Montag, 25. August 2008

War Opa ein Nazi? Wenn er ein Deutscher war: na klar doch!

Kollege Manfred hat zwei interessante Artikel verfaßt: »Opa war kein Nazi« und »Deutsche und Nazis«. Auf den ersten Artikel schrieb ich eine Replik, in der ich die These, praktisch alle Deutschen wären doch "in Wahrheit" Nazis gewesen und solange die Geschichtslüge »Opa war kein Nazi« nicht aus den Familiengeschichten gefegt werde, sei eine Heilung der deutschen Gesellschaft vom Nazi-Trauma nicht zu gewärtigen, kritisch hinterfragte.
Manfred erläuterte seine Ansichten daraufhin in einem neuen Artikel und wollte meine kurze, enttäuschte Reaktion über diesen neuerlichen Artikel nicht so einfach hinnehmen, sondern bezeichnete meine Verweigerung einer inhaltlichen Replik darauf als "patzig". Nun, so war es nicht gemeint — aber lassen wir die Frage der Patzigkeit einmal dahingestellt: ich sah einfach keinen Sinn darin, angesicht seiner neuerlichen Äußerungen groß zu replizieren — cui bono ...

Nun will ich mir andererseits aber eben auch nicht "Patzigkeit" vorwerfen lassen, und so entschloß ich mich dann doch zu einer Antwort, welche ich (in leicht erweiterter Form) in meinem eigenen Thread ebenfalls publiziere. Vielleicht interessiert's ja doch jemanden ...

Manfred schrieb:

Mir geht es demgegenüber darum zu zeigen, dass die Deutschen, auch die, die sich für Demokraten hielten, in einer TOTALITÄREN Gedankenwelt befangen und DESWEGEN für den Nationalsozialismus anfällig waren. Totalitär waren dabei weniger diese oder jene INHALTE (zum Teil natürlich auch die), sondern bereits die Grundannahmen darüber, was Politik ist bzw. sein sollte.


Mit anderen Worten: die Deutschen, nämlich auch die, die sich für Demokraten hielten, aber — natürlich! Sie waren ja Deutsche! — keine waren, waren in einer TOTALITÄREN Gedankenwelt befangen. Sorry, ich halte das für Unsinn. Das ist Pauschalurteilen par excellence. Und ich sehe nicht, warum diese angeblich totalitäre Gedankenwelt ein spezielles Merkmal der Deutschen sein sollte, wenn mich meine Erfahrung und die tägliche Lektüre von Pressemeldungen aus aller Welt lehren, daß vergleichbar totalitäre Vorstellungen ebenso in anderen Ländern und Kulturen gang und gäbe waren, sind und wohl auch in Zukunft sein werden!

Saatsgläubigkeit ist kein Merkmal der Deutschen, sonst wären Blair, Obama oder Sarkozy auf einmal nazismusanfällige Deutsche, was sie ja wohl wirklich nicht sind. Und genau das, was sich in Deutschland in unerfreulicher Zuspitzung im NS-Regime realisierte, war damals (und ist leider auch heute) weltweit recht verbreitet. Nicht nur in den diversen "Faschismen" Italiens, Spaniens, Portugals, sondern ebenso in dem korporativ-autoritär grundgestimmten Kemalismus, in den unzähligen Diktaturen Südamerikas, ja sogar im "New Deal" der USA. Die 30er/40er-Jahre waren kein Hort der Demokratie — und zwar weltweit nicht! Und ich wage zu bezweifeln, wenn ich mir die ständige Tendenz zu Gesinnungsjustiz und Gedankenkontrolle (vom angeblich notwendigen Kampf gegen Rechts über den Nichtrauchersutz bis zum Klimawandel) so ansehe, daß wir es heute nennenswert mehr sind. Wir haben eine demokratisch-antidiskriminatorische Rhetorik, allgegenwärtig und existenzvernichtend für den, der dagegen verstößt. That's it ...

Keine Frage, daß der damalige a-demokratische, korporatistisch-kollektivistische Ungeist in anderen Fällen nicht annähernd so bedauernswerte Entgleisungen zeitigte wie in der NS-Herrschaft! Doch andererseits ist es für den historisch Interessierten ebenso keine Frage, daß eine Unzahl schlimmer Entgleisungen durch die — eben besonders schlimmen — Entgleisungen des NS-Regimes einfach "zugedeckt" und aus dem Gedächtnis (oder wenigstens: dem offiziell zitierbaren Gedächtnis) der Menschen verdrängt wurden.

In Artikeln über das 3. Reich wundert sich der Autor manchmal, warum z.B. Großbritannien oder die USA nicht gegen die Schikanierung und Benachteiligung von Juden in bereits frühesten Zeiten des 3. Reiches aufgetreten sind. Man wundert sich freilich weniger, wenn man weiß, daß die Rassentrennung in den USA ja im Prinzip auch nichts anderes war als der Judenstern (ein eigenes Abzeichen erübrigte sich allerdings durch die Hautfarbe), und daß die gesetzlichen Verbote von Mischehen, diverse Berufsverbote, die Verweigerung von Wahlrecht und einer Reihe bürgerlicher Freiheiten in britischen Kolonien quasi das Modell der Nürnberger Gesetze darstellen.

Heutige Autoren projizieren das ahistorische Bild einer — heute! — von political correctness und Antidiskriminierung geradezu besessenen angelsächsischen Welt in eine Vergangenheit, die uns dann als leuchtender Gegenentwurf einer demokratischen Gesellschaft vorgeführt wird, der sich vor der dunklen Folie der Naziherrschaft besonders schön abhebt. Nur: das Bild trügt! Es trügt eklatant, ja ist geradezu bis zur Unkenntlichkeit verzeichnet! Noch deutlich nach dem 2. Weltkrieg haben die US-Truppen, als sie z.B. die Republik Haiti besetzten, als erstes dort eine (davor nicht bestehende) strikte Rassentrennung eingeführt. Noch deutlich nach dem 2. Weltkrieg hat die britische Kolonialmacht z.B. in Kenia rassistisch motivierte Greueltaten, wie z.B. gezielten Völkermord, angeordnet und teilweise auch ausgeführt — was einem die Frage aufdrängt: "Haben die aus Auschwitz nichts gelernt?" Antwort: nein, mußten sie auch nicht. Denn sie waren (und sind bis heute) schließlich die "Guten" ....

Das klingt zynisch und wird mir von der allzeit bereiten Antifa-Front sofort den Vorwurf, ich "verharmlose" und "relativiere", eintragen. Geschenkt! Als ob die in britischen KZs gefolterten, ermordeten und gezielt dem Hungertod preisgegebenen Kikuyu des Mau-Mau-Aufstandes weniger wert wären, als in Nazi-KZs gefolterte, gezielt dem Hungertod preisgegebenen und vergaste polnische Juden ... Wer sich informieren möchte, findet in der — des Nazismus wohl recht unverdächtigen — britischen Tageszeitung The Guardian vom 27.12.2005 einen Artikel unter dem provokanten Titel: "The Turks haven't learned the British way of denying past atrocities" — viel "Spaß" beim Lesen!

Aber um auf die Zusammenfassung eingehen, mit der Kollege Manfred seinen Artikel beschließt, die mir eigentlich eine Replik wenig zielführend erscheinen ließ.

Fassen wir zusammen: Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen, hielt Politik für die Verwirklichung religiöser oder quasi-religiöser Ideale, fand es selbstverständlich, dass man zu diesem Zeck politische Gegner physisch bekämpfte, betrachtete das Führerprinzip als Ordnungsideal, hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen, betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich der Volksgemeinschaft.


1. Die "überwältigende Mehrheit ... einschließlich der Sozialisten und engagierten Christen" sah all dies nicht wesentlich anders, als die gesamte (!) westliche Welt zu jener Zeit! Man blicke z.B. in die Zwischenkriegsgeschichte Österreichs: hier wurde kein Nazi-Regime geboren, aber es gab einen quasi-religiösen Machtkampf zwischen den Austromarxisten (die z.B. Wien zu Musterstadt des wahren, des reinen Sozialismus machen wollten) und den Heimwehren — Nazis spielten in Österreich bis zur Machtübernahme Hitlers in Berlin keine nennenswerte Rolle! Das Argument einer spezifisch deutschen Eigenschaft wackelt somit. Es wackelt noch mehr, wenn man die ebenso "quasi-religiösen" Auseinandersetzungen in Spanien ansieht, oder in Frankreich, oder in England, oder in Irland, oder in Mexiko, oder ... oder ... Die Liste ist deutlich kürzer, wenn man fragt: "Wo fanden solche denn nicht statt?"

2. Die physische Bekämpfung politischer Gegner war damals allgemein. Auch hier ist nichts "speziell deutsches" zu ermitteln. Poltisch motivierte Straßenschlachten gab es in Ost-Mitteleuropa, am Balkan, in Frankreich, Spanien, Mexiko, sogar in den USA. In den Kolonialgebieten sowieso!

3. Das Führerprinzip herrschte damals vom Kommunismus über die christlichen Hierarchievorstellungen bis ins konservative Lager — einfach überall, außer in ein paar liberalen Zirkeln, die aber (man denke bloß an den dramatischen Niedergang der Whigs in den 20er-Jahren) praktisch überall zu Randerscheinungen, zu Fossilien einer Politik des 19. Jahrhunderts, mutiert waren.

4. Man "hielt internationale Politik essenziell für einen Machtkampf von Nationen" — und darin unterschieden sich die Nationen ebensowenig voneinander! Ein paar Sonntagsreden in Genf mochten zwar anders klingen — aber der Völkerbund war in Wahrheit eine schon von Anfang an gescheiterte Sache! Gescheitert nicht am Austritt der pösen Nazis in den 30er-Jahren, sondern an der verlogenen Politik seiner Gründungsnationen, die unter schönklingenden Schlagworten beinharte Machtpolitik betrieben (man denke nur an die "Entkolonialisierung" durch "Mandatsverwaltungen" — eine Augenauswischerei sondergleichen!)

5. Man "betrachtete Juden als fremde Eindringlinge und sehnte sich [nach] der Volksgemeinschaft" — auch hier wieder: Mainstream! Antisemitismus war damals praktisch überall zu finden — das kann man zu Recht bedauern, aber es war damals eben so. Hieraus eine speziell "deutsche" Fehlhaltung zu konstruieren, ist einfach Geschichtsklitterung! Und was die Volksgemeinschaft betrifft: was war denn die treibende Kraft all der Nationalstaaten, die aus der Zerschlagung Österreich-Ungarns hervorgingen? Dreimal darf man raten ...

32 Kommentare:

scrutograph hat gesagt…

Man sollte auch wissen, das gerade die Briten ein ungeheuer schlechtes Gewissen wg. ihrer mehrhundertjährigen kolonialen Vergangenheit mit sich rumtragen. Es scheint sie aber weniger in ihrer außenpolitischen Handlungsfähigkeit zu behindern als die Deutschen ihre 12 Jahre. Ob es die Ursache ihrer "Machet die Tore weit"-Einwanderungspolitik ist?

Le Penseur hat gesagt…

@scrutograph:
Wenn Sie den Artikel im Guardian lesen, dann wird Ihnen dieses "ungeheuer schlechte Gewissen" allerdings als marginales Randgruppenproblem erscheinen. Nicht, daß ich dächte, politische Reflexion und Vergangenheits"bewältigung" (wie sie so schön genannt wird) wären andernorts wesentlich stärker verbreitet — aber bis weit in die politisch interessierte Mitte der Gesellschaft ist das Bewußtsein, in Indien, Afrika etc. unvorstellbare Greueltaten verübt zu haben unter dem Prätext, den Wilden die Zivilisation zu bringen (und damit eigentlich das Florieren der britischen Wirtschaft gemeint zu haben), dieses Bewußtsein ist erschreckend unterentwickelt — m.E. jedenfalls unterentwickelter, als es uns Manfreds Artikel hinsichtlich der Nazi-Vergangenheit Deutschlands suggerieren möchte!

Die "Machet die Tore weit"-Einwanderungspolitik würde ich nicht darauf zurückführen. Hier ist einfach die Tradition, irgendwelche "Untermenschen" als Arbeitssklaven zu importieren, die nun (in geänderten demokratischen und demographischen Verhältnissen) zu dem die indigenen Briten überraschenden Ergebnis führt, daß Mohammed mittlerweile der am häufigsten vergebene Vorname neugeborener Buben ist ... hier hat das britische Establishment einfach was verschlafen. So, wie es jahrzehntelang (als die Navy noch stark genug war, jeden Gegner zu versenken) im 20. Jahrhundert die technische Entwicklung verschlafen hat.

Manfred Kleine-Hartlage hat gesagt…

@ LePenseur:

(Um auch den Lesern Ihres Blogs Gelegenheit zu geben, meine Antwort zu lesen, stelle ich hier den Kommentar ein, der auch in meinem eigenen Blog steht.)

Jetzt begreife ich erst, wo Ihr Problem liegt. Ich hatte mir eigentlich eingebildet, eine ziemlich klare deutsche Prosa zu schreiben; insofern wundere ich mich, dass Sie in meine Texte etwas hineinlesen, was nicht drinsteht, und sie in einen Zusammenhang stellen, den ich nicht einmal angedeutet habe. Ich kann mir das nur so erklären, dass Sie allergisch gegen bestimmte deutschfeindliche Argumentationsmuster sind (was ich verstehen kann; ich selbst bin es auch) und deswegen meinen Text in den falschen Hals bekommen haben.

Sie widerlegen mit Ihren Argumenten ausschließlich Behauptungen, die ich nicht aufgestellt habe: Ich habe nicht behauptet, dass es die angesprochenen Phänomene anderswo nicht gegeben hätte. Ich habe nicht behauptet, dass es sich um überzeitliche und womöglich unveränderbare Eigenschaften des deutschen Nationalcharakters handele; ich habe mich ausdrücklich ausschließlich auf die Deutschen der zwanziger und dreißiger Jahre bezogen und kann nicht wirklich verstehen, wie Sie daraus einen Pauschalvorwurf gegen alle Deutschen, also auch die heutigen, herauslesen können (oder habe diesmal ich Sie missverstanden?). Ich habe erst recht nicht behauptet, andere – etwa die westlichen - Völker seien irgendwie „besser“ oder hätten keine Verbrechen begangen. Ich habe insbesondere nicht

„das a-historische Bild einer – heute! – von political correctness und Antidiskriminierung geradezu besessenen angelsächsischen Welt in eine Vergangenheit projiziert, die uns dann als leuchtender Gegenentwurf einer demokratischen Gesellschaft erscheint“:

In Wirklichkeit hatte ich die angelsächsische Welt mit keinem Wort erwähnt. Das, was Sie über die Briten und Amerikaner schreiben, ist genau das, was ich einem Briten oder Amerikaner hinreiben würde, wenn er mir mit deutschfeindlichen Sprüchen käme.
Ich fühle mich nur nicht verpflichtet, jeder Kritik am eigenen Land ein „Die Anderen haben ja auch…“ hinzuzufügen.

Sie haben mich also missverstanden. Sofern Ihr einer Kommentar auf diesem Missverständnis basierte, nehme ich den Vorwurf der „Patzigkeit“ mit Bedauern zurück.

Nun zum einzelnen:

Es ist unstrittig, dass faschistische Bewegungen zur damaligen Zeit in großen Teilen Europas Erfolg hatten; besonders großen hatten sie in Süd- und Ostmitteleuropa einschließlich Österreichs und des Balkans. Die Demokratien bzw. liberalen Verfassungsstaaten, die es 1920 dort noch gegeben hatte, waren Mitte der dreißiger Jahre fast völlig verschwunden. Es scheint mir auch plausibel anzunehmen, dass eine Kombination aus Antisemitismus, autoritären Ordnungsvorstellungen, politischer Militanz und religiös aufgeladenen völkisch-nationalistischen Gemeinschaftsideologien dort eine ähnlich verhängnisvolle Rolle spielte wie in Deutschland, und wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie das genauso. Nur ist das eben keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung meiner These, dass ein Zusammenhang zwischen solchen Einstellungsmustern und der Entstehung totalitärer, mindestens aber autoritärer Systeme besteht. Die physische Bekämpfung von politischen Gegnern war in solchen, aber eben nur in solchen Ländern tatsächlich allgemein.

Aus Großbritannien, den USA, Holland oder Skandinavien ist mir dergleichen aber nicht bekannt, jedenfalls nicht als allgemeiner Zug der politischen Kultur.

Wenn Sie die Auffassung von Außenpolitik als eines Machtkampfes von Nationen für allgemein verbreitet halten, so entgeht Ihnen der fundamentale Unterschied zwischen einer realistischen Analyse und einer sozialdarwinistischen Ideologie:

Es ist normalerweise realistisch zu unterstellen, dass Staaten ihre Interessen verfolgen und dabei gelegentlich zu den Waffen greifen. Ebenso realistisch ist es, wenn man mit Blick auf die Geschichte (z.B. auf das alte Griechenland, das frühneuzeitliche Italien, das Heilige Römischen Reich Deutscher Nation, den Deutschen Bund oder das Europa der Zwischenkriegszeit) davon ausgeht, dass regionale polyzentrische Staatensysteme über kurz oder lang instabil werden und dann entweder unter die Herrschaft ihrer eigenen stärksten Macht oder auswärtiger Mächte geraten; in diesem Sinne hatte ich gesagt und gemeint, dass ein Sieg Deutschlands im Ersten Weltkrieg für Europa besser gewesen wäre (als die Folgen seiner Niederlage).

Die Vorstellung, Staaten seien Systeme zur Erringung von Weltherrschaft, deswegen sei der Krieg der Normal- und der Frieden der Ausnahmezustand, und Politik bestehe im wesentlichen aus Kriegsvorbereitung, ist etwas vollkommen ANDERES. Genau diese Vorstellung war aber in Deutschland – von den Marxisten bis zu den Nazis – Allgemeingut. Was immer am Völkerbund Illusion oder Heuchelei gewesen sein mag: Die Westmächte waren alles, aber nicht kriegerisch (das war ja gerade das Verhängnis).

Das Führerprinzip als Ordnungsideal für alle Lebensbereiche einschließlich des Staates, und die damit korrespondierende Ablehnung der politischen Demokratie mag wiederum in Ostmittel- (und Süd-)Europa Allgemeingut gewesen sein (insofern gilt das, was ich oben geschrieben habe, nämlich, dass es meine Thesen bestätigt); in den demokratischen Staaten des Westens (und dazu zähle ich im wesentlichen die, die ich oben genannt habe, mit Abstrichen auch Frankreich) war das offensichtlich nicht der Fall.

Antisemitismus ist in christlichen (wie auch islamischen) Gesellschaften allgegenwärtig, seit es solche Gesellschaften gibt, auch heute noch (heute tarnt er sich meist als „Antizionismus“). Was sich aber unterscheidet, ist das Maß an politischer Aufladung: Es ist ein Unterschied, ob man Juden nicht mag, oder ob man sie für einen Feind oder Parasiten hält. In keinem der genannten westlichen Staaten hat es Politiker mit ernsthaften Ambitionen auf nationale Führungspositionen gegeben, die ihr Programm auf antisemitische Ressentiments gründeten (Zumindest in den USA mit seinem hochgradig kompetitiven System hätte es solche Politiker aber geben müssen, wenn ein verbreitetes Interesse an einer solchen Politik bestanden hätte). Es trifft zu, dass GB und USA nicht gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland eingeschritten sind; das heißt aber nur, dass nach wie vor ihre eigenen Interessen verfolgten und ihre Politik nicht von denen der deutschen Juden abhängig machten; mit Sympathie für die Judenpolitik der Nazis hat das nichts zu tun, und für die öffentliche Meinung in diesen Ländern war die Judenpolitik der Nationalsozialisten nicht etwa etwas, für das man als „nationale Selbstverteidigung“ Verständnis hätte haben müssen, sondern einfach Barbarei.

Die Gleichsetzung von Antisemitismus mit Rassismus mag für Turniere moralischer Empörung taugen („Und wie habt Ihr Eure Neger behandelt?…“), aber nicht zur Erhellung poltisch-historischer Zusammenhänge. Die amerikanische Gesellschaft war wahrscheinlich auch damals rassistischer als die deutsche. Deren Rassismus unterscheidet sich aber vom deutschen Antisemitismus in zweierlei Hinsicht: Erstens richtete er sich gegen eine UNTERSCHICHT, während der Antisemitismus sich gegen eine (vermeintliche oder tatsächliche) OBERSCHICHT richtet: Rechtfertigt ordinärer Rassismus die Unterdrückung von Unterschichten bzw. von rückständigen und schwachen Völkern, so traut der Antisemitismus, so wie die Nazis ihn vertraten (nämlich nicht als soziales Vorurteil, sondern als politische Ideologie) den Juden geradezu übernatürliche Fähigkeiten zu. Gerade das ist ja die Voraussetzung dafür, sie als FEIND zu brandmarken und im Grunde nichts anderes zuzulassen als ihre Vernichtung - und eben nicht ihre Unterdrückung.

Moralisch verwerflich mag das eine wie das andere sein, meinetwegen auch das eine mehr und das andere weniger. Nur interessiert mich so etwas überhaupt nicht. Ich warne grundsätzlich davor, der politischen Analyse moralische Prämissen zugrunde zu legen. Wenn ich eine politische Einstellung nicht deshalb ablehne, weil die ihr zugrundeliegenden Tatsachenbehauptungen UNWAHR sind, sondern weil ich sie für VERWERFLICH halte, dann habe ich mich bereits auf die Prämissen der Political Correctness eingelassen und muss mir gefallen lassen, dass u.U. auch wahre Behauptungen als Pfuipfui stigmatisiert werden.

(Ungeachtet dessen haben Sie mich mit Ihrer Kritik an den Praktiken des westlichen Imperialismus auf einen sehr wichtigen Punkt gebracht: Wahrscheinlich waren Rassenideologien im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert vor allem deshalb populär, weil die Kolonialpolitik der europäischen Großmächte einer sie rechtfertigenden Ideologie bedurfte, und da drängten sich Rassentheorien geradezu auf. Mir scheint es mehr als nur ein bezeichnendes Detail zu sein, dass die prominentesten Rassenideologen des neunzehnten Jahrhunderts – Gobineau und Chamberlain – gerade ein Franzose und ein gebürtiger Engländer waren, also aus den Völkern der großen und traditionellen Kolonialmächte stammten. Insofern besteht tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Imperialismus des Westens und dem Nationalsozialismus. Es ist sogar eine Überlegung wert, ob der Wahn der Political Correctness und der Antidiskriminierung, den es ja überall im Westen, nicht nur in Deutschland gibt, darauf beruht, dass alle westlichen Völker sich aufgrund ihrer imperialen Vergangenheit unbewusst selber eine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zuschreiben.)

Schließlich gab es im Bereich der westlichen Demokratien kein Äquivalent zum ideologischen Kollektivismus, der in dem deutschen Wort „Volksgemeinschaft“ steckt und der ausdrücklich einen Gegensatz zu Individualismus und Pluralismus darstellte; schon gar nicht als mehrheitsfähige Ideologie. Es gibt nicht einmal eine adäquate englische Übersetzung für „Volksgemeinschaft“ - „national community“ wäre jedenfalls keine. Natürlich gab es „communities“ – aber eben nur im Plural.

Ihre Kritik an meiner Position weist eine interessante Parallele etwa zu Flowerkrauts Kritik an meiner Korananalyse auf: Hatte Flowerkraut argumentiert, dass etliche Faktoren, die ich am Islam kritisiere, sich ähnlich auch im Christentum finden, so argumentieren Sie, dass jeder einzelne der Faktoren, die ich für die Entstehung des Nationalsozialismus verantwortlich mache, sich auch anderswo gefunden hätten. Der springende Punkt ist aber der, dass ich ein SYNDROM beschreibe, also das Zusammenwirken von Faktoren, die jeder für sich nicht in der Lage wären, ein System wie den Nationalsozialismus hervorzubringen (bzw. den Islam zur totalitären Ideologie zu machen). NUR ein religiöses Politikverständnis oder NUR Antisemitismus oder NUR ein sozialdarwinistisches Verständnis von internationaler Politik, hätten, selbst wenn sie jeweils eine Mehrheitsmeinung dargestellt hätten, kaum ausgereicht, ein Drittes Reich zu etablieren. Das ZUSAMMENWIRKEN all dieser Faktoren aber schon; und diese Kombination, verbunden mit der Position einer Großmacht, gab es so nur in Deutschland, nicht aber bei den westlichen Demokratien.

Und noch etwas: Ich zitiere nochmal die ersten drei Absätze meines Artikels:

„Meine beiden letzten Artikel sind auf heftigen Widerspruch gestoßen. In dem einen („Der mekkanische Koran: Eine Themenanalyse“) habe ich die These vertreten, dass muslimische Gesellschaften auch heute noch von den Wertentscheidungen des Korans geprägt sind, die als vorbewusste Selbstverständlichkeiten die Weltauffassung und damit auch das politische Verhalten von Muslimen prägen.

In dem anderen („Opa war kein Nazi“) habe ich den Nationalsozialismus als Gemeinschaftsprojekt der deutschen Nation interpretiert, was unter anderem bedeutet, dass das NS-Regime sich auf die Loyalität einer breiten Massenbasis stützen konnte.

In beiden Artikeln geht es um die Beschreibung von Großkollektiven, und beide wurden aus einer individualisierenden Perspektive angefochten: nicht alle Muslime seien Islamisten, die den Koran als leitende Ideologie akzeptierten, und nicht alle Deutschen der NS-Zeit, höchstens eine Minderheit, seien Nazis gewesen…“

Heißt: Wenn sie den Nationalsozialismus aus einer individualisierenden Perspektive sehen und nicht als die notwendige Folge kollektiver Wertorientierungen, wenn sie ihn darüberhinaus als das Werk einer Minderheit von Extremisten auffassen, dann treffen Sie implizit bestimmte Annahmen über das Funktionieren von Gesellschaft schlechthin wie auch über die Art und Weise, wie Totalitarismus funktioniert. Und diese Annahmen zwingen Sie, jedenfalls wenn Sie konsequent bleiben wollen, das Argument zu akzeptieren, nicht der Islam sei das Problem, sondern allenfalls eine Minderheit von Extremisten, die man von der Mehrheit der gemäßigten und netten Muslime radikal unterscheiden müsse.

Des weiteren müssten Sie die Behauptung akzeptieren, linke Ideologie sei nicht per se gesellschaftszerstörend und totalitär, sondern erst, wenn sie mit offener Gewalt durchgesetzt wird. Ich gestehe durchaus zu, dass die meisten Deutschen auch damals keine „harten, zackigen, unbarmherzigen, Knobelbecher tragenden, mordlüsternen, vernagelten Fanatiker“ waren – natürlich nicht. Ebenso wie ich zugestehe, dass die meisten Muslime keine Terroristen und die meisten Linken keine Stalinisten oder RAF-Mörder sind.

Wenn ich aber solche charakterlichen Unterschiede zur Grundlage der politischen Analyse mache, wenn ich also einen radikalen Trennstrich zwischen der Mehrheit der damaligen Deutschen und der Minderheit „der Nazis“ ziehe, dann bleibt mir nichts anders übrig, als in analoger Weise zwischen Islam und Islamismus und zwischen Linken und Kommunisten zu unterscheiden und die Wechselwirkung zwischen den angeblich Gemäßigten und den Extremisten auszublenden.

Resident hat gesagt…

Interessanter Disput. Ich kann weder dem einen, noch dem anderen zu stimmen.

Manfred greift mir viel zu weit in seiner Definition von Nazi. Selbst wenn seine Definition stimmen würde und alle Deutschen "totalitär" wären, macht sie das nicht zu Nazis, denn ein Bolschewik ist zwar totalitär aber kein Nazi (was aber im Endeffekt wenig Unterschied mach.) Aber auch seine Definition von "totalitär" ist daneben. Nicht alles was nicht einem engen Bild einer liberalen Demokratie entspricht ist gleich totalitär (und auch der Liberalismus kann totalitär werden). Totalitär heißt das ein Staat nicht nur Gehorsam fordert - das tun alle - sondern, daß er innere Zustimmung und Überzeugung fordert.

Wohl im Gegenzug macht dann LP ein andere Faß auf: die Deutschen seien so anders als die anderen Völker nicht gewesen. Und da hat er im weiten Teilen recht. Nur darf das nicht zur einer Nivellierung des Nazismus (etwa mit dem Faschismus) führen, denn mit dem industriell geführten Massenmord steht Nazideutschland nunmal alleine da.

Und das ist mein Problem mit beiden: beide verkennen - zumindest in ihren Beiträgen zu dieser Debatte - die wirklich zentralen Übeltaten des Nazi-Regimes, der eine um das deutsche Volk zu verurteilen, der andere um es freizusprechen.

Und da sind sie ja nicht allein. Wenn jemand aus Dachau herauskommt und nichts besseres zu sagen hat als: "Nie wieder Diktatur!", dann frage ich ob er irgendwas begriffen hat.

Resident hat gesagt…

"Die Vorstellung, Staaten seien Systeme zur Erringung von Weltherrschaft, deswegen sei der Krieg der Normal- und der Frieden der Ausnahmezustand, und Politik bestehe im wesentlichen aus Kriegsvorbereitung, ist etwas vollkommen ANDERES. Genau diese Vorstellung war aber in Deutschland – von den Marxisten bis zu den Nazis – Allgemeingut."

Es sind solche Sätze, die einem den Kopf schütteln lassen. Sicher Nazis dachten so, manche andere Nationalisten - ob konservativ oder liberal - dachten so (und verschieden Marxisten, wenn auch bestimmt nicht jene von der SPD, hatten andere Welteroberungsspläne), aber wie kommt man auf die Idee alle dachten so?

Was in Deutschland als Besonderheit anzutreffen war, war eine durch den Weltkrieg verursachte Verrohung der "politischen Umgangsformen".

Resident hat gesagt…

Wohlgemerkt, meine beiden Kommentare beziehen sich auf das hier geschriebene.

Ich sehe nun, daß Manfred in seiner ersten Antwort auf LP sehr wohl zwischen autoritär und totalitär unterscheiden kann.

Und LPs ersten Posting auf Manfreds Blog kann ich nur zustimmen.

Le Penseur hat gesagt…

@str1977:

Nur darf das nicht zur einer Nivellierung des Nazismus (etwa mit dem Faschismus) führen, denn mit dem industriell geführten Massenmord steht Nazideutschland nunmal alleine da.

Sie erlauben (oder auch nicht), daß ich widerspreche.

1. nivelliere ich nicht Nazismus und (z.B. italienischen, aber den werden Sie vermutlich gemeint haben) Faschismus — absit longe! Da gibt es Unterschiede im Niveau — oder besser: der Niveaulosigkeit — die nicht übersehbar sind.

2. im industriell geführten Massenmord steht Nazideutschland hingegen keineswegs alleine da! Da können Rußland unter Stalin, China unter Mao, die Türkei unter den Jungtürken, Kambodscha unter Pol Pot, die Kolonialmacht Großbritannien in Indien und noch manch andere locker mithalten. Was die Nazigreuel nicht "verharmlost" (wie unbedarfte Deutschenhasser und Antifa-Professionisten jetzt gleich aufschreien werden), sondern aus einer letztlich ungebreiflichen Singularität der Unmoral zu einer begreiflichen (natürlich nicht im Sinne von "gutzuheißenden", sondern im Sinne von "in Begriffe faßlichen"!), jedem Totalitarismus letztlich systemimmanenten Grauenhaftigkeit macht.

Denn, ich habe es schon öfters gesagt, aber wiederhole es gern ein weiteres Mal: eine unbegreifliche Singularität verstellt nur den Blick für künftig drohende Gefahren. Wer die Nazi-Untaten als einzigartig und völlig unvergleichlich qualifiziert, der nimmt sich damit die Erkenntnismöglichkeit, drohende ähnliche Untaten in der Zukunft zu erkennen und zu verhindern.

scrutograph hat gesagt…

Manfred scheint ein Faible für möglichst große Feindkollektive zu haben. Die Muslime sind irgendwie alle gefährlich, da sie unter dem Einfluss von Islamisten stehen. Die Deutschen der Generation 1914 waren irgendwie alle Nazis, weil alle nach der Weltmacht strebend, was den Briten und anderen Ländern es Westens damals nie eingefallen wäre. (Vielleicht stimmt es ja, die waren ja schon Weltmacht, also mussten sie auch nicht nach ihr streben).

Resident hat gesagt…

"im industriell geführten Massenmord steht Nazideutschland hingegen keineswegs alleine da!"

Als ich das las, war ich gespannt, welche Beispiele sie bringen könnten.

Und ich war entsetzt:

ja, Stalin und Mao und Pol Pot spielen in einer Liga was den Umfang des Mordens angeht, nicht aber was die industrielle Methode angeht.

Die Jungtürken - so schlimm der Völkermord an den Armeniern auch war - aber nicht.

Aber "die Kolonialmacht Großbritannien in Indien" zu erwähnen ist nur lächerlich. Ja, die Briten haben in Indien systematisch Inder abgeschlachtet, Ja, ganz sicher. Wenn Sie sich dabei besser fühlen, dann muß es so sein.

Insofern verharmlost es die Naziverbrechen eben doch, denn Sie stellen diesselben auf eine Stufe mit dem, was die Briten in Indien taten. Dazu muß man kein Deutschenhasser oder A-faschist sein.

Wie sie dann zu Totalitarismus kommen ist mir auch schleierhaft, denn von den oben genannten Regierungen waren zwei nicht-totalitär

"eine unbegreifliche Singularität verstellt nur den Blick für künftig drohende Gefahren."

Das mag so sein und wird von mir auch nicht bestritten.

Nur, gibt es noch andere Alternativen außer der "unbegreiflichen Singularität" und einer "alle Katzen sind grau und die Briten in Indien auch nicht besser als Hitler".

Einzigartig sind dei Naziverbrechen, aber nicht a priori sondern weil diese industrielle Tötungsmaschinerie allein steht. Unvergleichlich ist nie etwas, denn vergleichen kann man immer (und das Resultat kann dann die Einzigartigkeit eines Ereignisses sein).

Tja, LP, nachdem ich ihre Postings bei Manfred gelesen hatte, hatte ich eigentlich einen ganz guten Eindruck, was Sie angeht. Den haben Sie mit obigen aber wiederum gründlich zerstört.

Resident hat gesagt…

Und nicht nur das, ihre Argumentation trifft die kritisierte Überschrift "War Opa ein Nazi? Wenn er ein Deutscher war: na klar doch!"

Sie argumentieren nämlich nur, daß nicht alle Deutschen Nazis waren, sondern auch alle anderen genannten. Sprich, die Briten des 19./20. Jahrhunderts waren Nazis.

Nur Opa wäre auch immer noch ein Nazi, auch wenn grandfather einer wäre.

Le Penseur hat gesagt…

@str1977:

Als ich das las, war ich gespannt, welche Beispiele sie bringen könnten.

Und ich war entsetzt:


Na, hoffentlich erholen Sie sich von Ihrem politisch korrekten Entsetzen wieder. Ich fände es angebrachter, Sie würden sich darüber entsetzen, welche Völker- und sonstigen Massenmorde bis heute nonchalant unter den Teppich gekehrt werden, nur weil die, die sie begingen, die rechte (will heißen: linke) Ideologie vertraten, bzw. weil man es sich mit ihnen aus geopolitischen bzw. ökonomischen Gründen nicht verscherzen möchte.

ja, Stalin und Mao und Pol Pot spielen in einer Liga was den Umfang des Mordens angeht, nicht aber was die industrielle Methode angeht.

Als ob letzteres nicht völlig egal wäre. Und was heißt überhaupt "industrielle Methode"? sind Massenerschießungen von Kulaken nicht "industriell"? sind KZs, in denen Leute gezielt zum Verhungern gebracht werden, nicht "industriell"? Die Tatsache, daß die Gaskammern von Auschwitz als Duschräume getarnt waren, ist gegenüber der Tatsache, daß dort massenweise Juden vergast wurden, wohl sekundär. Aber macht das den gezielten Massenmord durch Abschneiden von jeglicher Lebensmittelzufuhr (weil "un-industrieller") deshalb weniger verwerflich? Ich denke nicht!

Die Jungtürken - so schlimm der Völkermord an den Armeniern auch war - aber nicht.

Na klar. War ja bloß nicht mal ne schlappe Million. Und die Jungtürken waren nur zufällig an der Macht, als es passierte — wie das Leben halt so spielt ...

Oder was wollten Sie damit sagen?

Aber "die Kolonialmacht Großbritannien in Indien" zu erwähnen ist nur lächerlich. Ja, die Briten haben in Indien systematisch Inder abgeschlachtet, Ja, ganz sicher. Wenn Sie sich dabei besser fühlen, dann muß es so sein.

Sie sollten vielleicht doch den Guardian-Artikel lesen ... "lächerlich" finde ich das, was darin berichtet wird, keineswegs. Jedenfalls um nichts "lächerlicher", als die Judenvernichtung durch die Nazis. Und die finde ich keineswegs lächerlich.

Ihre Ironie ("Ja, die Briten haben in Indien systematisch Inder abgeschlachtet, Ja, ganz sicher. Wenn Sie sich dabei besser fühlen, dann muß es so sein") ist, da es sich auch bei den Millionen von Indern schließlich nicht um Ungeziefer, sondern um "Menschen wie du und ich" handelte, einigermaßen unangebracht.

Einzigartig sind dei Naziverbrechen, aber nicht a priori sondern weil diese industrielle Tötungsmaschinerie allein steht.

Haben Sie sich schon einmal die Mühe gemacht, Solschenizyn zu lesen? Finden sie die Vernichtungsmaschine des Gulag weniger "industriell"? Ja, es ist die Industrialität eines früheren Zeitalters, die Deutschen waren da technisch fortgeschrittener. Aber die Leute durch gezielte Unterernährung sich in der subarktischen Kälte Sibiriens zu Tode arbeiten zu lassen, ist, was die Grausamkeit betrifft, wohl noch über dem, was für deutsche KZs berichtet wird. Und von den Opferzahlen braucht Stalin auch keinen Vergleich zu scheuen ...

Wenn Sie daher solche Scheußlichkeiten als "Verharmlosung der Naziverbrechen" empfinden, kann ich Ihnen auch nicht helfen! Und ich kann es v.a. nicht nachvollziehen — "verharmlosen" setzt voraus, daß das, was z.B. im Gulag passierte, "harmlos" war. Wenn Sie das ernstlich behaupten wollen, hätte ich allen Grund, an Ihrem gesunden Menschenverstand zu zweifeln!

Tja, LP, nachdem ich ihre Postings bei Manfred gelesen hatte, hatte ich eigentlich einen ganz guten Eindruck, was Sie angeht. Den haben Sie mit obigen aber wiederum gründlich zerstört.

Damit werde ich leben müssen.

Sie argumentieren nämlich nur, daß nicht alle Deutschen Nazis waren, sondern auch alle anderen genannten. Sprich, die Briten des 19./20. Jahrhunderts waren Nazis.

Sorry, aber da haben Sie eben nicht alles verstanden. Deshalb nochmals in gebotener Knappheit:

Keineswegs behaupte ich, daß die Briten des 19./20. Jh. Nazis waren. Ich bestreite nur Manfreds These, quasi alle Deutschen seien welche gewesen, mit dem Argument, daß man sonst alle Russen als Stalinisten etc. bezeichnen müßte — was niemand tut und was offenkundig unsinnig ist. Warum soll aber ein evidenter Unsinn bei Russen auf einmal — mutatis mutandis — bei Deutschen einen Sinn ergeben?

Resident hat gesagt…

LP,

ich habe überhaupt kein "politisch korrekte(s) Entsetzen", denn politische Korrektheit liegt mir ferne. Es geht auch nicht darum, andere Massenverbrechen zu beschweigen. Nein, heraus damit ans Licht! Nur sollte man nicht versuchen, diese dazu zu benutzen, sich selbst etwas weniger schlecht zu fühlen. Und das ist nun mal mein Eindruck, da sie so nonachalant über Fakten hinwegbügeln.

Zur industriellen Methode sagen sie:

"Als ob letzteres nicht völlig egal wäre. Und was heißt überhaupt "industrielle Methode"?"

Nein es ist nicht völlig egal. Sie mögen es für unwichtig halten, aber dennoch ist es so, daß es hier eine Einmaligkeit eben der Methode gibt. Es geht mir auch nicht darum, daß dies verwerflicher wäre als andere Methoden (aber es ist bezeichnend: Sie denken gleich nur daran, die anderen könnten weniger verwerflich sein - das läßt tief blicken) - aber es ist nunmal Ausdruck eines säkularen Trendes der Moderne, der Mechanisierung, Automatisierung, Industrialisierung. Dies auch auf das Töten anzuwenden ist tatsächlich ein neues Niveau.

"Na klar. War ja bloß nicht mal ne schlappe Million. Und die Jungtürken waren nur zufällig an der Macht, als es passierte — wie das Leben halt so spielt ..."

Ich weiß gar nicht was Sie haben. Habe ich die Jungürken exkulpiert? Nur, sie sagen eine "schlappe Million". Abgesehen davon, daß es es auch andere Zahlen gibt (und ich will mich nicht festlegen, weil es ohne großen Belang ist), aber ist eine Million nicht beträchtlich weniger als das was Hitler, Stalin und Mao angerichtet haben?

Was den Guardian-Artikel angeht - wie sollte ich ihn einfach so lesen können, Guardian ist ohnehin nicht meine Lektüre - aber das Zitat daraus, was Sie bringen ist auch lachhaft: die Türken sind die Weltmeister im Leugnen, schreiben es sogar in ihrem Strafgesetzbuch fest. In England dagegen weiß man sehr wohl darum, daß man keine weiße Weste hat - man macht sich nur keine Neurose daraus, wie in Deutschland.

Aber was war denn noch mal das große Menschheitsverbrechen, das die Briten in Indien begangen haben? Das ist mir irgendwie entgangen! Um wie viel schlappe Millionen handelt es sich denn? Ich habe Inder nicht als Ungeziefer bezeichnet - das waren Sie! Und jeder geschundene oder getötete Mensch ist einer zuviel - nur Sie instrumentalisieren deren Leid, um Naziverbrechen herunterzuspielen.

Ja und in der Tat: wenn es hier auch um Nuancen der Grausamkeit und Verwerflichkeit geht, halte ich Arbeitslager für einen Tick weniger abscheulich als reine Vernichtungslager. Beide sind unterirdisch, aber wenn Sie sich weigern den Unterschied zu sehen (nur zu sehen, nicht als sehr bedeutend anzuerkennen), kann ich ihnen auch nicht helfen.

Sie kommen nunmal nicht herum, daß Sie hier Verharmlosung betreiben. Sie reden ja nicht über andere deutsche Verbrechen (die Nazis waren ja nicht die einzigen deutschen Verbrecher). Sie stellen ja auch nicht nüchter die Bilanz des Britischen Empire dar. Sie schreiben auch keinen Aufsatz über den GULag oder den Armenozid oder die Kulturrevolution. Nein, was Sie tun ist ein einziges "Die anderen haben auch Dreck am Stecken!", was halt besonders auffällig ist, wenn einer der anderen ein paar Flecken hat während Sie selbst von Kopf bis Fuß in Schlamm waten.

Aber warum eigentlich? Warum Sie? Sie als Österreicher sind doch ohnehin ein Opfer des Nationalsozialismus! Aber ernsthaft: warum müssen Sie sich so vehement für die Kleinmachung einer Schuld einsetzen, die nicht die Ihre (und auch nicht meine) ist?

Ich habe Sie sehr wohl verstanden: natürlich wären die Briten nicht Nazis sondern erwas entsprechendes - und natürlich haben Sie was Manfreds Grundthese angeht recht. Nur streiten Sie hier mit unlauteren Mitteln (Großbritannien war weder damals noch heute ein totalitärer Staat) und bringen Sich selbst in üble Fahrwasser mit ihren Gleichsetzungen von britischen Kolonialübeln mit den Naziverbrechen (oder auch den Stalinschen Verbrechen - auch diese spielen in einer anderen Liga von den Briten - also nix mit politischkorrektem Deutschenhaß bei mir).

Resident hat gesagt…

Ach ja nochwas:

"Britische KZ" - genau das ist die alte Masche.

Ja, es gab britsche "concentration camps". Und diese waren genau das, Lager, in denen Feindgruppen konzentriert wurden. Und da geschahen auch Greueltaten, die anzuprangen sind.

Nur, die Konzentrationslager in Nazideutschland waren aber nicht alle dieser Art, sondern eben (was jene angeht, um die es hier geht) Vernichtungslager. Hier war von Anfang das Ziel, die internierten Menschen zu töten. KZ ist eigentlich genauso ein Euphemismus wie "Umsiedlung in den Osten".

Können Sie das wirklich nicht begreifen?

Le Penseur hat gesagt…

@str1977:

ich habe überhaupt kein "politisch korrekte(s) Entsetzen", denn politische Korrektheit liegt mir ferne.
Das freut mich zu hören. Ich glaube es Ihnen zwar nicht ganz, aber ...

Es geht auch nicht darum, andere Massenverbrechen zu beschweigen. [...] Nur sollte man nicht versuchen, diese dazu zu benutzen, sich selbst etwas weniger schlecht zu fühlen.
Ihre Fähigkeit zur Ferndiagnose ist sicherlich beachtlich, aber leider ohne fundamentum in re.
Ich fühle mich eigentlich nicht schlecht, sondern es wird mir höchstens schlecht, wenn ich vom moralischen Kothurn herab Geschichtslügen lesen muß ...

Nein es ist nicht völlig egal. Sie mögen es für unwichtig halten, aber dennoch ist es so, daß es hier eine Einmaligkeit eben der Methode gibt.
Schlichtweg: nein! Die deutschen KZs sind — vielleicht von ein paar technischen Details abgesehen — mit dem Gulag völlig vergleichbar. Und mit chinesischen KZs. Und mit kambodschanischen KZs. Und ...

Und ja: ich finde, daß es ziemlich egal ist, ob nun Menschen aus dem Grund der Andersartigkeit bzw. anderer Meinungen massenweise und anonym (und nichts anderes will "industriell" doch offenbar bedeuten!) durch Gas, durch Verhungernlassen, durch Schädeleinschlagen oder sonstwie getötet werden. Da gibt es m.E. höchstens Unterschiede in der Grausamheit, die die Opfer vor und im Tod zu erleiden hatten. Und hier sieht es fürs Verhungern und Erfrieren nicht gerade reizend aus.

Aber was war denn noch mal das große Menschheitsverbrechen, das die Briten in Indien begangen haben? Das ist mir irgendwie entgangen!
Lesen hilft. Ich darf aus dem Guardian zitieren?

1. bezüglich Indien:
»In his book 'Late Victorian Holocausts', published in 2001, Mike Davis tells the story of famines that killed between 12 and 29 million Indians. These people were, he demonstrates, murdered by British state policy. [...] The only relief permitted in most districts was hard labour, from which anyone in an advanced state of starvation was turned away. In the labour camps, the workers were given less food than inmates of Buchenwald. In 1877, monthly mortality in the camps equated to an annual death rate of 94%.«

2. bezüglich Kenia:
»Three recent books – 'Britain's Gulag' by Caroline Elkins, 'Histories of the Hanged' by David Anderson, and 'Web of Deceit' by Mark Curtis – show how white settlers and British troops suppressed the Mau Mau revolt in Kenya in the 1950s. Thrown off their best land and deprived of political rights, the Kikuyu started to organise – some of them violently – against colonial rule. The British responded by driving up to 320,000 of them into concentration camps. Most of the remainder – more than a million – were held in "enclosed villages". Prisoners were questioned with the help of "slicing off ears, boring holes in eardrums, flogging until death, pouring paraffin over suspects who were then set alight, and burning eardrums with lit cigarettes".
British soldiers used a "metal castrating instrument" to cut off testicles and fingers. "By the time I cut his balls off," one settler boasted, "he had no ears, and his eyeball, the right one, I think, was hanging out of its socket." The soldiers were told they could shoot anyone they liked "provided they were black"«

Aber natürlich, irgendwelchen Negern bei Verhören die Nasen, Ohren und Eier abzuschneiden, ist eine nette Routine, deren leichte Menschenrechtskonventionswidrigkeit einem schon irgendwie entgehen kann ...

Und irgendwelche eingesperrte Inderkulis zu 94% durch Schwerarbeit und gezielte Unterernährung ("... the workers were given less food than inmates of Buchenwald") über den Ganges zu bringen, ja mei! sowas kommt halt vor ...

Sie kommen nunmal nicht herum, daß Sie hier Verharmlosung betreiben.
Verharmlosung?! Ich glaube, ich träume. Wenn Sie diese Greuel als "harmlos" empfinden, tun Sie mir leid! Und noch mehr Ihre Umgebung, denn — ohne mich auf psychologische Ferndiagnosen einlassen zu wollen — wenn jemand den Vergleich der Nazi-Greuel mit diesen Greueltaten der Briten als "Verharmlosung" empfindet, dann liegt der Verdacht auf einen ernstlichen Charakterdefekt bzw. eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung nahe.

Können Sie das wirklich nicht begreifen? fragen Sie zum Schluß.

Nein, diese Ihre Kaltschnäuzigkeit kann ich nicht begreifen! Und ich habe auch wenig Animo, sie begreifen zu wollen.

Resident hat gesagt…

Bevor ich auf Ihre Antwort eingehe, hier meine Anmerkungen zum Guardian-Artikel:

1. "a more effective means of suppression. Without legal coercion, without the use of baying mobs to drive writers from their homes, we have developed an almost infinite capacity to forget our own atrocities."

Aha, es ist also schlimmer Unrecht, das man begangen hat, zu vergessen (was nur allzu menschlich ist) als ein Schweigen darüber mit Feuer und Schwert herzustellen. Interessant!

Aber schauen wir uns die britischen Greuel an:

2. "the story of famines that killed between 12 and 29 million Indians"

Soso, famines also Hungersnöte. Sicher gibt es auch Hungersnöte, die gewollt sind (siehe Stalin) oder wohlwollend in Kauf genommen wurden (siehe Mao). Sicher sind die britischen Offiziellen natürlich nicht ganz ohne Verantwortung, sei es nun unterlassene Hilfeleistung aus Eigeninteresse und ideologischen Gründen (die betreffende Ideologie war der Liberalismus). Oder auch die unbarmherzige Steuereintreibung. Nur, kann man dies nicht ernsthaft mit dem Völkermord gleichsetzen, wie er von Nazis oder Bolschewisten oder Jungtürken verübt wurde.

3. Was die Mau-Mau-Revolte angeht, sicher hier wurde brutal eine Revolte niedergeschlagen mit allerlei Greuel. Vergleiche mit z.B. der Niederschlagung der Herero oder des Boxeraufstands etc. sind durchaus angebracht. Aber wo ging hier das Britische Empire auf eine überhaupt keinerlei feindseligen Absichten hegende Minderheit los, wie es die Nazis gegen die Juden taten? (Der Guardian-Autor zieht auch keine solchen Vergleiche - das tun nur Sie!)

4. Schließlich, die Absicht des ganzen Artikels kommt am Anfang und am Ende zutage: hier sollen berechtigte Einwände gegen den Türkei-Beitritt der EU abgeräumt werden, weil ja die Briten noch vieeel vieeel schlimmer seien als die Türken.

Diese Absicht teilen Sie natürlich nicht. Nur, sie ersetzen nur eine unlautere Absicht durch die andere.

Falls sich noch etwas aus Ihrer obigen Antwort ergibt, werde ich gleich darauf antworten.

Resident hat gesagt…

"Ich fühle mich eigentlich nicht schlecht, sondern es wird mir höchstens schlecht, wenn ich vom moralischen Kothurn herab Geschichtslügen lesen muß ..."

So so. Ebenso geht es mir, wenn ich Ihre Argumente oder den Guardian lese. Wenn Sie Sich nicht schlecht fühlen, warum dann diese Verve mit der unbedingt auch noch die Briten als ebenso schlecht gemacht werden müssen?

"Schlichtweg: nein! Die deutschen KZs sind — vielleicht von ein paar technischen Details abgesehen — mit dem Gulag völlig vergleichbar. Und mit chinesischen KZs. Und mit kambodschanischen KZs. Und ..."

Ähem. Kennen Sie wirklich nicht den Unterschied zwischen Vernichtungslagern und sicherlich auch brutalen Arbeitslagern?

"anonym (und nichts anderes will "industriell" doch offenbar bedeuten!)"

Äh nein. Industriell bedeutet auch mit Automatismus und Systematik.

"Und ja: ich finde, daß es ziemlich egal ist, ob nun ..."

Anscheinend ist es ihnen aber egal ob 50 Millionen, 100 Millionen, 2 Millionen, 1 Million oder ein paar hunderttausend getötet werden.

Anscheinend ist es Ihnen egal, ob es sich dabei um die Niederschlagung eines (wie auch immer motivierten) Aufstandes, um die Folgen einer Hungersnot oder um absichtsvolles, systematisches Töten wehrloser Bevölkerungsgruppen.

"Ich darf aus dem Guardian zitieren?"

Wenn es sein muß (sie sollten aber Ihre PC-Angriffe besser gegen dieses Blatt richten. Der Guardian-Reader ist nicht umsonst in England sprichwörtlich.), aber geantwortet habe ich ja oben bereits.

Zu Ihren weiteren Kommentaren ist nur so viel noch zu sagen:

Bei Ihnen gibt es halt wohl nur zwei Möglichkeiten: völlige Gleichgültigkeit gegenüber den indischen und afrikanischen Opfern (die Sie mir in unverfrorener Weise unterstellen) oder die völlige moralische Gleichheit zwischen diesen Greueln auf der einen Seite und den großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts wie sie von Hitler, Stalin und Mao verübt wurden. Das es nuancierte Positionen geben könnte, das man beides verurteilen könnte ohne eine Gleichwertigkeit zu behaupten, kommt ihnen wohl nicht in den Sinn. Ja, ich bleibe dabei, Sie verharmlosen hier! Nicht weil die britischen Untaten harmlos wären, sondern weil Sie Sie noch darüber hinaus aufbauschen um einer Gleichsetzung willen. Und es wird ja kein, "Alle Katzen sind schwarz" daraus, sondern ein "Alle Katzen sind grau." Und plötzlich ist der tiefschwarze Hitler und der tiefschwarze Mao genauso grau wie der das eigentlich hellgraue Empire.

"ohne mich auf psychologische Ferndiagnosen einlassen zu wollen"

Wenn Sie es nicht wollen, dann lassen Sie es doch sein, mitsamt den Ausfällen. Aber so habe ich Sie ja schon früher kennengelernt. Keinen Widerspruch vertragend und die anderen persönlich angreifend. Und natürlich sich gerne auf eine einzige, fragwürdige Quelle berufend. (Das war ja schon bei Mohammed so! Hier ist es der Guardian.)

Le Penseur hat gesagt…

@str1977:

Zunächst, um einen Irrtum aufzuklären:
"... a more effective means of suppression" heißt nicht ein "schlimmeres", sondern ein "effektiveres Mittel zur Unterdrückung". Was nicht dasselbe ist!

Kennen Sie wirklich nicht den Unterschied zwischen Vernichtungslagern und sicherlich auch brutalen Arbeitslagern?

Sie wollen mir ernstlich z.B. die KZs des Pol-Pot-Regimes (oder die KZs in China, oder den sowjetischen Gulag) als bloß "brutales Arbeitslager" verkaufen? Halten Sie mich und die Leser dieses Blogs für totale Ignoranten?

Haben Sie schon einmal Ihre Nase in den "Archipel Gulag" von Solschenizyn gesteckt? Ist Ihnen da vielleicht sogar untergekommen, daß dieser dabei von einer "Gefängnisindustrie" spricht? Nein? Dann wird's Zeit!

Anscheinend ist es ihnen aber egal ob 50 Millionen, 100 Millionen, 2 Millionen, 1 Million oder ein paar hunderttausend getötet werden.
Nein, das ist mir keineswegs egal. Aber wenn Sie mir das schon unterstellen, dann sagen Sie mir doch, bitte: sind mehr Menschen unter Hitler oder unter Stalin aus ideologischen Gründen durch Massenmorde und in politischen Gefängnissen ums Leben gekommen? Na, sagen Sie's doch ... jetzt haben Sie die Chance, dem staunenden Publikum 100 Millionen bei Hitler und ein paar hunderttausend bei Stalin vorzuführen! So eine Gelegenheit kommt so bald nicht wieder ...

(Verzeihung, daß ich etwas ironisch werde — aber dieses PC-Gesülze von der "Einzigartigkeit der Nazi-Verbrechen" ist m.E. der nackte Hohn gegenüber jenen Abermillionen, die dem Kommunismus und der Kolonialpolitik ohne auch nur den Schatten eines Bedauerns einfach geopfert wurden!)

Soso, famines also Hungersnöte
Na ja, wer sagt's denn! Kommt halt vor, so eine Hungersnot ... Und so irgendwie war es auch nicht nett, daß man Hilfslieferungen mit Gefängnisstrafen bedroht hat. Aber so richtig schuldig ist natürlich keiner von den Briten.

Sorry, aber wenn ich Ihre Argumentation so Revue passieren lasse, kommt mich das Kotzen an. Hungernde in Arbeitslager zu sperren, sie dort unter Zwang bei unzureichender Ernährung Schwerarbeit verrichten lassen und einfach in Kauf nehmen, daß 94% davon in Jahresfrist dabei krepieren (anders kann man's ja nicht bezeichnen!) — das ist für mich um keinen Deut besser, als Juden in KZs zu sperren und zu vergasen. Die Beweggründe (bei Hitler: Rassenhaß — bei den Briten: Geld- und Machtgier) mögen differieren, aber das war's dann schon. Und aus Sicht des Opfers ist es ziemlich egal, ob es dem Arierparagraphen oder den Interessen der Londoner Warenbörse geopfert wurde.

Sicher sind die britischen Offiziellen natürlich nicht ganz ohne Verantwortung.
Na geh! Da werden sich die Hinterbliebenen aber freuen, für so eine mutige Ansage! Man stelle sich vor: "Sicher waren die deutschen Offiziellen natürlich nicht ganz ohne Verantwortung an der Judenvernichtung" — da käme vermutlich der Staatsanwalt ...

Anscheinend ist es Ihnen egal, ob es sich dabei um die Niederschlagung eines (wie auch immer motivierten) Aufstandes, um die Folgen einer Hungersnot oder um absichtsvolles, systematisches Töten wehrloser Bevölkerungsgruppen [geht].
Nein, ist es mir nicht. Nur ist z.B. die Kastration, die Blendung, das Abschneiden von Nasen und Ohren von Aufständischen auch kein Vorgang, den man mit einem begütigenden "... sind die britischen Offiziellen natürlich nicht ganz ohne Verantwortung" wegwischen könnte.

Bei Ihnen gibt es halt wohl nur zwei Möglichkeiten: völlige Gleichgültigkeit gegenüber den indischen und afrikanischen Opfern (die Sie mir in unverfrorener Weise unterstellen) oder die völlige moralische Gleichheit zwischen diesen Greueln auf der einen Seite und den großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts wie sie von Hitler, Stalin und Mao verübt wurden.
Interessant! Jetzt sind es auf einmal "Hitler, Stalin und Mao", wo's doch vorher stets die "Einzigartigkeit" der Nazi-Verbrechen war?

außerdem unterstelle ich Ihnen nicht (und schon gar nicht unverfroren) "völlige Gleichgültigkeit gegenüber den indischen und afrikanischen Opfern". Ich unterstelle Ihnen eine kaltschnäuzige Inkonsequenz und Einseitigkeit, wenn es um die Verteidigung der von Ihnen (warum auch immer) postulierten "Einzigartigkeit" der Nazi-Verbrechen geht. Hier sind Sie m.E. nur allzu bereit, nicht bloß jeden Vorwurf gegen die Nazis zu teilen, sondern auch jede denkbare Exculpierung aller anderen Verbrechen wohlwollend anzunehmen. Vielleicht auch in dem angenehmen Gefühl, daß zwar die Auschwitzlüge strafbar ist, dies aber von einer noch so schamlosen "Der Gulag war doch halb so arg"-Lüge, einer "die Kulturrevolution hatte ein berechtigtes Anliegen"-Lüge etc. etc. nicht gilt.

Und es wird ja kein, "Alle Katzen sind schwarz" daraus, sondern ein "Alle Katzen sind grau." Und plötzlich ist der tiefschwarze Hitler und der tiefschwarze Mao genauso grau wie der das eigentlich hellgraue Empire.
Doch: es wird, so Sie meinen Artikel gelesen hätten, ganz eindeutig ein "Alle Katzen sind schwarz" daraus — auch wenn Ihnen das nicht gefällt, da Sie doch das britische Empire viel lieber bloß hellgrau sähen!

Ich bin einfach nicht bereit, die Grueltaten anderer Völker aus einem antifaschistischen Kalkül heraus unter den Teppich zu kehren, nur weil das für die Nazi-Greuel den kontrastreicheren Hintergrund abgibt. Das macht mich bei allen PCphilikern verhaßt, zu deren Säkularmythologie genau jene behauptete "Einzigartigkeit" gehört.

Aber ich habe schon immer etwas gegen Mythen gehabt, wenn sie — statt als Denkanregung, wenn als solche sind die wertvoll! — als sinnstiftende und "exekutierbare" Dogmen ge- bzw. mißbraucht wurden.

Da geht es mir bei der Inquisition genauso, wie bei ihren heutigen PC- und Antifa-Nachfolgeorganisationen. Ich mag sie alle nicht, offen gesagt!

In einem britischen Adelswappen (des Earl of Radnor, glaube ich) fand ich das Motto: "Patria cara, carior Libertas". Nach meinem Dafürhalten kann man für "Patria" so ziemlich jedes andere Wort einfügen. Sie werden es als überzeugter Katholik wenigstens für "Fides catholica" zurückweisen, nehme ich an.

Für mich jedoch ist die Freiheit in der Tat das Lebenselement schlechthin, das legitimerweise nur durch die "Veritas" eine gewisse Begrenzung erfahren darf.

Vielleicht verstehen Sie jetzt meinen Standpunkt besser — Sie müssen ihn ja nicht teilen.

Resident hat gesagt…

"Zunächst, um einen Irrtum aufzuklären:"

Es besteht kein Irrtum, sie verstehen nur meinen Kommentar nicht. Sie mein sich mit (anti)deutschen Antifas auszukenne, aber den Guardian kennen Sie halt nicht. Und sehr wohl stellt der Schreiber die beiden Methoden zumindest auf eine Stufe (so wie Sie das ja auch tun), nur ist nunmal klar Verfolgen, Einsperren udn Ermorden ist schlimmer als einfach nur beschweigen. Es steht ja jedem in GB frei, darüber sich zu äußern was auch geschieht. Es artet nur (außerhalb des Guardians) nicht in Selbsthaß aus, wie man ihn aus Deutschland kennt.

"Sie wollen mir ernstlich z.B. die KZs des Pol-Pot-Regimes (oder die KZs in China, oder den sowjetischen Gulag) als bloß "brutales Arbeitslager" verkaufen?"

Moment, das "bloß" haben Sie hier reingeschmuggelt. Stalin und Pol Pot wollten beides. Aber ja, ein reines Vernichtungslager halte ich für eine Spur böser.

"Halten Sie mich und die Leser dieses Blogs für totale Ignoranten?"

Dazu sag ich jetzt mal nichts.

"Gefängnisindustrie" ist immer noch etwas weniger schlimm als eine "Tötungsindustrie". Sie misinterpretieren hier meiner Meinung nach Solschenyzin, handelt es sich doch eher eine auf Gefängnisse (und deren Zwangsarbeit) basierende Industrie, wohingegen die Tötungsindustrie der Nazis eben Tod herstellte. In Fließfertigung.

"Nein, das ist mir keineswegs egal."

Warum schreiben Sie dann so als ob ...?

"Aber wenn Sie mir das schon unterstellen, dann sagen Sie mir doch, bitte: sind mehr Menschen unter Hitler oder unter Stalin aus ideologischen Gründen durch Massenmorde und in politischen Gefängnissen ums Leben gekommen?"

Stalin hatte auch eing wenig länger Zeit und Menschen unter sich.

Nur, meine Hauptkritik bezog sich ja gar nicht auf Hitler und Stalin und Mao - ich sagte bereits, der Unterschied hier ist "nur" einer der Methode. Nicht zu vernachlässigen meiner Meinung nach, doch auch nicht riesig.

Meine Kritik traf ihre Gleichsetzung mit den Jungtürken und vor allem dem Britischen Empire.

Ich kann auch ihr Selbstentschuldungsgesülze (wobei niemand sie beschuldigt hat) schwer ertragen.

Ja, Hungersnöte kommen vor. Ja, die Briten haben sich da nicht mit Ruhm bekleckert aber es ist schon ein Unterschied zwischen unterlassener Hilfeleistung und MORD! Oder nicht? Wahrscheinlich nicht, wenn es um Briten geht.

"das ist für mich um keinen Deut besser, als Juden in KZs zu sperren und zu vergasen."

Ja, nur greifen Sie da wieder ein Element raus und bauschen es auf. Wie viele Inder starben denn so?

Dem Opfer ist es immer egal. Gestern geschah in Österreich ein Mord. Welch barbarisches Land, welch schlechte Menschen!

"Sicher waren die deutschen Offiziellen natürlich nicht ganz ohne Verantwortung an der Judenvernichtung" — da käme vermutlich der Staatsanwalt ..."

Vielleicht. Sie haben aber immer noch nicht den Unterschied begriffen. Das tut mir um ihretwillen Leid, denn anscheinend können sie weder klar denken noch sehen, weshalb auch jeder ihrer Kommentare von Abstrusitäten nur so wimmelt. Und wiederum widerstehe ich der Versuchung, sie mit Kraftausdrücken zu überschütten, wenn es mich auch noch so reizt.

Machen wir es kurz und schmerzlos:
ich habe besseres zu tun als mich von einem österreichischem Großmaul auch noch beleidigen zu lasen, nur damit dieser auf seinem hohen Roß über die Welt richten kann. Bei ihrem Standpunkt gibt es nichts zu verstehen, was ich nicht schon von Anfang an verstanden hätte. Und teilen kann man so einen selbstgerechten Unfug wirklich nicht!

Guten Tag!

Le Penseur hat gesagt…

@str1977:

Es besteht kein Irrtum, sie verstehen nur meinen Kommentar nicht. Sie mein sich mit (anti)deutschen Antifas auszukenne, aber den Guardian kennen Sie halt nicht.

Sie mögen den Guardian nicht wirklich, stimmt's? Ich kann Sie beruhigen: ich auch nicht (ist mir einfach zu PC) — aber ich lese eben nicht nur Sachen, die mir zu Gesicht stehen. Der Guardian-Arikel beabsichtigt aber eben genau das Gegenteil von dem, was Sie ihm unterstellen: Sie vermeinen, er wolle nach dem Motto "Seht her, die Türken sind doch gar nicht so schlimm, die Engländer doch waren ebenso grausam!" für einen Türkei-Beitritt werben. In Wirklichkeit ist der Artikel eine ziemlich bitter-schwarzhumorige Abrechnung mit der selbstgerechten Attitüde der meisten Briten, so à la: "Wir haben doch den Wilden die Zivilisation gebracht!"

Stalin und Pol Pot wollten beides. Aber ja, ein reines Vernichtungslager halte ich für eine Spur böser.

Können wir dahingestellt lassen, da auch die Nazis die KZs als Arbeitslager betrieben haben. Dazu brauchen Sie nur in der überaus zahlreichen Literatur über die Arbeit in den KZs nachzulesen.

... wohingegen die Tötungsindustrie der Nazis eben Tod herstellte. In Fließfertigung.

... ja ebenso, wie z.B. die KZs von Pol Pot. Googeln Sie mal — Ihnen gehen die Augen über! Und auch Stalin ging es nicht darum, aus den Gefangenen möglichst nachhaltig nutzbare Arbeitssklaven zu machen, sondern sie vor ihrem Krepieren wie eine Zitrone auszupressen — und dann eben, wenn "unbrauchbar", einfach verhungern und erfrieren zu lassen (das spart die Erschießungsmunition).

Was Sie daran auch nur einen Deut besser finden können, als das Vorgehen der Nazis, erschließt sich mir — und wohl nicht nur mir! — selbst bei langem Nachdenken nicht.

Ja, Hungersnöte kommen vor. Ja, die Briten haben sich da nicht mit Ruhm bekleckert aber es ist schon ein Unterschied zwischen unterlassener Hilfeleistung und MORD! Oder nicht?

Ihre Fragestellung verschweigt leider das wesentliche Faktum: die Briten haben Hilfeleistung eben nicht bloß unterlassen, sondern durch Androhung von Gefängnisstrafen bewußt hintertrieben!

Ein Beispiel zur Illustration: jemand ist am Ertrinken und ruft um Hilfe. Ein Rettungsschwimmer möchte ihm helfen und wird von mir festgehalten mit der ausdrücklichen Begründung, daß er festgehalten werde, damit er dem Ertrinkenden nicht zu Hilfe eilen kann. Dieser ertrinkt daraufhin.

Wofür, glauben Sie, wird der Staatsanwalt mich anklagen: unterlassene Hilfeleistung? Freiheitsberaubung? Mord?

Jeder Jurist wird Ihnen sagen, daß hier — zumindest mit sogenanntem "dolus eventualis" — ein Mord begangen wurde, m.a.W.: ich habe durch mein Verhalten wenigstens billigend in Kauf genommen, daß ein Mensch durch eine vorsätzliche, rechtswidrige Handlung meinerseits ums Leben kommt.

Ja, nur greifen Sie da wieder ein Element raus und bauschen es auf. Wie viele Inder starben denn so?

Steht im Artikel. Davon würden nun sicherlich "auch so" ein erheblicher Prozentsatz gestorben sein. Aber wenn nur 10-20 % davon durch die Verhinderung von Hilfeleistungen gestorben sind, wäre das eine Menge, die sich neben der Zahl vergaster Juden "nicht zu verstecken" braucht.

Und wiederum widerstehe ich der Versuchung, sie mit Kraftausdrücken zu überschütten, wenn es mich auch noch so reizt.

Machen wir es kurz und schmerzlos:
ich habe besseres zu tun als mich von einem österreichischem Großmaul ...


Na geh, wie war das doch g'schwind mit "... wiederum widerstehe ich der Versuchung ...". ;-)

Bei ihrem Standpunkt gibt es nichts zu verstehen, was ich nicht schon von Anfang an verstanden hätte.

Das bezweifle ich keineswegs. Ich stelle mir nur die Frage, ob Sie es verstehen wollten, bzw. in der Lage waren, es sich einzugestehen, daß Sie aus ideologischen Voreingenommenheiten es gar nicht verstehen dürfen!

Und teilen kann man so einen selbstgerechten Unfug wirklich nicht!

Na, wenn Sie meinen ...

Resident hat gesagt…

Eigentlich wollte ich mich ja nicht mehr dazu äußern und habe daher ihren Blog aus meinem Blickfeld gelöscht, aber über Commentarium bin ich nun doch hier bei Ihrer Antwort gelandet. Also:

Letztes zuerst:

"Na geh, wie war das doch g'schwind mit "... wiederum widerstehe ich der Versuchung ...". ;-)"

Ja, da haben Sie natürlich recht. Kaum hatte ichs gesagt, was ich bisher geschafft habe, ist es dann doch mit mir durchgegangen. Dafür bitte ich um Verzeihung. Nur müssen Sie nunmal zugeben, einmal bin ich gefallen und habe es gemerkt ... wie oft sind Sie gefallen und haben es auch noch verteidigt. Aber das macht meinen Ausrutscher nicht besser.

"Sie mögen den Guardian nicht wirklich, stimmt's?"

Ach, nicht besonders. Aber zum Hassen reicht es auch nicht. Aber darum geht es ja auch nicht. Man muß eine Zeitung kennen, damit wann weiß wie man sie lesen muß. (Ein deutsches Beispiel für eine ähnliche Problematik wäre der Spiegel.)

Und PC hat da natürlich einiges damit zu tun. Da sind wir uns einig. Ich lese auch "nicht nur Sachen, die mir zu Gesicht stehen." (Was Ihre erste Unterstellung gegen mich wäre.)

"Der Guardian-Arikel beabsichtigt aber eben genau das Gegenteil von dem, was Sie ihm unterstellen:"

Woher wollen Sie das denn wissen? Es ist doch ganz offensichtlich. Natürlich wird hier auch britischer Selbsthaß zelebriert. Nein, die heutigen Briten haben sich da überhaupt nichts vorzuwerfen. Aber es geschieht auch aus einem anderen Grund, daher ja auch der Aufhänger, nämlich Kritik an der Türkei abzuräumen. Das Ergebnis ist ja (gewolltermaßen) immer doppelt: klar sagt der Artikel nicht die Briten wären schlimmer als die Türken sondern nur gleich schlimm, aber der Effekt ist dann am Ende, daß eben doch die Briten die ganz Bösen sind und die Türken irgendwie harmlos. Solche Artikel kennt man ja zur Genüge.

Ich kann nicht sehen, wo hier etwas "ziemlich bitter-schwarzhumorig" wäre.

Da wir bei den Briten sind, bleibe ich dabei und springe nicht hin und her, die Briten und Stalin vermengend:

"die Briten haben Hilfeleistung eben nicht bloß unterlassen, sondern durch Androhung von Gefängnisstrafen bewußt hintertrieben!"

Das ist wahr. Und mithin greif mein Vergleich natürlich nicht völlig. Nur wird eben auch kein Mord, Völkermord oder sonst was daraus. Da hilft auch ihr Etrinkensbeispiel nicht, denn dort ist die Situation ganz klar, die Rettung einfach etc. (auch wenn ich ihre juristischen Bewertung nicht teilen kann. Zumindest nicht im juristischen Sinne: es gibt ja noch so was wie Totschlag.) Im Indien-beispiel aber nicht, denn die Faktoren waren vielschichtig - waren sich die Briten darüber wirklich so bewußt?

Was mir vor allem bei Ihnen auf den Geist geht ist Ihre ständige Unterstellung, ich würde die britische Vorgehensweise entschuldigen, rechtfertigen. Das tue ich keineswegs - was die Briten hier taten war mies, gewissenlos und (im Sinne der Humanität) unmenschlich. Nur wird halt dennoch weder eine Shoa noch ein Gulag daraus, auch keine Killing Fields.

"Wie viele Inder starben denn so?"

"Aber wenn nur 10-20 % davon durch die Verhinderung von Hilfeleistungen gestorben sind"

... dann wäre das eine bis sechs Millionen (wobei Sie sich die Prozentzahlen natürlich aus dem Finger gesaugt haben).

Und siehe da, die maximale Zahl liegt gleichauf mit den ermordeten Juden. Nur ging es erstens nicht primär um die Zahl sondern darum, wie diese denn umkamen (siehe vorheriger Gedanke) und zweitens bestehen die Opfer der Nazis ja nicht nur aus Juden (klar, oft wird so getan als ob und evt. sitzen Sie hier einem Reflex auf) - die Anzahl der vom Naziregime ermordeten liegt nunmal höher. Von Stalin und Mao ganz zu schweigen.

"Können wir dahingestellt lassen, da auch die Nazis die KZs als Arbeitslager betrieben haben. Dazu brauchen Sie nur in der überaus zahlreichen Literatur über die Arbeit in den KZs nachzulesen."

Das muß ich nicht nachlesen, das weiß ich schon.

Nur, Sie begreifen meinen Punkt eben nicht.

Es ist böse, einen Menschen zu ermorden. Es ist auch böse, einen Menschen bis zum letzten auszubeuten. Nur, und darauf kommt es mir an, ist die Ausbeutung eine Spur rationaler, weil egoistischer und dadurch menschlicher (im Sinne von dem, was Menschen so tun), als der "altruistische" Massenmord. Jetzt werden Sie natürlich sagen, auch von der Shoa haben die Täter profitiert. Stimmt. Nur jene, die ihn betrieben taten das nicht um des Profit willens, sie taten es sogar als es ihnen schadete. In der zweiten Hälfte des Krieges wurden Energien, die in der Kriegführung nötig gewesen wären, für die Judenvernichtung gebraucht.

Und wieder vernachlässigen Sie, daß es hier um Unterschiede weit im Extrembereich des Bösen geht. Nur ist das eine ein Spur weniger überraschend.

Im übrigen, von Pol Potschen Gaskammern habe ich in der Tat noch nichts gehört. Vielleicht sollten Sie mal bei David Irving nachfragen.

"selbst bei langem Nachdenken nicht."

Wenn ich auch mal etwas unterstellen darf (so wie Sie mir ständig Unwissneheit unterstellen), ich glaube nicht, daß Sie lange drüber nachgedacht haben.

Noch eine Unterstellung: ich wäre nicht "in der Lage waren, es sich einzugestehen, daß Sie aus ideologischen Voreingenommenheiten es gar nicht verstehen dürfen!"

So, welche ideologische Voreingenommenheit denn. Ich habe doch ganz sachlich die Unterschiede dargelegt. Aber Sie wollen diese anscheinend nicht zur Kenntnis nehmen. Sollte ich jetzt daraus Schlüsse ziehen? Ich denke das erübrigt sich, wenn man bedenkt daß dieser ganze Streit ja nicht in einer Diskussion der Untaten Stalins, Maos, Pol Pots oder der Briten ergab. Würden wir das jeweils für sich diskutieren, würden wir sicher sehr weit übereinstimmen. Nur haben Sie es nunmal eingebracht, wie Sie es eingebracht haben, und daher bleibe ich bei meinem Vorwurf: "selbstgerecht"!

Le Penseur hat gesagt…

@str1977:

Danke für Ihren Kommentar (nein, im Ernst: ich danke Ihnen wirklich!) — jetzt ist mir einiges in Ihrer Argumentation klarer und bei dem einen oder anderen ist mir jetzt auch bewußt, daß ich Sie bisher nicht zutreffend interpretiert habe.

Andererseits (Sie haben damit schon gerechnet, nicht wahr?) : in einer Reihe von Dingen kann ich Ihnen (auch wenn ich Ihre Argumentation nun klarer sehe) einfach nicht zustimmen.

1. ad "Guardian":

Irgendwie glaube ich fast, haben wir zwei verschiedene Artikel gelesen! Meinen Sie wirklich diesen hier:

http://www.guardian.co.uk/books/
2005/dec/27/eu.turkey

(bitte den Zeilenumbruch zu entfernen, damit der link geht)

Ich kann es mir irgendwie nicht vorstellen ... also der Gedanke von "ach, die Türken waren doch eh nicht so schlimm" — der ist mir bei der Lektüre nun wirklich nicht gekommen! Eher der, daß der Autor es den Briten unter die Nase reibt, daß sie jetzt nicht auf pharisäerhaftes "Aber wir waren doch immer so brav" tun sollten!

2. Stalin, Pol-Pot, Briten in Indien und Kenia:

Sorry, Ihre subtilen Unterscheidungen darüber, warum die Nazis doch noch immer eindeutig die "Nase vorn" haben in der Skala des Schreckens, kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Stalin brachte (in etwas längerer Zeit, zugegeben — aber macht das die Sache denn wirklich besser?) deutlich mehr Menschen aus ideologischen Gründen ums Leben, als es die Nazis taten. Und vermutlich auf mindestens ebenso grausame (und manche schätzen sogar: auf noch grausamere) Weise.

Mao ist von Opferzahlen und Grausamkeit mit den Nazis wohl locker gleichauf, Pol Pot sind einfach die menschlichen Ressurcen ausgegangen: es gab schlichtweg nicht genug Menschen in Kambodscha, um noch mehr umzubringen (irgendwer muß schließlich auch die Tötungsmaschinerie bedienen).

Bei den Briten in Indien gebe ich Ihnen recht, ist natürlich ein Unterschied im täterseitigen Unrechtsbewußtsein anzunehmen — obwohl: es hat sicher auch Nazis gegeben, die voll überzeugt waren, daß es ganz richtig ist, Juden zu vergasen. Nur: macht das denn einen so gewaltigen Unterschied, ob ich jemanden umbringe, weil ich davon überzeugt bin, daß der Betreffende eh "nichts besseres verdient" oder "weil es halt nicht anders geht"? Entschuldigt mich das in nennenswerter Weise? Ich denke: nein!

Im übrigen, von Pol Potschen Gaskammern habe ich in der Tat noch nichts gehört. Vielleicht sollten Sie mal bei David Irving nachfragen.

Habe ich das jemals behauptet? Glaube ich nicht. Ich habe irgendwo sogar ausdrücklich geschrieben, daß es wohl keinen Unterschied macht, ob man die Leute vergast (wie die Nazis) oder erschießt bzw. die Schädel einschlägt (wie die Khmer Rouges).

Was die Zahlen betrifft:
http://users.erols.com/mwhite28/warstat2.htm

Was nun meinen Vorwurf betrifft, Sie wollten offenbar meinen Standpunkt nicht verstehen:

Nun, so leid es mir tut: diesen Vorwurf muß ich aufrechterhalten. Ich weiß nicht, warum Sie angesichts all dieser Zahlen und Fakten partout den Nazis ihren (Un-)Ehrenplatz im "Theater des Grauens" zuerkennen wollen. Ich stelle nach Durchsicht all dieser grauenvollen MAssenmorde nur fest: das ist offenbar die Gefahr, die stets lauert — und überall!

Mir geht es (obwohl es mir vermutlich unterstellt wird) keineswegs darum, die Nazis "reinzuwaschen" (das wäre für einen kritisch-libertären Konservativen wohl auch ein überaus seltsames Unterfangen!), sondern im Gegenteil darum, hier nicht ein "absolutes Böses" irgendwo im Mitteleuropa 1933-45 festzumachen und ab jetzt mantra-artig "Nie wieder!" zu murmeln, sondern der höchst unerfreulichen Tatsache ins Auge zu blicken, daß das — natürlich nicht genau dasselbe, aber etwas fatal gleichartiges! — sich zu allen Zeiten und in allen Regionen und Ideologien immer wieder ereignete, und daher die Alarmsignale früher erkennbar zu machen, bevor uns Menschen das ein weiteres Mal "passiert"!

P.S.: eigentlich ist mir nicht klar, warum wir einander immer so in die Haare geraten. Bei Betrachtung "sine ira et studio" sind unsere Standpunkte ja nicht so extrem weit auseinander. Ich kann es mir nur so erklären, daß gerade eng beieinanderliegende Töne als scharfe Dissonanz bzw. sogar als "Schwebungen" wahrgenommen werden. Dann halt — auf gutes Weiterstreiten!

Resident hat gesagt…

Ich nehme Ihre Danksagungen durchaus an.

Ja, es ist derselbige Artikel.

In diesem erwähnen vier Absätze (die ersten drei und der letzte) die Türkischen Greueltaten, wenn auch nicht ausschließlich. Die Britischen Greuletaten werden in sieben Absätzen erwähnt, in einem allgemein europäische Greueltaten.

Und der letzte Absatz macht es klar, was der Autor hier in Bezug auf die Türkei will. Übrigens, vielleicht nicht in Bezug auf die Greueltaten aber in Bezug auf die Möglichkeit über diese zu sprechen, sind die Briten tatsächlich sehr brav. Im UK dürfen solche Artikel frei erscheinen, in der Türkei nicht.

2. Ich habe meine Position zu Vergleichen zwischen den verschiedenen Übeltätern bereits klar gemacht. Und wohl gemerkt, mein Ärger richtete sich mehr darauf, daß sie die Briten in die gleiche Liga versetzten. Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot sind in der Tat nicht sehr weit voneinander entfernt. Die Details müssen wir nicht nochmal durchkauen.

(Was Pol Pot angeht: der heute noch einige Weile morden können, hätte er sich nicht mit seinen früheren Verbündeten aus Vietnam zerstritten und sich militärische Übergriffe auf deren Territorium geleistet. Vietnam hat eingegriffen und dann war es vorbei mit der großen Herrlichkeit.)

3. Es macht einen Unterschied, warum ich jemanden umbringe. Aber - und das übersehen Sie immer noch - es macht einen Unterschied ob ICH jemanden AKTIV UMBRINGE oder ob ich die Lage (durchaus schuldhaft) so gestalt, daß sie umkommen.

4. Ich habe Ihnen bereits erklärt, was die Nazis so viel erschreckender macht. Aber noch mal: es ist ihre kalte, mechnisch, industrieller Tötungsweise, die sich eben (zumindest theoretisch) viel darauf einbildet, ja so uneigennützig zu sein. Die eben nicht Arbeitssklaven bis zum letzten auspreßt, oder das vermeintlich nötige zum Sieg tut. Das alles ist schlimm aber eben auch auf grauenhafte Weise menschlich. Die Nazimorde sind aber eben anders gelagert (wenn auch das menschliche Grauen natürlich wieder hereinkommt, es waren ja Menschen am Werk).

5. ""das wäre für einen kritisch-libertären Konservativen wohl auch ein überaus seltsames Unterfangen!" - überhaupt nicht! Sie sind ja nicht nur das, sondern auch Östterreicher und haben durchaus ein Motiv, ein moralisches Gleichgewicht herzustellen. Insbesondere, da das Libertäre immer eine Neigung zum Amoralismus hat. Ich sage nicht, daß es be Ihnen so sein muß, aber ausschließen tut es sich bestimtm nicht.

6. Das "Nie wieder!" ist nötig. Aber man muß auch auf die neuen Untaten schauen. Wie kommt es, daß jemand sich gleichzeitig über Nazigreuel echauffiert und die Millionen geschlachteter Kinder verharmlost? Aber auch andere Untaten! Nur, Ihre Verweise beziehen sich auch nur auf die Vergangenheit und dienen nicht der Vorsorge.

7. Warum wir immer aneinander geraten. Von meiner Warte aus, liegt das an ihrer Art, die Dinge darzustellen, zu vereinfachen, grobe Töne anzustimmen, Nuancen einfach zu ignorieren und eben auch, weil ich finde, daß ihre Argumente oftmals auf nicht durchdachten Voraussetzungen beruhen. Was mich dann regelmäßig zur Weißglut treibt. Übrigens, Tacitus, der Erfinder des "sina ira", hat sich selbst nicht daran gehalten. (Aber ich bin für diese versöhnliche Frage dankbar.)

Le Penseur hat gesagt…

@str1977:

Nun, ich denke, Sie mißinterpretieren den letzten Absatz im Guardian-Artikel komplett! Ich kann darin noch immer keine Promotion für einen Türkei-Beitritt erkennen, sondern vielmehr eine ziemlich zynisch ausgefallene Analyse
1.) generell antifa-typischer Geschichtsfälschung, und
2.) offenbar briten-typischer Selbstgerechtigkeit.

Gleich der erste Satz des letzten Absatzes macht das deutlich:

There is one, rightly sacred Holocaust in European history. All the others can be denied, ignored, or belittled.

So wenig ich als "typischer" Guardian-Leser angesehen werden kann (Gott mög' abhüten!), aber dieser Satz bringt's auf den Punkt: nur Nazi-Opfer (und von denen natürlich ganz besonders die mit der "richtigen" Abstammung) sind "wirkliche" Opfer. Alle anderen haben halt irgendwie Pech gehabt. War ja durchaus unschön, was ihnen passiert ist, aber so richtige Opfer sind's halt keine ...

Das ist genau die Attitüde, bei der ich in Weißglut gerate!

Soweit die Abrechnung mit den typischen Antifa-Fälschungen. Nun kommt die Abrechnung mit der Selbstgerechtigkeit:

... the dominant system of thought in Britain "promotes one key concept that underpins everything else – the idea of Britain's basic benevolence ... Criticism of foreign policies is certainly possible, and normal, but within narrow limits which show 'exceptions' to, or 'mistakes' in, promoting the rule of basic benevolence". This idea, I fear, is the true "sense of British cultural identity" whose alleged loss Max laments today. No judge or censor is required to enforce it. The men who own the papers simply commission the stories they want to read.

Mit einem Wort: am britischen Wesen könnte die Welt genesen! Und irgendwie auch die Träne im Knopfloch, daß die edlen Briten für ihre uneigennützige Kolonisierungspolitik nur schnöden Undank geerntet haben, aber Undank ist der Welten Lohn ...

Damit kein Mißverständnis entsteht: ich glaube nicht, daß die britische Kolonialpolitik so viel gräßlicher war, als die anderer Kolonialmächte. Wer die Untaten Belgiens im Kongo, oder Frankreichs in Nord- und Westafrika betrachtet, wird wenig Unterschied erkennen. Und die Niederländer haben sich in Indonesien auch recht letztklassig aufgeführt — von den Spaniern und Portugiesen noch früher nicht zu reden ...

Aber hier sollte jede Kolonialmacht vor ihrer eigenen Türe kehren, und wir Österreicher können uns bloß glücklich schätzen, mangels Kolonien nie in die Versuchung geraten zu sein, uns ähnlich verbrecherisch aufzuführen! "Kein Verdienst, nur Gnade!", um es theologisch auszudrücken ;-)

Ihr Mißverständnis entzündet sich m.E. an den folgenden Sätzen:

Turkey's accession to the European Union, now jeopardised by the trial of Orhan Pamuk, requires not that it comes to terms with its atrocities; only that it permits its writers to rage impotently against them. If the government wants the genocide of the Armenians to be forgotten, it should drop its censorship laws and let people say what they want.

Das stellt bloß referierend fest, daß das Verhalten gegen Orhan Pamuk die türkischen Beitrittschancen mindern könnte (was ich übrigens für eine völlig naive Fehleinschätzung halte! Die EURabia-Fans dies- und jenseits des Atlantik scheren sich in Wahrheit einen Dreck darum!) und bringt dann — sehr zynisch, zugegeben — die "Lösung" für dieses Problem: macht es doch so, wie wir Briten: einfach die Autoren schreiben lassen und sich nicht darum kümmern. Zensur ist nicht nötig, nur kontraproduktiv, denn die Bevölkerung zensiert über die Nachfrage ohnehin, was sie lesen möchte. Und letztlich wird nur das gedruckt, was auch verkauft werden kann. Der Rest wird im "modernen Antiquariat" verramscht.

Das zu lesen ist für Menschen mit Gerechtigkeitssinn in der Tat eine Zumutung, aber leider die Realität der Welt.

Im letzte Satz des Artikels liegt sogar etwas Weltekel, wenn der Autor schreibt:

It needs only allow Richard Desmond and the Barclay brothers to buy up the country's newspapers, and the past will never trouble it again.

Wer etwas mit den Namen anzufangen weiß, der spürt den Zynismus, mit dem der Autor das so einfach und elegant hinschreibt (ich liebe die englische Sprache für diese zurückhaltende Eleganz!), fast schon unerträglich schmerzhaft ...

Hinsichtlich der übrigen Punkte Ihres letzten Postings: belassen wir's dabei, daß wir unsere Standpunkte klargelegt und argumentativ untermauert haben — ich werde Sie und Sie mich in dem, wo unser Dissens besteht, nicht überzeugen können. Und damit sollten wir m.E. diesen Thread ad acta legen. "Getretener Quark wird breit, nicht stark" sagte schon Geheimrat v. Goethe — und der wird angesichts einer 100-bändigen Gesamtausgabe gewußt haben, wovon er redet :-D

P.S.: was Punkt 7. betrifft, versuche ich Sie in Zukunft möglichst wenig zur Weißglut zu bringen. Als Gegenwunsch darf ich nur anbringen, daß Ihre m.E. geringe Frustrationstoleranz das Diskutieren mit Ihnen nicht ganz, ähm, einfach gestaltet. Aber das werden Sie mir gegenüber vermutlich ähnlich sehen, fürchte ich ...

scrutograph hat gesagt…

Nur eine Anmerkung dazu: Die Leugnung des Völkermords an den Armeniern ist, glaube ich, in Frankreich strafbar.

Insofern irrt der Guardian.

Wenn ich die Pointe von Le Penseur richtig verstanden habe, konnte man sagen:

"War Opa ein Faschist? Wenn er, gleich welcher Nationalität, zwischen 1870 und 1945 gelebt hat: na klar doch!"

Le Penseur hat gesagt…

@scrutograph:

Die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern wurde m.W. erst nach dem Erscheinen des Artikels im Dezember 2005 unter Strafe gestellt. Bei aller Wertschätzung — aber die Gabe der Prophetie kommt Guardian-Journalisten in der Regel nicht zu!

Da fällt mir ein Diktum von Karl Kraus über die Journalisten ein (ich zitiere aus dem Gedächtnis), so etwa:

"Nicht jeder Historiker ist ein rückwärtsgewandter Prophet — aber jeder Journalist einer, der nachher alles schon vorher gewußt hat!"

scrutograph hat gesagt…

@Penseur

"aber hier sollte jede Kolonialmacht vor ihrer eigenen Türe kehren, und wir Österreicher können uns bloß glücklich schätzen, mangels Kolonien nie in die Versuchung geraten zu sein, uns ähnlich verbrecherisch aufzuführen! "Kein Verdienst, nur Gnade!", um es theologisch auszudrücken ;-)"

Klar, Östereicher sind im vergangenen Jahrhundert NIE in Versuchung geraten, sich verbrecherisch aufzuführen. ;-) Und Beethoven war Österreicher. ;-)

Le Penseur hat gesagt…

@Scrutograph:

Klar, Östereicher sind im vergangenen Jahrhundert NIE in Versuchung geraten, sich verbrecherisch aufzuführen. ;-)

Das habe ich nicht behauptet. Aber die Verstrickung in Kolonialverbrechen und Völkermorde wird man wohl keiner österreichischen Regierung der letzten Jahrhunderte (und ein "Österreich" gibt's halt rechtlich erst seit 1804) vorwerfen können!

Und Beethoven war Österreicher. ;-)

Auch dies habe ich nicht behauptet. Ob Beethoven nach seiner Übersiedlung nach Wien österreichischer Untertan wurde, ist mir nicht bekannt (ist aber wohl anzunehmen, da seine Untertänigkeit unter den Kurfürsten von Köln wohl faktisch endete, daß er jemals Untertan des Königs von Preußen wurde, ist mir nicht erinnerlich). Ich weiß natürlich, worauf Sie anspielen: diese Ösis, die Hitler zum Deutschen und Beethoven zum Österreicher erklären, ts, ts ...

Nun, dazu läßt sich sehr wohl etwas sagen:

1.) Hitler war ein arbeitsloser autodidaktischer Landschaftsmaler, welcher
- vor dem 1. Weltkrieg Österreich verlassen hatte,
- seine österreichische Staatsbürgerschaft bei der Übersiedlung nach München ableugnete und sich als "staatenlos" bezeichnete
- im 1. Weltkrieg in der deutschen Armee als Freiwilliger gedient hatte (weil er die "verrottete" Donaumonarchie zutiefst ablehnte)
- im April 1925 an die österreichische Bundesregierung das "Ersuchen um Entlassung aus dem österreichischen Staatsverband" stellte (also seit damals tatsächlich als staatenlos anzusehen ist)
- in Deutschland der (NS)DAP beitrat
- in Braunschweig von einem Parteigenossen zum Regierungsrat und damit deutschen Staatsbürger gemacht wurde
- zur Wahl zum Deutschen Reichspräsidenten kandidierte
- Reichstagsabgeordneter war
- sich selbst schließlich auch immer als "Deutscher" gesehen hat (und von den Deutschen ihrerseits auch immer als solcher angesehen wurde),
- vom Reichspräsidenten zum Reichskanzler ernannt wurde ...
... so jemanden (auch wenn er in sein Geburtsland später mit der Deutschen Wehrmacht einmarschierte) kann man wohl nicht wirklich als Österreicher bezeichnen.

2.) Beethoven hingegen war der begabte Sohn eines kleinen kur-kölnischen Orchestermusikers, welcher
- bereits als junger, unbekannter Musiker nach Wien übersiedelte,
- dort seine Musikbildung (u.a. durch Joseph Haydn) erhielt,
- den Rest seines Lebens in Österreich lebte, wirkte, und dort auch hochgeehrt verstarb,
- zu dessen Schülern ein Mitglied des Kaiserhauses zählte
- dem ein für damalige Verhältnisse stattlicher Ehrensold von jährlich 4000 Gulden erteilt wurde, unter der einzigen Bedingung, Österreich nicht zu verlassen,
... wie bitteschön, würden Sie einen solchen Menschen denn sonst bezeichnen, wenn nicht als Österreicher.

Einer meiner Großväter wurde zwar in der Oberkrain geboren und war Zeit seines Lebens Lehrer in Österreich. Ist das jetzt auf einmal mein "slowenischer" Opa?

Der ehemalige österreichische Handelsminister Robert Graf (der Vorgänger von Wolfgang Schüssel in dieser Funktion) wurde in New York geboren — hatte Österreich daher einen Amerikaner als Handelsminister?

Ich verstehe Ihre Ironie durchaus — aber gerade an den vorgenannten Beispielen sollte wohl klar werden, daß im Falle Hitlers wohl trotz seiner Geburt in Braunau von einem "Deutschen", und im Falle Beethovens wohl eher von einem "Österreicher" zu sprechen ist.

Resident hat gesagt…

LP,

"Nun, ich denke, Sie mißinterpretieren den letzten Absatz im Guardian-Artikel komplett!"

Ich glaube das nicht, wobei es auch nicht nur um den letzten Absatz geht. Die Befürwortung des Türkeibeitritts bzw. zumindest die Ablehnung der Gegenargumente (auch in Deutschland läuft es ja oft auf ein Alles-waren-gleich-schlimmm-Argument heraus) ist doch greifbar. Antifa-typisch geht gar nicht, weil der Artikel eben in und für GB geschrieben ist. In sofern tut der Artikel eher genau das, was Antifas in Deutschland tun, nur wenn das in GB allgemein etws entspannter gehandhabt wird (worüber sich der Artikel aber auch wendet).

Was Sie als "Selbstgerechtigkeit" bezeichnen, würde ich als angenehm-entspanntes Verhältnis zur eigenen Geschichte gutheißen.

"nur Nazi-Opfer (und von denen natürlich ganz besonders die mit der "richtigen" Abstammung) sind "wirkliche" Opfer."

Sicher gibt es diese Einstellung (wenn auch weniger in GB, dort wird nicht so sehr immer von den 6 Millionen gesprochen, man hat ja auch selbst eigenen Opfer Hitlers). Aber in Deutschland ist das leider sehr heftig, alles nicht nur auf jüdische Opfer bezogen. Gut, diese haben nun Ihr eigenes Mahnmal und die "Zigeuner" (man verzeihe mir diesen Ausdruck, aber die Alternativen halte ich für Verrenkungen) nun auch, wenn auch viel kleiner. Nun wollen auch die Homosexuellen noch eins. Ein Mahnmal für katholische Priester wird es wohl nicht geben. Es wäre besser gewesen, ein Denkmal für alle Naziopfer zu errichten, wenn man es denn schon tun wollte.

"War ja durchaus unschön, was ihnen passiert ist, aber so richtige Opfer sind's halt keine ..."

Das ist sicher abzulehnen. Nur ist die Frage, ob man immer auf die Opfer der anderen verweisen sollte wenn es gerade um die eigenen ging. Manfreds Analyse krankte ja m.E. nicht daran, sondern an seiner unverständlich weiten Nazi-definition.

"Das ist genau die Attitüde, bei der ich in Weißglut gerate!"

Ja, das kann ich auch verstehen und teile das sogar. Nur sollte man dieses nicht selbst heraufbeschwören, wenn es eigentlich um "eigene Opfer" ging. Und man sollte nicht beim großen Rundumschlug den Blick für die einzelnen Fälle verlieren und bei jeder Beschreibung von unterschiedlichen Umständen, Motiven etc. schreien: "Einem Ermordeten ist egal, ob er aus Rassismus ermordet wird!" Schon war, nur ging es darum gar nicht.

Und ich bleibe dabei, an "the idea of Britain's basic benevolence" ist durchaus was dran. Nicht, das nicht auch einen "basic egoism" gab, der dann viel Böses getan oder zugelassen hat. Beim Dritten Reich (oder auch der USSR oder den Roten Khmer) kann man dagegen eher von einer "basic malvolence" sprechen.

"This idea, I fear, is the true "sense of British cultural identity" whose ..."

Na, das ist doch positiv zu sehen, wenn man ein positives Bild von sich hat, von dem aus man dann seine Untaten verurteilen kann. Im Gegensatz zu Deutschland, wo es an einer positiven Identität derzeit (und das heißt: seit 1968, nicht seit 1945, also bitte keine "Umerziehungsfabeln") fehlt. Was sich in viele Fragen auswirkt.

"The men who own the papers simply commission the stories they want to read."

Das ist immer und überall so, die Kritik also wohlfeil und unsinnig, es sei denn man hängt Illusionen über die Medien und Pressefreiheit an. Absurd und ekelhaft ist es, dies mit den Unterdrückungsmaßnahmen der anatolischen Halbdiktatur gleichzusetzen.

"Mit einem Wort: am britischen Wesen könnte die Welt genesen!"

Auch, aber natürlich nicht nur. Es ist aber überhaupt nicht so, wie der Artikel suggeriert, daß man in GB nicht auch über die Schattenseiten des eigenen Empire Bescheid wüßte, vielleicht nicht über das beschriebene. Die Fähigkeit der Briten unsinnige Grenzen zu ziehen und dadurch Regionen auf Dauer in Konflikte zu stürzen ist nicht unbekannt.

Und ich finde, da kann man gerechtfertigte Vergleiche ziehen: französische und deutsche (und nicht zu vergessen holländische) Kolonialisten dachten genau so. Wenn auch die Briten mit der Abwicklung des ganzen wohl am besten verfahren sind.

Damit kein Mißverständnis entsteht: ich glaube nicht, daß die britische Kolonialpolitik so viel gräßlicher war, als die anderer Kolonialmächte.

"die Untaten Belgiens im Kongo"

Ich stimme dem einleitenden Satz zu, aber hier muß ich Einspruch erheben. Die angeblichen Untaten Belgiens sind in Wahrheit die Untaten König Leopolds II. Der Kongo wurde erst 1908 belgisch.

"Aber hier sollte jede Kolonialmacht vor ihrer eigenen Türe kehren"

Genau. Wir Deutschen sollten uns mit den Herreros befassen und nicht mit MauMau. Oder halt auch mit den Naziverbrechen - und zwar ohne gleich auf die Verbrechen der anderen verweisen zu müssen.

""Kein Verdienst, nur Gnade!", um es theologisch auszudrücken ;-)"



"Ihr Mißverständnis entzündet sich m.E. an den folgenden Sätzen" - ich glaube nicht, das es ein Mißverständnis ist. Es ist nicht der einzige Inhalt des Artikels, aber eben doch einer. Ihre Einschätzung der Passage als "naiv" stimme ich übrigens zu. Wenn es nach rechten Dingen (etwa nach den Bedingungen für Kroatien oder Serbien) ginge, wären wir noch lange von einem etwaigen Kandidatenstatus entfernt. Hat nur nichts mti EURabia zu tun, denn die Türkei ist nunmal sowas von überhaupt nicht arabisch. Letzlich handelt es sich hier um ein Gemisch von Klientelpolitik (türkische Minderheit in Deutschland), bloßer Realpolitik (Türkei unser Verbündeter) und dem Haß auf die europäisch-abendländische Tradition und Kultur (die sich dann vor allem im Spott über 1693 ausdrückt).

"denn die Bevölkerung zensiert über die Nachfrage ohnehin, was sie lesen möchte."

Ähem, das ist keine Zensur, sondern das gute Recht jeden Lesers.

"belassen wir's dabei, daß wir unsere Standpunkte klargelegt und argumentativ untermauert haben — ich werde Sie und Sie mich in dem, wo unser Dissens besteht, nicht überzeugen können."

In Ordnung.

"... versuche ich Sie in Zukunft möglichst wenig zur Weißglut zu bringen. Als Gegenwunsch darf ich nur anbringen, daß Ihre m.E. geringe Frustrationstoleranz das Diskutieren mit Ihnen nicht ganz, ähm, einfach gestaltet."

Ich werde es versuchen.

"Aber das werden Sie mir gegenüber vermutlich ähnlich sehen, fürchte ich ..."

Ja, das ist so. Um es mit Willy Brandt zu sagen: "Wir können alle noch was dazulernen."

Resident hat gesagt…

Nun muß ich daber doch noch etwas sagen:

"ein "Österreich" gibt's halt rechtlich erst seit 1804) vorwerfen können!"

Oh nein, Österreich gibt es schon sehr viel länger. Ob 1804 wirklich etwas entstanden ist außer ein weiterer Titel ist äußerst fraglich. (Im Titel Kaiser von Österreich bezieht sich das Österreich übrigens nicht auf ein Land oder Reich sondern auf das "Haus Österreich".)

"Und Beethoven war Österreicher."

Mag sein, daß Sie das nicht behauptet haben, aber es ist nunmal so: alle drei: Mozart, Beethoven, Hitler waren Deutsche. Was sie darüberhinaus noch waren sei dahingestellt, aber Deutsche waren sie allesamt.

"Ob Beethoven nach seiner Übersiedlung nach Wien österreichischer Untertan wurde"

Spielt das eine Rolle, ob er formal Untertan wurde? Auch als solcher wäre er Deutscher geblieben.

Hitler hat seine österreichische Staatsbürgerschaft 1925 aufgegeben. Aber ich würde ihn ohnehin immer als Deutschen betrachten, ob er nun österreichischer Bürger war oder nicht. Was soll denn diese Exklusivität immer? Hitler war beides!

Der Braunschweiger Versuch war übrigens nur einer in einer langen Reihe. In der deutschen Wikipedia gibt es darüber einen durchaus lesenswerten Artikel.

"... wie bitteschön, würden Sie einen solchen Menschen denn sonst bezeichnen, wenn nicht als Österreicher."

Als Deutscher?

"Einer meiner Großväter wurde zwar in der Oberkrain geboren ..."

Wann war das? Gehörte das damals noch zu Österreich? Und wenn nicht, was wäre so schlimm an einem slowenischen Opa?

Und auf den Geburtsort allein kommt es doch nicht an, oder?

"an den vorgenannten Beispielen sollte wohl klar werden ..."

Das hätten Sie wohl gerne?

Le Penseur hat gesagt…

@str1977:

Nur kurze Geschichtshilfe: Oberkrain ist der Name jener Region des alten k.k. Kronlandes und Herzogtums Krain, Hauptstadt Laibach (heute, unaussprechlich, Ljubljana genannt), die an Kärnten grenzte und deren Einwohner teilweise deutschsprachig waren (sie als "Deutsche" zu beeichnen wäre ähnlich anachronistisch, wie sie als "Slowenen" zu bezeichnen, weil diese Teile heute in Slowenien liegen. Das ist etwa so, wie wenn man Augustinus als "tunesischen Theologen" bezeichnet ...

scrutograph hat gesagt…

@Le Penseur

Österreicher waren in großem Umfang am Holocaust beteiligt, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt die Staatsangehörigkeit des deutschen Reiches gehabt haben mögen. Es kann also keine Rede davon sein, Österreicher seien im vergangenen Jahrhundert nicht an Verbrechen oder Kolonalialverbrechen beteiligt gewesen (Unternehmen Barbarossa war ja ein neokolonialistischer Krieg).
Insofern ist es auch nicht mehr witzig, was sie hier zum Besten geben.

Ebenso waren auch nicht alle Europäer vor 1945 Faschisten. Diese Relativierung beleidigt alle friedfertigen und sanftmütigen Menschen, die sich da raus gehalten haben oder gegen den Faschismus opponiert haben.

Le Penseur hat gesagt…

@scrutograph:

Sie gestatten, daß ich mich aus einem Posting weiter oben zitiere?

Das habe ich nicht behauptet. Aber die Verstrickung in Kolonialverbrechen und Völkermorde wird man wohl keiner österreichischen Regierung der letzten Jahrhunderte (und ein "Österreich" gibt's halt rechtlich erst seit 1804) vorwerfen können!

Daß einzelne oder auch viele Menschen eines Staates Verbrechen begehen, ist ebenso bekannt wie trivial! Daß aber Verbrechen der hier besprochenen Art von einer österreichischen Regierung angeordnet bzw. zustimmend geduldet worden wären, ist mir neu.

Wie ich schon sagte: ich glaube hier auch weniger daran, daß Österreicher per se "die besseren Menschen" waren — es war eben auch und v.a. Mangel an Gelegenheit. Aber wie der Moraltheologe weiß, ist allein das Aufsuchen der Gelegenheit zur Sünde selbst bereits eine Sünde (da der Mensch erfahrungsgemäß zur Sünde versuchbar ist). Deshalb können Kolonialmächte sich auch nicht wirklich darauf ausreden, sie hätten all das ja "eigentlich" gar nicht gewollt. "Hätten sie's wirklich nicht gewollt, dann hätten's sich halt keine Kolonien anschaffen sollen", würde ich als Österreicher in schönstem Schönbrunnerdeutsch näseln ...