Dienstag, 27. September 2016

Am 27. September 1946

… (also genau heute vor siebzig Jahren) notierte der italienische Schriftsteller und Diplomat Daniele Varè — von Mussolini bereits Anfang der 30er-Jahre als Gesandter aus Kopenhagen abberufen und in vorzeitigen Ruhestand geschickt, um dort einen Faschisten-Günstling unterzubringen — folgende Gedanken in sein Tagebuch:
Der Tag rückt heran, an dem die Urteilsverkündung im Nürnberger Prozeß erfolgen soll. Ein Offizier sagte mir, es sei in England schwer gewesen, für diesen Prozeß Richter zu finden, die sich bereit erklärten, ihres Amtes zu walten. Heute bringt die Illustrated London News das ganzseitige Bild eines bekannten Richters und schreibt: „Er hat, vielleicht mehr als je ein Richter in der Geschichte, vor der Welt in einem internationalen Gerichtshof die wahren Grundlinien englischer Rechtsauffassung festgelegt …“ In gleicher Weise vertritt ein amerikanischer Richter „amerikanisches Recht“, ebenso ein russischer „russisches“ und ein französischer „französisches“ Recht. Keiner von ihnen ist jedoch — so scheint es zumindest — Vertreter des Rechtes ohne nationale Modifizierung. Es war ein grober Fehler, bei diesem Prozeß keinen neutralen oder auch deutschen Richter mit heranzuziehen, ein Fehler, wie ihn nur vom Sieg Berauschte begehen konnten.
Etwas an diesem Prozeß läßt einen üblen Geschmack im Mund zurück. Daß eine ganze Reihe von Kriegsverbrechern (die sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuschulden kommen ließen) verdient hat, gehenkt zu werden cela va sans dire. Sie haben sich gegen Kriegsgesetze vergangen, die älter sind als die von Grotius aufgestellten. Aber jeder weiß, daß die gleichen Verbrechen, für die die Deutschen ihrer Verurteilung entgegensehen, von Russen und Jugoslawen in gleicher Art verübt wurden. Und doch sitzt ein russischer Richter im Gerichtshof! Natürlich wenden diese von den Siegermächten gewählten Richter Gesetze an, von denen sie sich selbst und den, der auf ihrer Seite gekämpft hatte, ausschließen. Man legt an das Recht zweierlei Maßstäbe an …
Wenn es uns, den Besiegten, gestattet wäre, Kriegsverbrecher vor Gericht zu rufen, so würden wir denjenigen — wer immer es sein mag — auf die Anklagebank fordern, der dafür verantwortlich war, daß marokkanische Truppen auf unser Land losgelassen wurden. Vor wenigen Tagen erst erwähnte Signora Agresti, Professor Silvestri habe ihr gesagt, daß in einem Spital von Neapel drei Jahre nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Italien noch immer ein Saal mit Frauen belegt sei, die von unseren marokkanischen „Befreiern“ vergewaltigt worden waren. [...]
Zum Schluß noch die Frage: Gesetzt den Fall, die „Vereinten Nationen“ hätten den Krieg nicht gewonnen, wie hätte man wohl Nagasaki und Hiroshima gerechtfertigt?
(zit. Nach Daniele Varè, Daniele in der Diplomatengrube, Zsolnay, Wien 1955)

Wer heute so etwas zu schreiben unternähme, wäre — cela va sans dire, um Varè zu zitieren — natürlich ein pöhser, ewiggestriger Nazi. Davon abgesehen, daß ein Verlag wie Zsolnay sich weigern würde (nein: sich weigern müßte!), so ein Buch überhaupt zu veröffentlichen.

Und es gibt noch immer welche, die davon schwätzen, daß wir in einem demokratischen Rechtsstaat leben, in dem es keine Zensur gäbe. Wo leben diese guten Leutchen eigentlich — auf der Rückseite des Mondes …? 

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