Samstag, 8. Oktober 2016

Fünf Bände

... mit zusammen über 2500 Folio-Seiten umfaßt die "Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur", die als Erbstück in meiner Bibliothek prangt. Ein großartiges Werk, das einem, in 2. Auflage von 1926 bis 1932 erschienen, die Literatur von den frühesten Zeiten des Althochdeutschen bis weit in die 1920er-Jahre hinein in höchst lesenswerter Weise näherbringt. Der Autor war der Benediktinermönch, Literaturwissenschaftler und langjährige Direktor des Stiftsgymnasium in Seitenstetten, P. Anselm Salzer, der heute vor 160 Jahren, am 8. Oktober 1856, in Waidhofen an der Ybbs (also recht nahe seinem späteren Wirkungsort) das Licht der Welt erblickte.

Es ist ein Werk von staunenswerter Fülle und Treffsicherheit. Manche etwas "katholischen" Urteile über das eine oder andere Werk mögen heute veraltet und voreingenommen erscheinen, aber grosso modo Salzers Literaturgeschichte eine der besten und informativsten, die ich kenne! Das "Katholische" tritt übrigens keineswegs penetrant oder bigott-frömmlerisch in den Vordergrund (wenngleich das Wohlwollen des hochwürdigen Autors für Erotica und Zweideutiges höchst bescheiden bleibt!), es ist eher ein Hintergrund, auf dem der Autor seine oft sehr freimütigen Meinungen notiert, Meinungen, die man in dieser Offenheit und Unvoreingenommenheit bei einem damals doch schon über 50- bis (in der zweiten, neu überarbeiteten Auflage von 1926 ff., die ich besitze) über 70-jährigen Benediktiner kaum vermuten würde.

Speziell in der Charakterisierung der damals "zeitgenössischen Literatur" arbeitet Salzer sorgfältig die Eigenart (oder eben auch: fehlende Eigenart!) der Autoren heraus, daß man bei eigener Kenntnis der behandelten Werke nur beeindruckt mit dem Kopf nicken kann: Salzer bringt einen ganzen Roman in oft nur wenigen Zeilen "auf den Punkt". Ganz ohne bemüht "wissenschaftliches" Geschwafel, wie es unter Germanisten nur zu oft Brauch ist ...

Das äußere Leben von P. Anselm Salzer verlief äußerst unspektakulär. Die Wikipedia schreibt in der biographischen Notiz:
Salzer trat 1875 in das Benediktinerstift Seitenstetten ein. Nach seiner Weihe zum Priester studierte Salzer in Wien und Innsbruck Theologie, klassische Philosophie und Germanistik. Er unterrichtete mehr als 50 Jahre als Professor am Stiftsgymnasium (1883–1936). Von 1918 bis 1937 war er auch dessen Direktor. Ab 1904 war er zudem als Stiftsbibliothekar tätig. 1893 veröffentlichte Salzer seine erste größere wissenschaft- liche Arbeit mit dem Titel Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Sein bedeutendstes Werk ist seine Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur, die vierteljährlich in Heftform im Verlag der Leo-Gesellschaft erschien und 1912 in Buchform herausgegeben wurde. Das mehrbändige Werk, das 2500 Seiten umfasste und mit 528 Abbildungen im Text und 296 Tafeln und Beilagen für damalige Verhältnisse äußerst großzügig ausgestattet war, erlebte mehrere Auflagen. 1999 erschien es in neu bearbeiteter und aktualisierter Form als Sonderausgabe. Anselm Salzer starb im 82. Lebensjahr in Seitenstetten.
Fast unvorstellbar: neben seinen seelsorglichen Pflichten, der Stellung als Archivar und Bilbliothekar seines Benediktinerstifts (das eine überaus stattliche Bibliothek sein eigen nennt), der Stellung als Professor und Direktor des Stiftsgymnasiums findet da jemand Zeit, eine sorgfältigst studierte und editierte mehrbändige Literaturgeschichte zu schreiben! Dabei war die Zwischenkriegszeit, die mit der Funktion Salzers als Gymnasialdirektor (1918 bis 1937) fast exakt zuasammenfällt, durch große wirtschaftliche Probleme auch für den Bibliothekar Salzer eine schmerzvolle Herausforderung:
Unter dem nächsten Stiftsbibliothekar, P. Anselm Salzer, Verfasser einer fünfbändigen Illustrierten Geschichte der deutschen Literatur (1926-1932) und von 1918 bis 1937 Direktor des Stiftsgymnasiums, erlitt die Bibliothek eine weitere Bestandseinbuße. Die wirtschaftliche Situation der Zwischenkriegszeit erzwang den Verkauf der kostbarsten Bücher. Von 304 vorhandenen mittelalterlichen Hss. wurden 34 veräußert, von den 510 Inkunabeln 233. Während etwa 10 Hss., glücklicherweise die wertvollsten, z. T. in den USA, z. T. in Deutschland ausfindig gemacht werden konnten, wurde noch keine der verkauften Inkunabeln identifiziert. Der damals amtierende Abt Theodor Springer (reg. 1920-1958) soll von diesem Verlust derart betroffen gewesen sein, daß er angeblich die Bibliothek nie wieder aufsuchte.
Wer Bücher liebt (und wer das nicht täte, der wird nicht Bibliothekar, bzw. schreibt auch keine Literaturgeschichte!), der versteht, daß es nicht nur den Abt, sondern auch den doch unmittelbar mit der Bibliothek verbundenen P. Salzer diese Notverkäufe wie ein Messer durchs Herz gehen mußten ...

Ob Salzers Tod am 17. März 1938 mitverursacht wurde durch die Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland, die den frommen, in seinem tiefsten Herzen sicherlich "legitimistisch" denkenden Pater sicherlich bedrückte, muß Spekulation bleiben. Jedenfalls blieb ihm so das für die meisten Klöster des Landes geradezu verheerende Schreckensregime (wenngleich Stift Seitenstetten, anders als die meisten, wegen seines wichtigen Gymnasiums nie aufgehoben wurde) der Nazis erspart ...

Wie weit die oben erwähnte Neuauflage von 1999 Salzers Originalwerk sachkundig ergänzt und weiterführt, oder ob es sein Meisterwerk zeitgeistig entstellt, vermag ich mangels Kenntnis nicht zu sagen. Wer von meinen Lesern aber eine allseitig informative und doch lesbare Literaturgeschichte sucht, und sich nicht daran stößt, daß diese "nur" bis ca. 1930 reicht, dem sei der Erwerb der antiquarisch keineswegs selten erhältlichen 2. Auflage (Regensburg 1926-32) wärmstens empfohlen.

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