Donnerstag, 3. November 2016

In memoriam August Winnig

Heute vor sechzig Jahren, am 3. November 1956, ist der deutsche Gewerkschafter, Politiker und Schriftsteller August Winnig zu Bad Nauheim gestorben. Die äußeren Lebensdaten gibt Wikipedia halbwegs erschöpfend, die gewohnten Seitenhiebe auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 erfolgen sogar in vergleichsweise zurückhaltender Form: offenbar will man einem ehemaligen Sozen doch nicht zu sehr ans Bein pinkeln …

Nur im Abschnitt „Zitate“ tobt man sich aus: da werden aus einem mehrtausendseitigen Gesamtwerk gerade mal vier Zitate gebracht, von denen drei … ähm … seltsamerweise nur eine einzige Seite Winnigs beleuchten wollen: den Krypto-Nazi und unverbesserlichen Antisemiten. Das vierte (und recht lange, daher von den meisten kaum zur Gänze gelesene) besagt zwar das Gegenteil — doch „man merkt die Absicht und ist verstimmt“: auch die drei „griffigen“ Zitate „stimmen“ zwar, aber sie sind ohne ihren Zusammenhang, und eben auch ohne die hundertfach (!) möglichen, völlig anderen Zitate ausgewählt, die Winnig (und auch diese seine Zitate) in ganz anderem Licht zeigen würden. Das ist etwa so „objektiv“, wie wenn man in einem Artikel über Goethe nur sein sattsam bekanntes Diktum aus dem „Götz von Berlechingen“ brächte, und anhand dessen insinuieren wollte, Goethe wäre eben doch bloß ein Fäkaldichter gewesen …

Zu Wikipedias Ehrenrettung sei erwähnt, daß beim Abschnitt immerhin folgender Warnhinweis angebracht ist:
Dieser Artikel oder nachfolgende Abschnitt ist nicht hinreichend mit Belegen (beispielsweise Einzelnachweisen) ausgestattet. Die fraglichen Angaben werden daher möglicherweise demnächst entfernt.

Das besonders auffällige (und dazu mit einem irreführenden Linkverweis ausgestattete) Zitat:
„Blut und Boden sind das Schicksal der Völker.“ Eröffnungssatz seiner Schrift Befreiung (1926) und des Buches Das Reich als Republik (1928) (siehe auch: Blut-und-Boden-Ideologie)
… läßt schon die Frage aufkommen: haben die Artikelautoren sich überhaupt der Mühe unterzogen, Winnigs Schriften (die in Antiquariaten und Bibliotheken ja völlig problemlos erhältlich sind, denn sie wurden auch in der Nachkriegszeit mehrfach wieder aufgelegt) zu lesen? Oder reproduzieren sie bloß irgendwelche Stehsätzchen einer „Nazi“-Jägerseite namens „NS-Spurensuche im Lande Braunschweig“? Dieser Verdacht liegt wenigstens nahe, und irgendwie erinnert das ganze an die bekannte chinesische Parabel vom Axtdieb

Was da gegen August Winnig vorgebracht wird, ist teilweise schon hart an (und über) der Grenze zum Lächerlichen:
1927 eröffnete er einen Artikel mit dem Satz: „Der Widerwille gegen das Parteiwesen ist zweifellos eine der gesündesten Regungen in unserem Volk.“
Mit diesem offenbar als vernichtend verstandenen Zitat versucht der Kritiker August Winnigs nachzuweisen, daß dieser ja doch ein Antidemokrat und pöhser Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen sein müsse. Pech nur, daß genau dasselbe ein aufrechter Demokrat zu jeder Zeit sagen könnte, nein: müßte! Denn das Parteiwesen ist eben eines der Krebsübel der Demokratie — genauso, wie der Berufspolitiker. Nur Berufspolitiker (und jene die es gerne wären bzw. von diesen profitieren) halten deren Tätigkeit permanenter Intrige, Kungelei und Skandalisierung für wichtig und unabdingbar für das Wohl der Gesellschaft.

Wer Politik berufs- und erwerbsmäßig betreibt, macht doch im Prinzip nichts anderes als jene „Damen“ im Rotlichtmilieu, die früher euphemistisch als „Liebesdienerinnen“ bezeichnet wurden, und doch bloß … Huren waren. Nur daß letztere gegenüber Politikern üblicherweise den Vorteil haben, daß
  • ihre Dienste freiwillig nachgesucht werden, und
  • sie meist einem — obschon höchst informellen — Ehrenkodex folgen, der den vorsätzlichen, groben Beschiß des Kunden weitgehend verhindert.
Berufspolitiker hingegen leben geradezu vom permanenten Beschiß ihrer Wähler …

Winnig war, wie seine „Karriere“ beweist, eben kein solcher Berufspolitiker! Er vertrat seine Standpunkte, ob gelegen oder ungelegen — und zog sich ganz ohne die typische Sesselkleber-Mentalität geeichter Politruks ins Privatleben zurück, als diese seine Standpunkte seitens der Mächtigen nicht geteilt wurden. Er wurde Schriftsteller. Und was für einer!

Man will es fast nicht glauben, daß ein aus einfachen Verhältnissen stammender Maurer ein so klassisch schönes Deutsch schreiben kann! Und doch: in der Literatur des 20. Jahrhunderts gibt es wenige Schriftsteller, die ihm an — völlig unprätenziöser! — Sprachschönheit und Stilreinheit das Wasser reichen können, und nur von den größten Dichtern wird er darin übertroffen. Sein einziger Roman, „Wunderbare Welt“ beweist zwar hinlänglich, daß Winnig nicht der geborene Romancier war, doch scheint er dies auch selbst so empfunden zu haben: seine anderen dichterischen Werke sind zum kleineren Teil kurze Erzählungen, weitaus umfangreicher aber autobiographische Schriften, die seinen Werdegang vom armen, früh zum Halbwaisen gewordenen Knaben bis hin zum erfolgreichen, weithin be- und geachteten Schriftsteller und Essayisten ebenso detailreich wie überaus packend nachzeichnen. Sein letztes großes Werk ist „Aus zwanzig Jahren“, das die Zeit von 1925 bis 1945 behandelt, also jene Zeit der späteren Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, in der Winnig ausschließlich durch seine Bücher und sonstigen Schriften wirkte, sich jedoch gegenüber Schalmeien der Nazis völlig taub erwies. Hitler bot ihm für den Eintritt in die NSDAP den Posten des preußischen Ministerpräsidenten an, man versuchte ihn — da seine Verankerung in der Evangelischen Kirche allseits bekannt war — für die kirchenpolitischen Pläne der Nazis zu werben. Winnig lehnte beides ab. Sollte nicht allein das ausreichen, den Vorwurf, ein „Wegbereiter des Nationalsozialismus“ gewesen zu sein, als völlig absurde Schmähung zu enttarnen?

Doch weiter mit den Bemühungen des „NS-Spurenjägers im Lande Braunschweig“, Winnig möglichst zu diskreditieren:
Europa sei die Zeugung der Germanen und der Römer, begann er 1937 seine „deutschen Ansichten“ über unseren Kontinent, die er rassistisch unterlegte: „Der Stratosphären- flug, die Idee des Raumschiffes - dergleichen ist nur dem europäischen Menschen möglich.“ Die europäischen Revolutionen erklärte er in der Weise, daß der „bildungs-hungrige Arbeiter“ nicht an den „deutschgesinnten Gebildeten“ geraten war, sondern an „unbeschäftigte Intellektuelle“, die sich in ihrem Wert verkannt und beiseite gestellt sahen „und darum für revolutionäre Lehren und Losungen besonders empfänglich gewesen“ seien.
Und? Wie viele Raumschiffe und Stratosphärenflüge sind uns denn von den Maoris, Sioux-Indianern, Aschantinegern oder Kamtschadalen überliefert? Und daß die Revolutionen von 1917 ff. (aber schon ihre Vorboten im 19. Jahrhundert) v.a. durch ressentimentgeladene Intellektuelle geschürt wurden, und es für das Schicksal der Menschheit wohl kein Nachteil gewesen wäre, wenn die blutigen Schlächtereien der Bolschewiken, Mexikaner oder spanischer Rotfrontverbrecher unterblieben wären — das zählt nicht? Das darf nicht erwähnt werden?

Überdies ist das Zitat unvollständig und sogar im Wortlaut leicht (aber tendenziös!) entstellt. Die Passage lautet nämlich (zitiert nach „Aus zwanzig Jahren“ S 123 f. — Winnig zitiert sich hier aus seinem Werk „Europa“ selbst):
»… daß hier aus der Durchmischung des Blutes, aus der vielfachen Begegnung einander fremder Gesittungen ein geschichtliches Gebilde von höchstem Rang entstanden ist. Europa ist das Werk der Germanen. Europa ist das Werk Roms [Anm. LP: nicht „der Römer“ — was das Ganze einer bloß „biologistisch“ verstandenen Rassendoktrin enthebt!] Europa ist die Zeugung dieser beiden Lebensmächte. Germanentum war Jugend, Sehnsucht und Bereitschaft. Auftrag und Schicksal schwebten über ihm noch ungesehen. Römertum war Bewußtheit und Reife. Als Germanentum und Römertum sich begegnete, war für beide eine Entscheidung gefallen.«
Und weiter: »Der gestaltende Künstler bedarf des Werkzeuges und Stoffes. Der Meißel ist ein gewöhnlich Ding, und der Stein weiß nicht, was mit ihm geschieht und welche Gestalten in ihm ruhen. Ein Wille außer ihm entscheidet und bestimmt, und der Stein weiß nichts davon, wie auch der Meißel nicht weiß, welchem Zweck er dient. Er dienst dem Herrn und Meister nach dessen Willen zu Plan und Werk.«
Etwas unvermittelt las ich weiter: »Die germanischen und germanisch überschichteten Völker empfingen ihren Auftrag, als sie das Christentum annahmen, das Rom ihnen darbot. Alles, was Rom ihnen außerdem zu geben hatte, mag nach seinem größeren oder geringeren Wert zu schätzen sein. Vor dieser Gabe aber versagt unser Maß. Hier waren die Menschen, die römischen Priester nicht weniger als die Goten, Langobarden und Franken, nur Werkzeuge in der Hand des Meisters. Der Glaube fand das menschliche Gefäß, das ihn zu fassen vermochte. Das große Wunder der Menschwerdung Gottes, den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit, fand in der Germanenseele den Ort seiner Bestimmung.«
Ich hielt inne und blickte auf. Die weitoffenen Augen der Schüler waren mir starr zugewandt. Dergleichen war hier noch nicht gesagt worden. Vielleicht waren solche Worte überhaupt noch nicht vor ihren Ohren erklungen. War ein Schrecken in sie gefahren?
Ein paar Sätze wollte ich noch lesen: »Wenn in irgendeinem Sinne von einer Sendung Europas gesprochen werden kann, so setzt jede Sendung die Einheit Europas voraus; und darum wurzelt alles, was Europa heute jemals als Sendung empfinden mag, in jenem Glauben, durch den es einst Einheit geworden ist … Um den Kern der Glaubenseinheit ist alles gewachsen, was als gemeinsamer Erwerb unser Besitz und Stolz ist … Wir sehen Europa bedroht und einem Verhängnis entgegengleiten, aber wir wissen nicht, was auf uns lauert. Wir vermögen nicht auszudenken, was etwa einem Zerfall der Einheit Europas folgen kann oder folgen muß. Was es für die Welt bedeutet, wenn Europa nicht mehr die Geschichtsmitte des Planeten ist; wie die Völker in einem zertrümmerten Europa leben werden: das kann keiner ausdenken. Aber wir wollen und darüber klar werden, daß die Gefahr besteht und daß wir uns dem Verhängnis nähern.«
Nun, das alles klingt nicht gerade nach Nazi, oder? Und Winnig hatte diese Worte in einem Vortrag vor jungen Nationalsozialisten, nämlich in der „Reichsführerschule der Hitler-Jugend“, gesprochen. Dem verwegenen Lehrer, der ihn dorthin eingeladen hatte, waren noch zwei weitere Einladungen an Winnig möglich, danach nicht mehr, wie man sich vorstellen kann …

Man mag die im obigen Zitat ausgesprochenen Ansichten inhaltlich falsch finden, zu religiös konnotiert — wie auch immer. Aber sie sind eines mit Sicherheit nicht: nazi-nahe. Dennoch, der Kritikus läßt nicht locker:
Einige antisemitische Erkenntnisse des späteren Ehrendoktors der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen muß man schon genauer lesen, daher hier ein längeres Zitat. Der Jude habe „seine Rückgefühle“ mit eingebracht: „Es lebte in seinem Bewußtsein oder auch nur in seinem Unterbewußtsein der Gedanke, daß er jahrhundertelange Beiseitesetzung und Unterdrückung an seinem Wirtsvolk zu rächen habe. Zwischen den jüdischen Geistigen und der deutschen Lebensordnung bestand so von vornherein eine feindselige Spannung. Das tritt schon bei den ersten Juden im deutschen Schrifttum, bei Börne und Heine zutage. Da schon zeigte sich, wie der Jude dazu neigte, das deutsche und seine Ausdrucksformen abzulehnen und herabzusetzen. Je mehr sich der Jude in das deutsche öffentliche Leben hineindrängte, umso mehr breitete sich in dem von ihm bestrichenen Raume ein spöttischer, frecher, neidischer und gehässiger Ton aus, der sich allmählich gegen alles Deutsche und seine Lebensformen wandte.“
Antisemitisch? Ja, wenn man dann auch bereit ist, Karl Kraus als Antisemiten zu bezeichnen. Denn die unzähligen Charakterisierungen von Heine durch Karl Kraus haben es in sich, und was er über diverse Redakteure der maßgeblichen Presseorgane seiner Zeit sagte (von deren Zugehörigkeit zum Judentum jeder wußte, welche Kraus übrigens auch unmißverständlich thematisierte), wäre heute wohl unter dem Gummiparagraphen der „Verhetzung“ strafbar.
1957 wurde die Vienenburger Realschule […] nach August Winnig benannt. Nach dem Krieg lebte er bis zu seinem Tod in Vienenburg. Er war auch Autor einschlägiger antisemitischer Schriften: Ein Antisemit als Namenspatron einer Schule!
Man stelle sich vor! Allerdings: wenn ein Katholikenschlächter wie König Gustav Adolph von Schweden bis heute einer Gesellschaft zur Förderung des ach-so-friedlichen-Wonne-und-Eierkuchen-Protestantismus seinen Namen geben darf, wenn auch heute noch Sokratische Gesellschaften blühen und Platons Lehren an jeder Philosophischen Fakultät gelehrt werden, obwohl Sokrates und Platon Sklavenhalter waren und an der Sklaverei auch nichts böses fanden (oder ist Sklaverei etwa nicht ein ähnliches, vielleicht gar schlimmeres No-no als der Antisemitismus?), oder wenn ein geschichtsbekannter Kinderschänder den ca. 1,5 Milliarden Muselmanen als das Idealbild des Menschen schlechthin verkauft wird — dann sollte doch der mental-emotionelle Schaden einer Winnig-Namensgebung für die Realschule in Vienenburg noch einigermaßen überschaubar bleiben, oder?
Über vierzig Jahre lang ehrte die Schule ihren Namensgeber und schenkte Schülern mit guten Leistungen seine Bücher als Belohnung, die auch noch nach 1945 erschienen.
Huch, da haben doch Kinder tatsächlich jemanden zu lesen bekommen, dessen Schriften von den Behörden der Sowjet-Zone sofort auf den Index gesetzt worden waren — einfach unverantwortlich, sowas!
Die Schule ist nach der Entdeckung seines Antisemitismus – nicht seitens der Schule, sondern durch mich - und einer langen öffentlichen Diskussion 2004 durch den Stadtrat schlicht in Realschule Vienenburg umbenannt worden.
Was wären die großen Erfolge ohne die kleinen, kann man da nur sagen … wobei die großen Erfolge doch eher ausblieben: Nazi-Verstrickungen roter und schwarzer Politbonzen waren in aller Regel nicht mit dem Verlust von Namenpatronaten verbunden; Altkommunisten wie ein Wehner konnten zu Bundestagspräsidenten*) SPD-Fraktionsvorsitzendenaufsteigen, ein „kriminaltechnisch“, wenn man so sagen darf, einigermaßen dubioser Herr Frahm sogar Bundeskanzler werden (bzw. wegen der daraus resultierenden Erpreßbarkeit für die Westalliierten: vielleicht gerade deshalb …).

Aber natürlich gab es zum Bedauern des Kritikus auch Rückschläge im Bemühen um eine möglichst vollständige damnatio memoriæ, so z.B. in Winnigs Geburtsstadt:
In Winnigs Geburtsort Blankenburg erhielt die nach einem von den Nazis ermordeten kommunistischen Arbeiter benannte Straße nach der Wende Winnigs Namen.
Welch Skandal, daß der Name eines von Anhängern der nationalsozialistischen Banditenbewegung ermordeten Anhängers der internationalsozialistischen Banditenbewegung dem Namen eines Schriftstellers weichen mußte, dem man weder Morde noch auch andere Übeltaten nachsagen kann, als die, im Gegensatz zu seinen Kritikern mit der Gnade der späten Geburt im Jahr 1933 nicht schon gewußt zu haben, wohin sich das Nazi-Regime bis 1945 entwickeln würde. Denn er war eben Politiker und Schriftsteller, und wohl nur zu kurze Zeit Journalist: denn nur diese haben — nach einem bekannten Diktum von Karl Kraus — im nachhinein immer alles schon vorher gewußt …
1955 verlieh ihm Bundespräsident Heuss, der den politischen Publizisten aus seiner eigenen Weimarer Zeit hat kennen müssen, in „Anerkennung der um Staat und Volk erworbenen besonderen Verdienst“ das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Tja — und was, cher Kritikus, halten Sie von der These, daß Heuss, der Winnig wohl nicht bloß „aus seiner eigenen Weimarer Zeit hat kennen müssen“, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich persönlich gekannt hat, ihm genau deshalb das Große Verdienstkreuz verliehen hat? Weil er eben noch kein so vernagelter Antifant mit Tunnelblick war, wie es im Deutschland von heute offenbar unabdingbar ist!
Kurt Sontheimer erwähnt Winnig in seinem Beitrag "Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik" im Buch "Der Weg in die Diktatur" (München 1962): „Kein Zweifel, daß gerade das Denken der jungnationalen Rechten - maßgeblich bestimmt durch Autoren wie Wilhelm Stapel, Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Ernst Niekisch, August Winnig und viele andere — das geistige Vorfeld für das Wachsen des Nationalsozialismus bereitet hat.“
Na klar! Weil Sontheimer (Jahrgang 1928) das alles als nasciturus ja viel besser beurteilen konnte, als die Zeitgenossen jener Ereignisse — und außerdem: welche herausragende Bedeutung soll Winnigs Beitrag aufgrund seiner bloßen Erwähnung in einer langen Liste von Spengler bis Jünger eigentlich zukommen?
Kurt Tucholsky erwähnte Winnig 1921 in "Tante Malchens Heimatland": „Beim Kapp-Putsch nahm er am Hochverratsversuch teil, blieb selbstverständlich straflos und steht jetzt in der Ecke: eine abgeklapperte Kleinbahnlokomotive, die auf Anschluß wartet. Vielleicht pfeift ihr eines Tages einer“. (Gesamtausgabe, Bd. III, seite 70)
… zitiert der unermüdliche Kritikus. Nun, Tucholsky hat vielleicht von seiner Persönlichkeit auf die eines anderen geschlossen, und das kann halt schiefgehen. „Gepfiffen“ hätten ihm die Nazis von Herzen gerne — aber er hat einfach darauf gepfiffen, unter der Hitlerei etwas zu werden! Und was schließlich den Kapp-Putsch betrifft: alternative Geschichtsschreibung hat immer was Mißliches, aber versuchen wir uns einfach vorzustellen, damals wäre der Kapp-Putsch erfolgreich abgelaufen — was wäre Deutschland, was wäre der Welt alles erspart geblieben? Hitler wäre ein erfolgloser Bierkeller-Redner geblieben, denn in einer von Berlin vollzogenen Wende zu einer nationalen Renaissance (wohl unter monarchisch-restaurativen Vorzeichen) hätte er einfach keine Chance gehabt.

Doch genug der Polemik: was kann uns August Winnig heute noch sagen? Zunächst als Dichter: hier gibt es wenig erfrischendere Lektüren als die Reihe seiner autobiographischen Schriften. Frührot. Ein Buch von Heimat und Jugend (1919) und Das Buch Wanderschaft, Winnigs Erlebnisse als Maurergeselle (1941), bezaubern durch ihre lebendige Darstellung des heranreifenden Autors und seiner Zeit. Der weite Weg (1932) und Heimkehr (1935) berichten von Winnigs Tätigkeit als Gewerkschafter, als Reichsgesandter im Baltikum und als Oberpräsident Ostpreußens bis zum Kapp-Putsch: es gibt nicht viele Werke, die eine an sich doch eher trockene Materie mit so großer innerer Spannung erfüllen können, und sind turmhoch über landläufiger Memoirenliteratur angesiedelt! Die schriftstellerischen Qualitäten werden auch von Winnigs Erzählungen, die meist in Sammlungen erschienen sind, z.B. Die ewig grünende Tanne (1927), In der Höhle (1941) und Morgenröte (1958) belegt. Sein einziger Roman, Wunderbare Welt (1938), wurde weiter oben bereits erwähnt. Wer die Neuauflage nach dem 2. Weltkrieg mit der Erstauflage 1938 vergleicht, wird ganze drei Zeilen (in denen Winnig kritisch das Profitstreben jüdischer Pelzhändler in Kanada erwähnt) missen müssen. Nun denn: an Anlage und Aussage des Romans änderten sie — überhaupt nichts.

Nun zum Denker: Winnig war ein Idealist. Das mutet heute, gerade in seinen Ansichten über Europa, seine Ordnung und Aufgabe, bisweilen befremdlich an. Doch wer zur Kenntnis nimmt, daß es jenseits von Organisationsfragen, Taktieren und Übertölpeln doch auch noch tiefere Werte geben muß, wenn „das Ganze“ überhaupt irgendwie funktionieren soll, dann findet auch derjenige, der Winnigs Ansichten nicht (oder nur teilweise) folgen mag, genug wertvolles Material für seine eigenen Gedanken.

Daß Winnig im Marxismus kein Heil für den Arbeiter erblickte, macht ihn natürlich heute zur Unperson. Nur Flachköpfe glauben, daß mit der „Wende“ von 1990 die ideologische Pest des Marxismus erloschen sei! In Wahrheit hat sie sich bloß geschickter getarnt, und infiltrierte seither flächendeckend die Polit-Szene von Mutti über die GrünInnen bis zur heutigen SED. Winnigs Buch Vom Proletariat zum Arbeitertum (1930) ist ein höchst lesenswertes Pendent zu Jüngers „Der Arbeiter“, das man gelesen haben sollte, auch wenn man seinen Wertungen und Befunden (wie ich) nicht zustimmt.

Winnigs letztes großes Werk, Aus zwanzig Jahren enthält beide Seiten seiner Persönlichkeit: den Dichter und den Denker. Der Schutzumschlag bringt einige Zeilen aus einer Rezension des Buches durch die Zeitschrift »Christ und Welt«:
1925 bis 1945 — die Jahre Hindenburgs, das Emporkommen Hitlers, der Krieg, die Wider-standsbewegung, das Ende. Das Buch fesselt aufs höchste, nicht zuletzt durch die vielen bedeutsamen Persönlichkeiten, die Winnigs Weg auch in dieser Epoche seines Lebens kreuzten. Hier blickt uns ein sehr kluges, klares, unbestechliches Auge an und begegnet uns ein Mann, in dessen Nähe es uns wohl und warm ums Herz wird.
Winnig zitiert zu Ende seines Werkes die Worte des US-Generals McArthur bei der Unterzeichnung der japanischen Kapitulationsakte: »Wenn wir nicht ein größeres und besseres System entstehen lassen, wird der Tod in unserer Tür stehen. Das Problem ist im Grunde ein theologisches.«

Es wird Winnig in den Augen der selbstgerechten Kritikaster unserer Tage freilich nicht helfen, dies ebenso — und tiefer — erkannt und ausgedrückt zu haben …


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P.S.: Anhand einer Passage in August Winnigs Aus zwanzig Jahren wurde auf diesem Blog bereits über den Begriff „Europäertum“ gehandelt. Und vor knapp einem Jahr zitierte ich aus demselben Werk eine treffende Charakterisierung des Nazitums durch Generalfeldmarschall August von Mackensen.

P.P.S.: einen Artikel mit vielen Gedanken zu Winnig als Gewerkschafter fand ich hier. Sicherlich, das ganze ist aus einer Perspektive geschrieben, die mir bisweilen etwas eigenartig anmutet (bei anderen Artikeln des betreffenden Blogs trifft das noch weit mehr zu!), und dennoch: lesenswert.


*) Korrektur: siehe Kommentar.

1 Kommentar:

Helene hat gesagt…

Kleine zeitgeschichtliche Korrektur: Herbert Wehner hat es nie zum Bundestagspräsidenten gebracht. Das wäre in dem von "Kaletn Krieg" geprägten Klima der alten BRD bei einem ehemaligen Kommunisten völig undenkbar gewesen, da hätten die Schwarzen niemals mitgemacht. Er war lange Jahre (69-82) Franktionsvorsitzender der SPD im Bundestag - mehr wäre für ihn bei seiner vita nicht drin gewesen. Ein ehemaliger Nazi als Bundespräsident, das ging gerade noch so. Aber ein Alt-Kommunist war ein no go.

Und da hier an den "Herrn Brandt alias Frahm" (K. Adenauer) erinnert wurde: Was immer man zu Brandt denken und sagen mag, sein historischer Verdienst war, nach 20 Jahren East-Coast-Satrapentums der "Bonner Republik" mit Kanzlern, deren bevorzugter Aufenthaltsort die Gesäßnaht des jeweiligen "US"-Präsidenten war, durch seine umstrittene Ostpolitik endlich eine gewisse Distanz der BRD zum East-Coast-Komplex geschaffen zu haben. Weshalb selbiger diese Politik (die nebenbei bemerkt damals mithalf, den Kalten Krieg kalt zu halten!) mit größtem Mißtrauen begleitete.