwort-Ideologien wie »Genderisierung«, »soziale Gerechtigkeit«, »Integration« und »Demokratie«. Daß beiden Systemen, dem »NÖS« Ulbichts ebenso wie dem heutigen, angeblich so »kapitalistischen« und so pöhse »neoliberalen«, in Wahrheit jedoch längst korporatistisch-dirigistisch-staatsverflochenen, allerdings ein Mißtrauen vor »unbeherrschbaren« Marktmechanismen — und das heißt eben: vor der nicht vorherplanbaren Freiheit der Marktteilnehmer — innewohnt, ist unübersehbar! Ebenso unübersehbar ist damit freilich das Menetekel, das für eine solche Politik mit der späteren Entwicklung der DDR uns an die Wand geschrieben wird: es ist der Weg in die wirtschaftliche Ineffizienz, in die Vernutzung übernommener Strukturen (materieller wie immaterieller!), die nicht mehr erneuert, ja kaum noch instandgehalten werden (und ab einem gewissen Verfallszustand auch nicht einmal instandgehalten werden können), der Weg in die Stagnation durch Verknöcherung und gleichzeitige Aufblähung der Apparate — kurzum: in all das, was dann die Agonie-Periode der Honecker-Zeit bis zu ihrem Zusammenbruch ausmachte.
Wer war nun dieser Mann mit dem Spitzbart, der hohen Stimme und dem starken sächsischen Dialekt, den man so herrlich karikieren konnte, der sich so gut als Projektionsfläche westdeutscher offenkundiger Haß- und Rache-, jedoch auch uneingestandener Unbehagensgefühle (nämlich mit der eigenen Situation als treue, aber immer noch mit latentem Mißtrauen und unterschwelliger Geringschätzung behandelte Gefolgsleute der Westalliierten) eignete? Der in Mitteldeutschland knapp vor der Nazizeit geborene amerikanische Journalist und Schriftsteller John Dornberg fand in seinem 1968 erschienenen Buch »Deutschlands andere Hälfte« für Ulbricht zwei Bezeichnungen: »der Prokonsul« und »der Büttel«. Beide zeigen in der Tat sehr typische Eigenschaften Ulbrichts auf, ohne freilich seinen Charakter damit auch nur annähernd vollständig zu beschreiben — sie führen uns bloß die Prophezeiung Clara Zetkins, der alten Kommunistin der Weimarer Zeit und mehrfachen Alterspräsidentin des Reichstags, vor Augen:
Ein gütiges Schicksal bewahre die KPD davor, daß dieser Mann mal an die Oberfläche gespült wird. Sehen Sie seine Augen, und Sie werden erkennen, wie verschlagen und unaufrichtig er ist.Aber war das der »ganze« Ulbricht? Wohl kaum, denn wie wären sonst jene Kommentare erklärbar, die an ihm — auch lange nach seinem Sturz vom Thron der Macht, sogar lange nach seinem Tod — durchaus andere Facetten bemerkenswert fanden. So meinte etwa Gerald Götting, der jahrzehntelange Chef der Ost-CDU noch im Jahr 2011 in einem Interview in der »Mitteldeutschen Zeitung«:
Was unterschied sich in Ihrem Verhältnis zu Ulbricht von dem zu Honecker? Was hielten Sie von dem einen, was von dem anderen?Auch einer der erfolgreichsten Wissenschaftler der DDR, der »volkseigene Baron« (wie man ihn spöttisch nannte) Manfred von Ardenne findet in seinen »Erinnerungen« anerkennende Worte über Ulbricht:
Götting: Ulbricht wie Honecker waren höchste Instanzen, freilich mit einem Generationsunterschied und einer unterschiedlichen Vita. Ulbricht kannte noch das Kaiserreich, Deutschland in seiner Größe und Macht vor dem Ersten Weltkrieg. Von daher bezog er Maßstäbe auch in Bezug auf Andersdenkende. Er hatte Format. Mit ihm gab es nur einen sehr korrekten Umgang. Wir waren stets per »Sie«. Honecker gehörte zur FDJ-Generation. Er kannte nicht die Emigration. Er verbrachte zehn seiner besten Jahre im Zuchthaus der Nazis. Der »gute saarländische Bub« hätte die DDR gern bunter gemacht, wenn er denn gekonnt hätte. Er war ein guter Kumpel, wo er nicht den Machtmenschen spielen musste.
(Interview mit Gerald Götting 4.11.2011)
Die gute Beziehung zum Vorsitzenden des Staatsrates Walter Ulbricht und die Absicht, notwendige Reformen durchzusetzen, ermutigten mich 1968, in einer Sitzung des Ministerrates und des ZK der SED an W. Ulbricht und G. Mittag ein […] 58-Seiten-Dokument zu übergeben mit dem Titel: »Systemtheoretische Betrachtungen zur Optimierung des Regierens. Studie zur Regierungsstruktur im kybernetischen System der Gesellschaft«. Das Dokument […] enthielt bereits mehrere der am 16.10.1989 kurz vor dem Sturz Honeckers von mir im Kulturpalast Dresden geforderte Reformen. Die Bedingungen in Berlin 1968 waren noch nicht reif für ein Herangehen an die Lösung der mit diesen Fragen verbundenen großen politischen und ideologischen Probleme.Wer also war nun dieser Mann, der als verschlagener Funktionär ebenso beschrieben werden konnte, wie als Mann von Format, als unaufrichtige Funktionärestype ebenso, wie als — leider verhinderter — Reformer? Ernst Lemmer, der ihn in der Nachkriegszeit in Berlin als (Ost-)CDU-Funktionär »hautnah« kennenlernte, charakterisiert ihn folgendermaßen:
(M. v. Ardenne: »Die Erinnerungen«, München 1990, S. 284)
Er war hart und bestimmt, formulierte genau, worauf er aus war, und wich nicht von seiner Linie ab. […] Ulbricht achtete sorgfältig darauf, daß die kommunistische Fassade tunlichst nicht zu deutlich in Erscheinung trat. Deshalb interessierte er sich auch weniger für seine Genossen, derer er ja in jeder Hinsicht absolut sicher war, als vielmehr für die Persönlichkeiten aus den anderen Lagern. […]Ulbrichts Aufstieg zur Macht in der DDR war sicherlich auch Folge der bereits deutlich erkennbaren Betagtheit von Wilhelm Pieck (wobei die Frage dahingestellt bleibe, ob ein »jüngerer« Pieck, mit seiner damals doch sehr polternden, angriffigen Art für die Bevölkerung wirklich die bessere Wahl gewesen wäre!) — aber auch des mangelnden »politischen Killerinstiktes« von Otto Grotewohl, der bis 1954 als — gemeinsam mit Pieck — Parteivorsitzender der SED dem organisatorisch mächtigen »Generalsekretär« formell vorgesetzt war, ebenso, wie er als Ministerpräsident vor Ulbricht (der nur sein »Erster Stellvertreter« war) rangierte. Dennoch konnte sich Grotewohl, der selbst einbekannte
Es wird wohl wenige Menschen geben, die Ulbricht einmal in ausgesprochen fröhlicher Stimmung gesehen haben. Es ließ sich eigentlich kaum vorstellen, daß er zu Gemütsbewegungen irgendwelcher Art überhaupt fähig war. Auch sein Mienenspiel blieb durch eine immer gleichbleibende Maske verborgen. In den Gesprächen formulierte er behutsam, um ja kein Wort zuviel zu sagen. Auch dieses Verhalten war beste sowjetische Schule. Wenn er spürte, daß dieser oder jener für eine Zusammenarbeit in Aussicht genommene vielleicht doch nicht der rechte Mann sein werde, dann wußte er mit kalter und bösartiger Verachtung zu reagieren. Auch ich bekam das nicht nur einmal zu spüren. Man mußte wissen, wie man sich in seiner Gegenwart zu benehmen hatte. Einschüchtern durfte man sich nicht lassen, sondern mußte betont Gleichmut zeigen. Ulbricht schwenkte wieder ein, sobald er damit rechnete, das Nachgeben habe noch einen Sinn.
(E. Lemmer: »Manches war doch anders«, München 1996, S. 256)
Ich bin durch Zufall hochgespült worden in diese Position. Ich muß sie jetzt ausfüllen, und ich will sie auch ausfüllen, und ich will auch lernen. (M. Jodl: »Amboß oder Hammer? Otto Grotewohl, Eine politische Biographie«, Berlin 1997, S. 153)gegen den geborenen Funktionärstyp und Machtmenschen Ulbricht nie durchsetzen. Nach dem Tode Piecks 1960 war Grotewohl noch beschieden, als Regierungschef die Abschaffung des Präsidentenamtes zugunsten eines »Staatsrates« in der Volkskammer zu präsentieren, und Ulbricht als Vorsitzenden dieses höchsten staatlichen Gremiums vorzuschlagen. Grotewohl war freilich zu diesem Zeitpunkt schon so schwer herzleidend, daß danach bereits sein neuer »Erster Stellvertreter« (und späterer Nachfolger) Willi Stophh faktisch dem Ministerrat vorstand.
Schon bald nach Ulbrichts auch formellen Aufstieg zur Spitzenposition kam es 1961 zum Bau der Berliner Mauer — dem die Nachwelt sein wohl bekanntestes Zitat verdankt: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen« — und doch wird dieses Zitat, das allgemein als Beispiel für bedenkenlose politische Lüge gehandelt wird, zugleich zu einem Beispiel für den Facettenreichtum (man könnte auch sagen: die Doppelbödigkeit) der Geschichtsschreibung, sofern man sich denn entschließt, von vorgefaßt-etablierten Erklärungsmustern einen Augenblick abzusehen, und neben »kanonisierten« Geschichtsquellen auch andere zu beachten.
Gerald Götting wird bspw. in seiner Biographie von Peter Joachim Lapp (»Gerald Götting. CDU-Chef in der DDR«, Aachen 2011, S. 70) wie folgt zitiert:
Ulbricht erzählte Götting im August 1961 während einer gemeinsamen Autofahrt die näheren Umstände, wie es zu der Entscheidung gekommen war. Und daß ihm die Hände gebunden seien, öffentlich die Sachlage zu erklären, warum er im Juni 1961 die Aussage »Niemand hat die Absicht …« gemacht hatte: Weil er fest mit dem Abschluß eines Friedensvertrags rechnete, der ihm von chruschtschow versprochen worden war. Nach dem 13. August 1961 stand er nun als Lügner da, was aber nicht der historischen Wahrheit entsprach.Nun könnte dies natürlich ein Erinnerungsfehler oder gar eine bewußte Fälschung Göttings sein — nur welchen Sinn hätte dies so viele Jahre nach dem Ende der DDR gehabt? Oder hatte Ulbricht vielleicht Götting bloß etwas vorgelogen? Aber auch hier: cui bono? Hatte er es nötig, sein Image gegenüber einem jungen Blockflöten-Politiker aufzupolieren? Wäre der durch eine Version, dies sei eben geschickte und geglückte Desinformation des »Klassenfeindes« gewesen, nicht eher beeindruckbar gewesen als durch das Eingeständnis, eine Sache falsch eingeschätzt zu haben?
Ulbricht war während all seiner Zeit als DDR-Machthaber freilich eines nur zu bewußt: er war bloß Statthalter (oder »Prokonsul« in Dornbergs Diktion), mit einer beliehenen Machtfülle über die lokale Nomenklatur und Bevölkerung, doch eben immer abhängig vom Wohlwollen, das man ihm und seinem Kurs in Moskau entgegenbrachte. Dieses Wohlwollen wechselte durchaus — einige Male, so z.B. 1953 unmittelbar nach Stalins Tod, oder 1956 nach der berühmten Geheimrede Chruschtschows, wäre Ulbrichts Sturz denkbar gewesen, doch immer wußte er sich in Moskau wieder unentbehrlich zu machen, als verläßlicherer Partner darzustellen als die, die gegen ihn intrigierten, oder die, die auch bloß (wie Grotewohl) aufgrund ihrer Stellung und ihres Ansehens quasi »geborene« Ersatzleute für ihn gewesen wären. Erst die Unduldsamkeiten und Versponnenheiten des Alters, aus denen heraus er mit dem Selbstbewußtsein einer wirtschaftlich — für Ostblock-Verhältnisse! — durchaus erfolgreichen DDR dem »großen Bruder in Moskau« Vorschläge zu unterbreiten, ja sogar die eine oder andere Kritik zu äußern wagte, war sein Verhängnis. Darüber wird aber der zweite Artikel näher berichten.
In wirtschaftspolitischen Fragen war Ulbricht sicherlich ein Gespaltener: einerseits in der traditionellen, dogmatisierten kommunistischen Doktrin der Kollektivierung befangen, erkannte er doch, daß die Ergebnisse dieser Kollektivierung keineswegs den Erfolg brachten, den sie der Ideologie nach eigentlich erbringen mußten. Es war daher kein Zufall, daß Ulbricht, nachdem er seine innerparteilichen Gegner ausgeschaltet, und die widerstrebende Bevölkerung durch den Mauerbau an der Flucht gehindert hatte, in den 60er-Jahren ein »Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung« (NÖSPL) propagierte, das eine Art von »sozialistischer Leistungsgesellschat« bringen sollte — aber eben, wie all solche Experimente, daran krankte, daß eine (möglichst) freie Preisbildung, die als Indikator wirtschaftlicher Sinnhaftigkeit unabdingbar ist, als »Marktwirtschaft« natürlich ideologisch unerwünscht, ja undenkbar gewesen wäre, und daher selbst bei bestem Willen aller Beteiligten das Ergebnis eher den Mutmaßungen der Gefesselten im platonischen Höhlengleichnis vergleichbar gewesen wäre, als der wirtschaftlichen Realität. Dennoch: Ulbricht brachte damit in den 60er-Jahren immerhin eine Art von »sozialistischem Wirtschaftswunder« zuwege, das freilich durch die bloße Tatsache, daß nun nicht ausschließlich auf ideologische Linientreue der Betriebsleitungen, sondern auch auf ihren wirtschaftlichen Sachverstand geschaut wurde, das lebhafe Mißfallen der altgedienten Nomenklaturisten erweckte, die seitdem innerlich von Ulbricht zunehmend abrückten, und sich nach einer dem »Apparat« freundlicheren Alternative umblickten.
Und gerade diese Zeit der späten Ära Ulbricht, der 60er-Jahre des »Neuen Ökonomischen Systems«, ist nun für den Vergleich mit der Gegenwart durchaus interessant — denn in Form unzähliger EU-»Richtlinien«, der Politik der EZB, der Schaffung des ESM, der Ausgestaltung des Bankwesens, des immer engeren Geflechtes von Politik und (Groß-)Unternehmen, begibt sich unsere Wirtschaft quasi »von der anderen Seite« zunehmend auf diese Ebene — und wir finden oft überraschende Parallelen zu unserer Zeit, die uns eigentlich warnen sollten. Keine Frage: die Mittel, mit denen das »Neue Ökonomische System« unserer Tage durchgesetzt werden sollen, sind subtiler und schwerer durchschaubar geworden, denn sie verstecken sich hinter den Masken einer unauslotbaren Geldpolitik der Zentralbanken ebenso, wie hinter Schlagwort-Ideologien wie »Genderisierung«, »soziale Gerechtigkeit«, »Integration« und »Demokratie«. Daß beiden Systemen, dem »NÖS« Ulbichts ebenso wie dem heutigen, angeblich so »kapitalistischen« und so pöhse »neoliberalen«, in Wahrheit jedoch längst korporatistisch-dirigistisch-staatsverflochenen, allerdings ein Mißtrauen vor »unbeherrschbaren« Marktmechanismen — und das heißt eben: vor der nicht vorherplanbaren Freiheit der Marktteilnehmer — innewohnt, ist unübersehbar! Ebenso unübersehbar ist damit freilich das Menetekel, das für eine solche Politik mit der späteren Entwicklung der DDR uns an die Wand geschrieben wird: es ist der Weg in die wirtschaftliche Ineffizienz, in die Vernutzung übernommener Strukturen (materieller wie immaterieller!), die nicht mehr erneuert, ja kaum noch instandgehalten werden (und ab einem gewissen Verfallszustand auch nicht einmal instandgehalten werden können), der Weg in die Stagnation durch Verknöcherung und gleichzeitige Aufblähung der Apparate — kurzum: in all das, was dann die Agonie-Periode der Honecker-Zeit bis zu ihrem Zusammenbruch ausmachte.