Sonntag, 20. November 2016

Wort zum Sonntag: Pelagius

Beim Stöbern im Blog-Archiv fand ich einen fast zehn Jahre alten Artikel auf dem von mir früher neben diesem LePenseur-Blog betriebenen Blog "Oriens ex Alto", den ich als durchaus geeignet ansehe, am letzten Sonntag des Kirchenjahres zur Lektüre und Diskussion "wiederbelebt" zu werden. Hier also


PELAGIUS




In einem Blog "Lumen de Lumine" findet sich ein Artikel vom 4. Juni 2007 mit dem Titel "Pelagius in Rostock". Hier wird der arme Pelagius — als ob er nicht schon genug unter den gehässigen Angriffen von Augustinus zu leiden gehabt hätte — flugs zur "Wurzel jeder Ideologie" gemacht. Die Autorin führt als Begründung an:
Da der Marxismus — und damit jede linke Ideologie — grundlegend pelagianisch ist (schließlich will er ja die Welt erlösen), kann man es den guten Organisatoren auch nicht verübeln, dass sie die menschliche Natur so missverstanden haben...
Denn der Pelagianer glaubt immer an das sog. "Gute im Menschen" und denkt, wenn man zu Leuten nur lieb ist und "keinen Grund" für Aggression gibt, dann werden diese Leute auch ihrerseits liebe, friedliche Lämmchen sein... Denn es kann ja nicht sein, dass Menschen einfach nur so aus Spaß - oder gar aus Hang zum Bösen! - böse Dinge tun, etwa Schlägereien anfangen, nicht?
Was, bitteschön, hat Pelagianismus mit einem naiven Glauben an das "Gute im Menschen" zu tun? Nichts. Er verwehrt sich nur gegen die im Grunde manichäische Umdeutung des christlichen Menschenbildes durch Augustinus, der aus der Menschheit eine einzige satansverfallene massa damnata macht, die mit einigen wenigen, noch dazu völlig unverdienten, Ausnahmen der ewigen Verdammnis unter unaussprechlichen Folterqualen anheimfällt. Pelagius ist dem gegenüber der weise abwägende Philosoph, der den Menschen weder per se zum "friedlichen Lämmchen" erklärt (wie die Autorin unterstellt), noch auch einer niederdrückenden Verzweiflung über eine auf ihm lastende, höchst wahrscheinliche Verdammung preisgibt, sondern das sagt, was alle Philosophen und die meisten Religionsstifter aller zeiten sagten: der Mensch kann gut sein, wenn er sich aufrichtig und mit Anstrengung seiner sittlichen und geistigen Kräfte bemüht.

Und diese Botschaft (so wenig originell sie im Grunde ist) ist m.E. viel wichtiger und heilsamer, als alles Gerede über eine natura corrupta, eine "erbsündliche conditio humana", eine "ungeschuldete Gnade" und wie all die Versatzstücke christlicher Theologie so lauten, die die einfache und vernunft- gemäß für alle Menschen aller Zeiten nachvollziehbare, unprätentiöse Botschaft Christi des "doppelten Liebesgebotes" in einen Gallimathias tiefsinniger distinctiones und mysteria fidei verwandelt, der wohl Theologen erfreut, aber für das ethische Leben der Menschen Null Relevanz besitzt.

Wenn man Pelagius schon einen Vorwurf machen will, dann sicherlich nicht den der naiven Überschätzung menschlicher Fähigkeiten, sondern eher den des moralischen Rigorismus — denn nach allem, was wir über ihn wissen war er nicht nur ein höchst sittenstrenger Mann sondern legte auch in der Darlegung seiner Lehren auf die Ausübung sittlicher Tugenden größten Nachdruck. P. Dr. Karl WALLNER O.Cist. schreibt in Gnade und Natur über ihn folgendes:
Das Anliegen des Pelagius war eigentlich edel: denn er forderte kompromisslos die sittlich-religiöser Vollkommenheit im Zeitalter der ersten Dekadenz des Christentums. Aber er irrte, wo es um das Verhältnis von Natur und Gnade ging. 1.) es gibt keine Erbsünde: Nach Pelagius hat die Adamssünde den Menschen nicht durch und durch verdorben, sondern Adam hat nur äußerlich ein schlechtes Beispiel gegeben und jetzt tun es ihm eben alle Menschen nach. Die Natur des Menschen ist im Prinzip heil geblieben. Eine praktische Folge davon ist auch, dass Pelagius keinen Sinn in der Kindertaufe sieht.
2.) Die Gnade Christi, seine Erlösung, wirkt sich folglich auch nur äußerlich aus. So wie uns Adam ein schlechtes Beispiel gegeben hat, so gibt uns Christus ein gutes Beispiel. Wir müssen ihn also nur nachahmen. – Hier hat Pelagius viel von den griechischen Vätern gelernt, die – wie oben gesagt – Christus ja auch vor allem als göttlichen „Pädagogen“ gesehen haben. Aber: diese hatten vom Johannes-Evangelium her gedacht: wir können Christus nachahmen, weil er sein göttliches Leben in uns lebt, wir schon eingetreten sind in die Dreifaltigkeit.
3.) Folglich ist für Pelagius nicht die Gnade, sondern der freie Wille des Menschen das entscheidende: nicht die Gnade bringt den Menschen dazu, rein und heilig zu leben, sondern der Wille. Die Gnade hilft nur ein bisschen dazu (Pelagius leugnet die Gnade nicht, aber sie ist bei ihm eigentlich nur eine Unterstützung für die NATÜRLICHE Kraft des Willens)!

Bitte beachten wir: Pelagius ist Mönch, ein ganz willensstarker und tugendhafter noch dazu. So ein richtiger Tugendbold, der sich wohl jeden morgen lustvoll gefragt hat: „Wie werde ich mich heute wieder abtöten?“ Was zu kurz kommt, ist die Gnade. Pelagius macht daher die Erbsünde klein, damit er die eigene Fähigkeit des Menschen zu einem sittlichen Leben betonen kann. Die Natur ist stark, die Gnade ist nur etwas äußerliches, das der Natur hilft, sich selbst zu helfen.
So sehr diese Charakterisierung natürlich aus dem Blickwinkel eines römisch-katholischen Dogmatikers (der seinen Augustinus gelesen hat) geschrieben ist, und daher Dinge verurteilt, die ein anderer eher als Vorzug, denn als Mangel empfindet, so ist doch klar, daß ein naiver Glaube an "das Gute im Menschen" Pelagius und seiner Lehre nun wirklich nicht vorgeworfen werden kann. Pelagius hält den Menschen nur für prinzipiell fähig, Gutes zu tun — wenn er es auch will und dann eben auch tut! Und dieser Grundsatz ist ebenso vernünftig (und durch die Evidenz tagtäglichen Geschehens jedermann einsichtig) wie notwendig, will ich nicht quasi statt an Scilla an Charybdis scheitern und mich jeder Verantwortung für menschliches Tun im ethischen Sinne entledigen.

Andernfalls wäre Gott, der den Menschen schuf (und zwar wie sie nach Augustinus' Meinung eben sind: sündhaft und unvollkommen), ihm ebenso letztlich alle Daseinsfaktoren schafft (z.B. durch die Weltlenkung durch seine göttliche Vorsehung, welche einen bloßen "Zufall" auf moralischem Gebiet ausschließt), auch die moralische Ursache seiner Sünde. Selbst Theologen, wenn sie unvoreinge-nommen zu denken wagten, erschien diese Aussage folgerichtig, was man u.a. an der Position von Molina — dem seine Feinde aus dem Dominikanerorden auch prompt Pelagianismus vorwarfen! — im unsäglichen, endlosen "Gnadenstreit" entnehmen kann. Molina hat sich eben mit der (zu seinem Glück ebenso bestechenden wie unnachvollziehbaren) "scientia media" so weit hinausgelehnt, wie er das, ohne den Scheiterhaufen zu riskieren, nur tun konnte. Aber gerade sein verquälter, Augustinus' Lehren verbal nicht verletzender, Lösungspfad zeigt schlagend, daß ihm die Argumentation von Augustinus bis zum 16. Jh. einfach unbefriedigend erschien — nein: erscheinen mußte!

Manchmal dauern Rehabilitierungen länger. Die des Pelagius läßt — offiziell — noch auf sich warten. Aber unter der Oberfläche tut sich bereits was, wie z.B. die Entscheidung des Vatikans über den "limbus puerorum" erkennen läßt. Das hat zwar aufs erste Hinsehen nichts mit Pelagius zu tun, aber bei genauerer Betrachtung doch sehr viel. Pelagius (und noch mehr seinem großen Schüler Julianus von Eclanum) wurde nämlich die Frage der Kindertaufe zum Verhängnis. Wenn die fremderlösende Gnade Christi eben nicht das Entscheidende für mein Heil ist, dann ist auch das fanatische Beharren auf der Kindertaufe nicht zu rechtfertigen. Dann können wir in Gelassenheit auf Gottes Güte vertrauen, statt noch einer im Kindbett sterbenden Mutter das Kind "zum Taufen, damit es nicht verdammt wird" aus dem Leib reißen. Dann ist aber eben auch jeder Mensch durch sein Handeln und Unterlassen (und nicht ein sakramentaler Vorgang als "opus operatum") für sein Heil selbst verantwortlich — m.a.W. die von der Kirche und ihrem Klerus gar nicht geschätzte "Selbsterlösung des Menschen" wirft ihre Schatten auf den Horizont des Glaubens. 

Und natürlich wird gegen diese gefährliche Ansicht sofort Front gemacht: Selbsterlösung kann's nicht geben. Basta. Nur zeigen uns Geschichte und Gegenwart schlagend: die Fremderlösung durch Christus gibt es offenbar ebensowenig, oder wollte jemand ernsthaft behaupten, daß die Welt ungefähr seit dem Jahre 33 n.Chr. entscheidend besser geworden ist, und zwar in christlichen Gebieten stärker als anderswo? Wenn überhaupt eine Verbesserung feststellbar ist, dann nur dort, wo die Menschen sich nicht auf jenseitige Tröstungen verließen, sondern lieber auf diesseitige Wohltätigkeit setzten. 

Humanismus und Aufklärung (so zuwider mir letztere in ihrem platten Fortschrittsoptimismus auch ist) haben mehr für die Menschen getan, als mystische Gottsuche oder scholastische Gelehrsamkeit, die, ich bestreite es nicht, auch ihr Schönes haben — aber nicht dann, wenn ich oder meine Mitmenschen dabei verhungern ... 

Das Problem Augustinus, das die Kirche seit nunmehr eineinhalb Jahrtausenden mit sich herum-schleppt, ist m.E. nur aus psychologischer Sicht zu lösen. Die Unhaltbarkeit seiner Positionen, von der Erbsünde (die Benedikt XVI. eigentlich von seiner Limbus-Entscheidung hätte entsetzt zurück-schrecken lassen müssen), über die "massa damnata", die nur wenigen "Auserwählten" das Heil zubilligen will, bis hin zum "extra ecclesiam nulla salus" (in der Tradition Cyprians auch von ihm vertreten), das doch schon seit Jahrhunderten, spätestens seit der Kolonisierung Amerikas ad acta gelegt ist, ist die eine Seite. Die andere ist, daß man einen durch Jahrhunderte einflußreichen Denker eben nicht desavouieren kann, ohne sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Nur wurde und wird ein gesichtswahrendes Aufgeben augustinischer Positionen mit zunehmender Dauer seiner Wirksamkeit immer unwahrscheinlicher. 

Dieser Ex-Playboy, der seinen Lebensekel den an seinen Lottereien nun doch wirklich unschuldigen Mit- und Nachlebenden in Dogmenform "umhängte", hat unglaubliches Unheil angerichtet — seine Lehren sind faktisch seine Seelentherapie auf Kosten anderer. Er steht damit sicherlich nicht allein da. Schon der Volksmund kennt den deftigen Satz: "Aus jungen Schlampen werden alte Betschwestern". Was mutatis mutandis auf Augustinus wohl ebenso zutrifft.

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