Hans Maier, ehemaliger Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, schrieb einen aufrüttelnden Artikel in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 7. Mai 2008:
Verfolgte Christen
Ein Plädoyer für die Anerkennung von Religionsflüchtlingen und für eine erweiterte Religionsfreiheit
Verfolgungen und Vertreibungen von Christen, Drohungen und Kampagnen gegen sie, Benachteiligungen, schleichende Entrechtung – das alles ist in der gegenwärtigen Welt mehr als ein Gerücht. Es gibt die gewalttätigen Ausschreitungen wirklich, und sie haben in den letzten Jahren überall dramatisch zugenommen. Die Liste ist bedrückend lang.
In Indien wurden viele Christen in den vergangenen Jahren Opfer militanter Hindus; die dortige Bischofskonferenz spricht schon lange von einem Zustand «offener Verfolgung». In Sri Lanka, auf den Molukken, in Thailand häufen sich in jüngster Zeit Überfälle auf christliche Kirchen, auf Kleriker und Gläubige. Nordkorea hält seit Jahren viele Christen in Arbeits- und Umerziehungslagern fest. Auch in China werden sie häufig eingesperrt und drangsaliert, vor allem wenn sie nicht den staatlich registrierten und kontrollierten Kirchen angehören. Unübersichtlich und schwierig ist die Lage in Ländern des islamischen Kulturkreises, etwa in Pakistan und in Iran sowie an der Bruchlinie zwischen dem christlichen (bzw. animistischen) und dem islamischen Afrika – und natürlich in der arabischen Welt. Eine Massenflucht von Christen hat in jüngster Zeit aus dem Irak, einer Ursprungsregion des Christentums, eingesetzt: Seit Beginn des Krieges hat mehr als die Hälfte der anderthalb Millionen Christen das Land verlassen, das ihnen keine Sicherheit mehr bietet. «Wer bleibt, der stirbt», heisst die resignierte, leider realistische Parole.
Lange Zeit verdrängt
Wer sind die Verfolger? Es sind weniger die Staaten selbst – obwohl in verschiedenen islamischen Ländern (aber auch in einigen Teilstaaten Indiens) das Missionieren oder Konvertieren zum Christentum unter Strafe gestellt ist und Christen, wenn sie ihren Glauben bezeugen, immer wieder im Gefängnis oder in der Psychiatrie landen. Der Hauptstoss kommt «von unten», von Hasspredigern und aufgewühlten Massen, von fanatischen Einzelnen und Gruppen, von religiösen Warlords, die nicht selten regelrechte militärische Kommandos anführen. Das macht die Aufklärung schwierig und die Gegenwehr oft fast unmöglich. In Ländern, in denen Christen verfolgt werden, zieht sich der Staat meist rasch aus der Affäre, die Politiker waschen ihre Hände in Unschuld – sie sind ja nicht die eigentlichen Verfolger. In den potenziellen Aufnahmeländern umgekehrt weisen die für die Migration zuständigen Behörden die Flüchtlinge oft mit einem Achselzucken ab: Politische Verfolgung liege nicht vor, religiöse Verfolgung aber sei kein rechtsrelevanter Tatbestand – und so kommt es, dass den Unglücklichen am Ende nicht einmal Asylscheine ausgehändigt werden.
Jahrelang fand das Geschehen nur selten den Weg in die Schlagzeilen. Allenfalls spektakuläre Einzelfälle wurden zur Kenntnis genommen wie die Ermordung des katholischen Priesters Andrea Santoro in Trabzon am Schwarzen Meer, der Anschlag auf drei Mitarbeiter eines evangelikalen Buchverlags im türkischen Malatya im April 2007 – und jüngst der Tod des von Rebellen verschleppten chaldäisch-katholischen Bischofs Paulos Faraj Rahho im irakischen Mossul. Inzwischen rechnen Menschenrechtsorganisationen damit, dass von den weltweit über zwei Milliarden Christen zweihundert Millionen – also jeder zehnte – unter Diskriminierungen, schwerwiegenden Benachteiligungen und Anfeindungen zu leiden haben.
Die Skala reicht von der Behinderung des Kultus bis zum rigorosen Verbot der Mission, von der Verletzung religiöser Grundfreiheiten wie der freien Wahl der Kommunikationsmittel für die Verkündigung bis zu gezielter Verfolgung und Vertreibung. Ein zentraler Punkt in dieser Auseinandersetzung ist das Verbot des Austritts aus der eigenen Religion, das vor allem für den Islam von grundlegender Bedeutung ist und in mehreren islamischen Ländern, so etwa in Afghanistan, ausdrücklich ins staatliche Recht übernommen wurde – mit Sanktionen, die bis zur Todesstrafe reichen. Wird dieses Gebot strikt praktiziert, gefährdet jeder Muslim, der Christ wird, sein eigenes Leben – und der Christ, der ihn bekehren will, riskiert das seine mit.
Angesichts der Dimensionen, die das Problem inzwischen angenommen hat, fällt die Behutsamkeit auf, mit der sich religiöse Autoritäten darüber äussern. So hat Papst Benedikt XVI. im August 2006 zwar seine Besorgnis über die Verfolgung von Christen in vielen Teilen der Welt geäussert. In etlichen Weltreligionen begegne der christliche Glaube auch heute «grossen Schwierigkeiten, Unverständnis und Feindseligkeit». Die Christen müssten oft «in zu viel Schatten» leben. Leiden habe aber nach christlichem Verständnis nie das letzte Wort, es sei vielmehr ein Durchgangsstadium zum ewigen Glück in Christus. Der Erzbischof von Canterbury, das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, rief im Jahr 2007 die Christen im Orient dazu auf, trotz allem auszuharren und der «Versuchung zur Emigration» zu widerstehen.
Zweierlei tut not
Schärfer äusserte sich der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber: Er prangerte unlängst in seiner Karfreitagspredigt in der Berliner Marienkirche die Christenverfolgung im Irak an und verglich sie mit ethnischen Säuberungen und Völkermorden an anderen Orten, die von der Weltöffentlichkeit tatenlos wahrgenommen würden. Die Deutsche Bischofskonferenz wiederum legte den Akzent auf Hilfen für die Flüchtlinge und Vertriebenen, sie mahnte im April eine grosszügige Lösung bei der Aufnahme christlicher Flüchtlinge aus dem Irak in Deutschland an – diese seien nicht nur Opfer von Krieg und Bürgerkrieg, sondern würden auch wegen ihres Glaubens verfolgt.
Die Zurückhaltung der (meisten) kirchlichen Sprecher ist nicht unerklärlich. In einer globalisierten Welt, in der die Religionen nicht mehr in abgegrenzten Gebieten leben, sondern in den grossen Metropolen nebeneinander, ja ineinander siedeln, suchen die Autoritäten nachdrücklich nach gemeinsamen Regeln des Zusammenlebens. Verwahrungen gegen Übergriffe von Fanatikern sind dabei hilfreich und notwendig – nicht aber der Aufruf zur Gegengewalt, zu einem pauschalen «Wie du mir, so ich dir». Das Christentum ist für diese Aufgabe einer differenzierenden Reaktion auf die gegenwärtigen Herausforderungen wohl besser gerüstet als andere Weltreligionen – hat es sich doch, seit Jahrhunderten in Konfessionen gespalten, längst daran gewöhnen müssen, dass es Situationen gibt, in denen man «die anderen» weder bekehren noch verdrängen, noch vernichten kann – so dass man Frieden, Religionsfrieden, mit ihnen schliessen muss. Ob dieser Weg auch im Weltmaßstab eines Tages Anerkennung finden wird? Noch sind wir davon ziemlich weit entfernt.
Für die Zwischenzeit wäre zweierlei nötig: einmal die Anerkennung von Religionsflüchtlingen als Flüchtlinge im Sinn der internationalen Konventionen – die Beschränkung auf «politisch Verfolgte» ist in der heutigen Situation längst weltfremd und illusionär. Sodann wäre ein – weltweit geltendes – «Recht auf Konversion» anzustreben: das Recht, seine Religion zu wechseln ohne Gefahr für Leib und Leben. Dazu bedarf es der Fortentwicklung der überlieferten Religionsfreiheit. In ihrem traditionellen Verständnis schliesst sie zwei Komponenten ein: das Recht, Religion zu praktizieren (Erbe des Christentums), und das Recht, von Religion frei zu sein (Erbe der Aufklärung). Hinzukommen müsste die ausdrückliche Anerkennung einer weltweit geltenden Konversionsfreiheit für alle Menschen. Dann könnte kein Land, das in seinem Religionsrecht den Grundsatz «Tod den Abtrünnigen!» duldet, in Zukunft behaupten, es habe die Menschenrechte akzeptiert – selbst dann nicht, wenn es die Internationalen Pakte von 1966 formell ratifiziert hat.
Hans Maier amtete von 1976 bis 1988 als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Bis 1999 hatte er an der Universität München den Lehrstuhl für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie inne. Jüngste Buchpublikation: «Die Kirchen und die Künste» (Schnell & Steiner 2008).
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