Donnerstag, 6. Juli 2017

Der Wanderer zwischen beiden Welten


Eine stürmische Vorfrühlingsnacht ging durch die kriegswunden Laubwälder Welsch-Lothringens, wo monatelanger Eisenhagel jeden Stamm gezeichnet und zerschroten hatte. Ich lag als Kriegsfreiwilliger wie hundert Nächte zuvor auf der granatenzerpflügten Waldblöße als Horchposten und sah mit windheißen Augen in das flackernde Helldunkel der Sturmnacht, durch die ruhlose Scheinwerfer über deutsche und französische Schützengräben wanderten. Der Braus des Nachtsturms schwoll anbrandend über mich hin. Fremde Stimmen füllten die zuckende Luft. Über Helmspitze und Gewehrlauf hin sang und pfiff es schneidend, schrill und klagend, und hoch über den feindlichen Heerhaufen, die sich lauernd im Dunkel gegenüberlagen, zogen mit messerscharfem Schrei wandernde Graugänse nach Norden.
Die verflackernde Lichtfülle schweifender Leuchtkugeln hellte wieder und wieder in jähem Überfall die klumpigen Umrisse kauernder Gestalten auf, die in Mantel und Zeltbahn gehüllt gleich mir, eine Kette von Spähern, sich vor unseren Drahtverhauen in Erdmulden und Kalkgruben schmiegten. Die Postenkette unsres schlesischen Regiments zog sich vom Bois des Chevaliers hinüber zum Bois de Vérines, und das wandernde Heer der wilden Gänse strich gespensterhaft über uns alle dahin. Ohne im Dunkel die ineinanderlaufenden Zeilen zu sehen, schrieb ich auf einen Fetzen Papier ein paar Verse:
Wildgänse rauschen durch die Nacht
Mit schrillem Schrei nach Norden –
Unstäte Fahrt! Habt acht, habt acht!
Die Welt ist voller Morden.
Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt,
Graureisige Geschwader!
Fahlhelle zuckt, und Schlachtruf gellt,
Weit wallt und wogt der Hader.
Rausch' zu, fahr' zu, du graues Heer!
Rauscht zu, fahrt zu nach Norden!
Fahrt ihr nach Süden übers Meer –
Was ist aus uns geworden!
Wir sind wie ihr ein graues Heer
Und fahr'n in Kaisers Namen,
Und fahr'n wir ohne Wiederkehr,
Rauscht uns im Herbst ein Amen!
Während ich das im Bois des Chevaliers schrieb, lag drüben im Vérines-Walde ein zwanzigjähriger Student der Theologie, Kriegsfreiwilliger gleich mir, auf Horchposten. Wir wußten damals noch nichts voneinander. Aber als er, Monate später, die Verse in meinen Kriegstagebuchblättern fand, entsann er sich deutlich jener Nacht und des wandernden Gänseheers, das über uns beide dahinzog. Beide sahen wir ihm mit den gleichen Gedanken nach. Und an uns beide trat in derselben Stunde aus dem Dunkel der hinter uns liegenden Gräben eine Gefechtsordonnanz mit dem Befehl, uns um Mitternacht marschfertig vor dem Regimentsgeschäftszimmer zu melden. Mit müden und doch seltsam wachen Sinnen sahen wir im Abstieg noch einmal die schwermütige Schönheit der kahlen, grauen Hänge und Mulden, deren Kalk im Mondlicht tot, fremd und schwer wird, und die lichtlose, graue Einsamkeit der zerschossenen und verlassenen Steinhütten....(Quelle)
So beginnt »Der Wanderer zwischen beiden Welten« von Walter Flex. Und das ist, wer traut sich denn dem angesehenen Kindler-Literatur-Lexikon schon zu widersprechen, neben „Ernst Jüngers und Erich Maria Remarques Darstellungen [...] noch heute die bekannteste aus dem Ersten Weltkrieg – an jenen gemessen das Dokument eines fragwürdig-kindlichen Idealismus.“

Der Schuß sitzt, und davon erholt sich ein Autor, insbesondere wenn er schon tot ist, nicht wieder! Da kann er noch so fraglos gefallen sein — fragwürdig-kindlicher Idealismus ist quasi der zweite Tod für ihn. Ein naiver Trottel also (freilich höflicher umschrieben), unwürdig der höheren Weihen der Literatur. Daß dieses Werk des heute vor 130 Jahren, am 6. Juli 1887 zu Eisenach in Thüringen geborenen Autors immerhin in sieben Sprachen übersetzt wurde (also offenbar auch den Kriegsteilnehmern jener Länder und Sprachen etwas zu sagen wußte), ist egal: da es dem Werk eines jung gefallenen Soldaten leider an der Durchfeilung eines hundertjährigen Schriftstellerlebens à la Jünger, und — noch weit unverzeihlicher! — am rechten (d.h.: linken) Blickwinkel auf den Weltkrieg à la Remarque entschieden mangelt, wird aus ihm eilig ein Nazi gebastelt, auch wenn er schon 1916 mausetot war, als der TV-medial bis heute unverzichtbare Nachtprogrammfüller A.H. (darf man diese Buchstaben eigentlich noch erwähnen, ohne den Staatsanwalt auf den Plan zu rufen?) Gefreiter und Meldegänger an der Westfront war ...

Damit aber auch den wenigen, unbelehrbaren Fans der Autor nach Möglichkeit madig gemacht werde, verbinden sich laut Wikipedia »völkischer Nationalismus mit passagenweiser Darstellung inniger Homoerotik«. Flex war also nicht nur ein naiver Trottel, sondern schwul auch noch dazu. Was ja bekanntlich nur Linke adelt ...

Ein massiver Pendelschag in die andere Richtung; nach Jahrzehnten der Verehrung bis 1945, und Jahrzehnten der Ignorierung danach. Nein: Walter Flex war weder der große Dichter-Soldat, zu dem ihn die Nazis stilisieren wollten — er war wohl schlicht ein tapferer Mann und nicht untalentierter Schriftsteller, der — hätte er den Weltkrieg 1914-18 überlebt — sicher um seine verdiente literarische Bedeutung danach nicht hätte bangen müssen.

So ist er einer jener zu früh gestorbenen, die bereits im Ansatz Größeres verheißen, als sie in ihrer zu kurzen Schaffenszeit leisten konnten. Am 16. Oktober 1917, vor knapp hundert Jahren, endete sein Leben im Baltikum, auf der heute estnischen Insel Ösel, wo er seinen schweren Verwundungen in einem an sich belanglosen Gefecht erlag. Über seine Grabstätte weiß Wikipedia zu berichten:
Begraben wurde Flex 1917 auf dem Dorffriedhof von Pöide, wo das Holzkreuz bald verfiel. An seine Stelle kam eine Gedenktafel, die nach Kriegsende entfernt wurde; als namenloses Grab blieb die Stätte aber erhalten. Die Nationalsozialisten ließen die sterblichen Überreste von Flex 1940 auf den Friedhof der Garnison Königsberg i. Pr. umbetten. Ostpreußens Hauptstadt war leichter zu erreichen und eignete sich daher auch besser zur propagandistischen Flex-Verehrung. Der dortige Grabstein wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
An der ursprünglichen Grabstätte in Pöide schichteten unbekannte Besucher in der Zeit der Perestroika zwei kleine Steinhügel auf. Eine deutsche Jugendgruppe brachte 1995 ein schlichtes Birkenkreuz an.
Die 1987 gegründete Öselsche Gesellschaft für Denkmalpflege initiierte einen Gedenkstein. Der Historiker Raul Salumäe (heute Direktor des Museums in Kuressaare), eine studentische Landsmannschaft und eine Untergliederung der Sudetendeutschen Landsmannschaft ermöglichten die Verwirklichung der Idee. Durch Vermittlung eines Stuttgarter Pfarrerehepaars recherchierte Salumäe im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA). Das Ergebnis erschien im Jahrbuch des DLA. Von Salumäe entworfen und vom einheimischen Steinmetz Markus Vaher ausgeführt, wurde der Gedenkstein am 6. Juli 1997, dem 110. Geburtstag von Flex, mit einem kleinen Festakt vor 60 überwiegend estnischen Gästen eingeweiht. Er befindet sich an derselben Stelle wie der erste Grabstein.
In Flex’ Heimatstadt Eisenach gibt es außerdem ein symbolisches Grab. Von der Errichtung dieser Gedenkstätte machte der ehemalige Freundeskreis Walter Flex die Schenkung des Nachlasses des Dichters an die Stadt Eisenach abhängig. Der Bestand wird im Stadtarchiv aufbewahrt.
Ob ihm der Zug der Wildgänse im Herbst 1916 noch ein »Amen« rauschen konnten, oder ob es dafür an einem 16. Oktober in diesen nördlichen Breiten schon zu spät war? Sic transit ...

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