Donnerstag, 27. Februar 2014

Mises-Lektüre II: Die Bedeutung der demokratischen Verfassungsform

… liegt nicht darin, daß sie natürlichen und angeborenen Rechten der Menschen besser entspräche als eine andere, und auch nicht darin, daß sie die Ideen der Freiheit und Gleichheit besser verwirkliche als irgendeine andere Art der Regierung. Es ist ebensowenig an und für sich eines Menschen unwürdig, sich von anderen „regieren“ zu lassen, als es an und für sich menschenunwürdig ist, irgendeine andere Arbeit durch andere für sich verrichten zu lassen. Daß der Bürger einer fortgeschrittenen Gesellschaft sich nur in der Demokratie frei und glücklich fühlt, daß er sie über alle anderen Staatsformen stellt, und daß er bereit ist, für die Erlangung oder für die Aufrechterhaltung der demokratischen Staatsform Opfer zu bringen, ist auch nicht daraus zu erklären, daß die Demokratie an und für sich wert ist, geliebt zu werden, sondern daraus, daß sie die Funktionen erfüllt, die man nicht missen will.

Man pflegt als die wesentliche Funktion der Demokratie ihre Bedeutung für die Auslese der politischen Führer hinzustellen. Im demokratischen Staatswesen entscheidet bei der Berufung für staatliche Stellungen, zumindest für die wichtigeren, der Wettbewerb in der Öffentlichkeit des politischen Lebens, durch den, meint man, die Tüchtigsten in die Höhe kommen. Doch es ist nicht abzusehen, warum die Demokratie in der Auswahl der für die Führung der Staatsämter berufenen Persönlichkeiten notwendigerweise eine glücklichere Hand haben müßte als die Autokratie oder die Aristokratie. Die Geschichte kennt genug Beispiele, daß sich auch in nicht demokratischen Staaten politische Talente durchgesetzt haben, und andererseits kann man nicht behaupten, daß die Demokratie immer die Besten in die Ämter beruft. Gegner und Freunde der Demokratie werden in diesem Punkte nie zu einer einheitlichen Meinung gelangen.

In Wahrheit ist die Bedeutung der demokratischen Verfassungsform eine ganz andere. Ihre Funktion ist Friedensstiftung, Vermeidung von gewaltsamen Umwälzungen. Auch in nicht demokratischen Staaten kann sich auf die Dauer nur eine solche Regierung behaupten, die auf die Zustimmung der öffentlichen Meinung rechnen kann. Die Kraft und die Macht aller Regierungen liegt nicht in den Waffen, sondern in dem Geist, der ihnen die Waffen gefügig macht. Die Regierenden, selbst immer notwendigerweise eine kleine Minderheit gegenüber einer ungeheueren Mehrheit, können die Herrschaft über die Mehrheit nur dadurch erlangen und bewahren, daß sie sich den Geist dieser Mehrheit gefügig macht. Tritt hier eine Änderung ein, verlieren jene, auf deren Meinung die Regierung aufgebaut ist, die Überzeugung, daß man diese Regierung stützen müsse, dann ist auch der Boden, auf dem ihre Macht aufgebaut ist, untergraben, und sie muß früher oder später einer anderen weichen. In nicht demokratischen Staatswesen kann sich Personen- und Systemwechsel in der Regierung nur auf gewaltsame Weise vollziehen. Der gewaltsame Umsturz beseitigt das System oder die Personen, die die Wurzel in der Bevölkerung verloren haben, und setzt an ihre Stelle andere Personen und ein anderes System.

Doch jede gewaltsame Umwälzung kostet Blut und Gut. Menschenopfer fallen, und der Gang der Wirtschaft wird durch Zerstörungen unterbrochen. Diese materiellen Kosten und die seelischen Erschütterungen, die mit jeder gewaltsamen Veränderung der politischen Verhältnisse verbunden sind, zu ersparen, ist die Funktion der demokratischen Verfassungsform. Die Demokratie schafft für die Übereinstimmung des durch die staatlichen Organe zum Ausdrucke gelangenden Staatswillens und des Volkswillens eine Gewähr, indem sie die Staatsorgane in eine rechtliche Abhängigkeit von dem jeweiligen Volkswillen bringt. 

(aus: Ludwig von Mises, Gemeinwirtschaft, Jena 1922, 51 ff.) 
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Als Ludwig von Mises sein obzitiertes Werk »Gemeinwirtschaft« veröffentlichte, nämlich 1922, war die Zeit der Gentleman-Parlamentarier noch nicht völlig vorbei, oder doch wenigstens noch in frischer Erinnerung, und die parteipolitischen Deformationen der Demokratie konnte man sich als leider unvermeidliche, aber ephemere Kinderkrankheiten der dem Laufstall konstitutioneller Monarchien eben entwachsenen jungen Republiken schöndeuten.

Inzwischen ist zwar an der prinzipiellen Aussage Ludwig von Mises kaum etwas, wohl aber umso mehr an der konkreten Verwirklichung dieser Grundsätze zu bemängeln. Ein Blick in die Realität der politischen Verhältnisse, in welchen bspw. in der Ukraine eine kriminelle, aber den Interessen der Eurokraten gefällige Ex-Politikerin zurück an die Macht geputscht wird, oder in welchen von Parteiapparatschiks, die den bekannten Satz »Ohne die Partei sind wir nichts, denn alles, was wir sind, sind wir durch die Partei« verkörpern, ein »Primat der Politik« über das Recht, den Markt, die Wirtschaft, die Kultur (d.h. eigentlich über alles) gefordert wird, zeigt nur zu deutlich: das ist eine »Demokratie« den Ritualen nach, vielleicht — und oft nicht einmal das! Eine Herrschaft, d.h. effektive Einflußnahme des Volkes auf die politische Willensbildung gibt es außer in der Schweiz (und selbst dort nur zum zähneknirschenden Mißfallen der selbsternannten politischen »Eliten«!) schon längst nirgends mehr.

Ist es also wirklich ketzerisch (bei aller gebotenen Wertschätzung für Ludwig von Mises!), zumindest die Praktikabilität seines Plädoyers für eine demokratische Herrschaftsform, wenigstens in der von ihm vorausgesetzten Staatsform einer repräsentativdemokratischen Republik, zu hinterfragen — und vielleicht aus der Blütezeit des liberalen Gedankens im 19. Jahrhundert den Rückschluß zu ziehen, daß auch dieser am gesichertsten und besten in einem »gemischten System« (das auf diesem Blog schon mehrfach Thema war) gedeiht, und daher der »Demokratie« einen zwar unverzichtbaren, sicher bedeutenden, aber eben nicht alleinherrschenden Platz in der politischen Willensbildung zuzuweisen.

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P.S.: auf MediaScan bringt Manfred Jacobi dazu einige lesenswerte weiterführende, nur auf den ersten Blick »gegenläufige« Gedanken. Man muß sich freilich davon lösen, »gemischtes System« und »repräsentative Demokratie« als Synonyme anzusehen!

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