... schreibt beim »
Antibürokratieteam« markige Sätze:
Putin ist Politiker durch und durch. Er regiert in einem politischen
System, das auf zwei Säulen beruht: Unterdrückung und Mechanismen. die
die Loyalität großer und/oder einflussreicher Gruppen kaufen können.
Erstgenannte Mechanismen sind heute in Russland, erfreulicherweise,
stärkeren Einschränkungen unterworfen als zu Zeiten der Sowjetunion.
Tatsächlich leben die Russen heute in größerer Freiheit als vor 30
Jahren, (wenn auch in geringerer als vor 20 Jahren). Einige klassische
Stimmenkauf-mechanismen werden ihm langsam zu teuer, die Wirtschaft
funktioniert nicht, da in vielen Bereichen die unternehmerische Freiheit
stark eingeschränkt ist bzw. gar nicht existiert, da es keine stabilen
Eigentumsrechte und eine wachsende und nimmersatte Bürokratie gibt. Und
deshalb setzt er auf die nationale Karte, mit der man kurzfristig, und
zu aktuell niedrigen Kosten, die Loyalität anheizen kann. Dabei ist es
irrelevant, ob Putin „tatsächlich“ ein russischer Nationalist ist, also
an die Größe Russlands glaubt. Wichtig ist, dass er Russland als sein
persönliches Spielzeug ansieht. Das tun Politiker überall auf der Welt
gern, aber er hat viel mehr Möglichkeiten als die meisten, sich
ungebremst seiner Leidenschaft hinzugeben. Und es geht ihm nicht um das
Selbst-bestimmungsrecht von irgendwem – da gibt es viele Menschen vieler
Nationalitäten, die das erfahren mussten.
Zweitens, in meiner Rolle als klassischer Liberaler oder auch (nicht ganz konsequenter) Libertärer etwas zum Sezessionsrecht.
Dieses Recht lehnt Putin ja für Gruppen, bei denen es ihnen nicht in
den Kram passt, die aber russische Staatsbürger sind, ab. Er unterstützt
es lediglich für ethnische Russen, die auf einem bestimmten, angeblich
urrussischen Territorium wohnen. Ich unterstütze dagegen das
Sezessionsrecht für alle Menschen, für alle Territorien. Kleinstaaterei,
oder auch tatsächlicher Föderalismus, haben aus Freiheitsperspektive
nur Vorteile. Doch ich habe meine Zweifel, wenn die Sezession nur zu dem
Zweck erfolgt, sich unmittelbar wieder einem anderen Staat
anzuschließen. Ich unterstütze das Sezessionsrecht der Katalanen,
Schotten, Basken, von wem auch immer. Doch ich erlaube mir auch, die
Sezession danach zu bewerten, was sie für die individuelle Freiheit
aller bringt, nicht nur der Mitglieder des Volkes, das im neuen Gebilde
die Mehrheit hat.
[...]
Politik ist eine Sphäre, in der man nur zwischen verschieden großen
Übeln wählen kann. Man kann das verweigern. Doch wenn man sich Gedanken
über aktuelle Politik macht, ist aus meiner Sicht eines klar: Putin und
seine Umgebung gehören zu den größten Übeln, die gerade auf der
Weltbühne zu beobachten sind. Und damit schaden sie vor allem den
Russen, sogar denen auf der Krim.
Nun ja. Aus meiner Sicht ist klar, daß es noch erheblich größere Übel auf der Weltbühne zu beobachten gibt. Mir ist beispielsweise nicht bekannt, daß Putin den Irak unter dem Vorwand angeblich entdeckter Massenvernichtungswaffen zuerst plattgemacht und dann als völlig unregierbare Kriegsruine zurückgelassen hätte. Oder daß er einen vergleichsweise harmlosen alten Diktator in Ägypten durch radikal-islamische Wirrköpfe ersetzen ließ, die der Entrechtung (bis Ausrottung) der alteingesessenen christlichen Minderheit das Wort redeten. Ich kann mich aber auch nicht erinnern, daß Putin es war, der Tibetaner und Uiguren unter seine Knute gebracht hätte. Das alles waren eigentlich immer Leute, die heute auf Putin mit dem mahnenden und/oder drohenden Zeigefinger losgehen, und ihm »völkerrechtswidriges Verhalten« vorwerfen.
Ach ja, zum Thema Völkerrecht hat Bettina Röhl einen
hervorragenden Artikel verfaßt, den ich allen (auch Herrn Tamm) nur lebhaftest zur Lektüre empfehlen kann. Aber ein paar kleine Anmerkungen zu Tamm's Auslassungen seien mir dennoch gestattet:
Tatsächlich leben die Russen heute in größerer Freiheit als vor 30
Jahren, (wenn auch in geringerer als vor 20 Jahren).
Ortners lakonische Lieblingsfloskel in solchen Fällen lautet:
»Was raucht der?« — und in der Tat: ohne Konsum psychogener Drogen ist die Einschätzung, daß die Freiheit der Russen vor 20 Jahren größer gewesen wäre als heute, nur schwer nachvollziehbar. Es war die »Freiheit«, unter einem Regime von mit allen Wassern gewaschenen Ex-Nomenklaturisten, die sich als »Oligarchen« durch Korruption und jede Menge anderer Verbrechen in den Besitz von Konzernen und Latifundien gebracht hatten, zu krepieren. Unter dem Applaus westlicher Think-Tanks und »NGOs«, die ihre Aufgabe darin sahen, ganz Rußland als Abzock-Eldorado für expansionsinteressierte East-Coast-Spekulanten zu präparieren und auszusaugen, und denen es,
pardon l'expression, scheißegal war, daß die russische Bevölkerung bei diesem profitablen Raubzug verhungerte.
Ich unterstütze dagegen das
Sezessionsrecht für alle Menschen, für alle Territorien. Kleinstaaterei,
oder auch tatsächlicher Föderalismus, haben aus Freiheitsperspektive
nur Vorteile.
Hier kann ich Herrn Tamm durchaus zustimmen. Aber warum findet er dann das offensichtliche Sehnen der Krim-Bewohner so verwerflich, von einer Ukraine, zu der sie (außer seit Chruschtschow) weder politisch, noch ethnisch, noch wirtschaftlich je gehörten, wegzukommen? Etwa weil er sich erlaubt
... die
Sezession danach zu bewerten, was sie für die individuelle Freiheit
aller bringt, nicht nur der Mitglieder des Volkes, das im neuen Gebilde
die Mehrheit hat.
Gut gebrüllt, Löwe! Aber wie sieht denn die Freiheit in einer Ukraine aus, in welcher eine der ersten Regierungshandlungen des Revolutionsregimes darin bestand, in den russisch-sprachigen Gebieten des Landes Ukrainisch zur einzigen Amtssprache zu erklären und Russisch als solche zu verbieten?
Damit die Leser meines Blogs nicht einem Irrtum erliegen: ich »verteidige« hier nicht die Politik Putins (das soll er gefälligst selber machen!) — ich spreche nur aus dem Interesse eines Libertären, der Monopole gleichwelcher Art als Gefahr für die Freiheit erachtet. Auch (und gerade) Macht-Monopole! Und es gibt kein »monopoliger« denkbares Monopol als das einer unipolaren Weltordnung, wo alles und jeder nach der Pfeife Washingtons tanzt. Wo sich die Amis seit Jahrzehnten auf Kosten des Rests der Welt via Dollar=Weltreservewährung den sprichwörtlichen »Gratis-Lunch« genehmigen — den wir alle über den Ankauf grün bedruckten Papiers finanzieren »dürfen«. Und ja, Herr Tamm:
Politik ist eine Sphäre, in der man nur zwischen verschieden großen
Übeln wählen kann.
D'accord. Aber wenn ich mir die Geschichte so ansehe, dann sehe ich bei Rußland irgendwie nicht die Gründe, die die Übel eines britischen und französischen Kolonialismus, oder eines US-Imperialismus überstiegen hätten. Streng genommen nicht einmal in Zeiten des kommunistischen Ostblocks — der außerdem schon nach 45 Jahren vorbei war, und seit 25 Jahren wie auch derzeit so tot, wie eine Idee nur tot sein kann ...
Als libertärem Freiheitsfreund sollte einem jede Entwicklung in Richtung auf eine multipolare Welt eigentlich nur sympathisch sein! Und welche Politik denn anders betriebe Putin? Will uns Herr Tamm ernstlich verklickern, daß eine weltweite Machtübernahme durch Rußland zu befürchten stünde?
Libertäre Wolkenkuckucksheime von universellen Sezessionsrechten für alle und jeden will ich Herrn Tamm ja nicht nehmen — obwohl ich sie (wie übrigens auch schon Ludwig von Mises) als sinnlose Glasperlenspiele im Elfenbeinturm des Salonanarchismus ansehe. Aber bevor nun ein solcherart sezediertes Tammistan, über das unser Tammerlan dann voll-libertär herrschen kann, Realität wird (also, ohne daß ich Herrn Tamm's erhoffbare Lebensdauer irgendwie gering veranschlagen möchte: wohl nicht in den nächsten Jahrzehnten), begnüge ich mich mit kleineren Puzzle-Steinen. Als da wären: ein Europa der Vaterländer, das nicht mehr am Rockzipfel der NATO hängen muß, weil es sich nämlich auch mit einem Rußland verträgt, das ja letztlich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, als daß es eine effektive Hegemonialstellung gegenüber Mittel-, Nord-, Süd- und Westeuropa einnehmen könnte.
Daß das nicht im Interesse irgendwelcher Bank- und Rüstungskonsortien in den USA ist — nun, das ist mir ebenso bekannt, wie egal. Denn auch deren Interesse an mir beschränkt sich auf das einzige, was ihnen an mir wertvoll ist: mein Vermögen. Von dessen Lasten sie mich gegen Übergabe eines Bündels hübsch bedruckter (und selbstmurmelnd hoch werthaltiger) US-Treasury-Bonds nur zu gerne befreien wollen. Damit sie sich wieder einen Gratis-Lunch mehr genehmigen können.
Sorry: ohne mich.