Montag, 17. Juni 2013

Der Erfinder des »Blitzkriegs«

… und damit zugleich eines der wenigen Fremdwörter (neben z.B. der »german angst«), welche aus dem Deutschen ins Englische drangen, wurde heute vor 125 Jahren, am 17. Juni 1888, in Kulm, Westpreußen, geboren: Heinz Guderian, der spätere Generaloberst, nach dem 20. Juli 1944 Generalstabschef des Heeres, vor allem jedoch der erste bedeutende Taktiker des modernen Panzerkriegs, von seinen Soldaten anerkennend mit Spitznamen wie »der schnelle Heinz« oder »Panzeradmiral« bedacht, von Hitler knapp vor Kriegsende als Generalstabschef entlassen, und im Gegensatz zu anderen Generälen in vergleichbarer Funktion nie als »Kriegsverbrecher« angeklagt, von Freund und Feind nach Kriegsende wegen seiner Korrektheit und Fairneß geschätzt (ein Faktum, das sich bis in die Diskussionsseite des deutschen Wikipedia-Artikels durchgesprochen hat — und das will bei der Ausrichtung der deutschen Wikipedia was heißen!).

Und wieder sind, ähnlich wie beim Gedenken an Generalfeldmarschall von Manstein vor einigen Tagen, nicht militärhistorische oder strategietheoretische Fragen Gegenstand dieses Artikels (z.B. die Frage, ob Guderian die Einkesselung der britischen Truppen im Frankreichfeldzug geschafft hätte, wenn nicht Göring aus Prestigegründen darauf bestanden hätte, den entscheidenden — und dann prompt versemmelten — Vernichtungsschlag durch die Luftwaffe zu führen, oder ob er ohne das Zurückpfeifen durch Hitler Moskau nicht doch eingekesselt und erobert hätte), sondern die der persönlichen Verantwortung eines Mannes in hoher Position unter den Bedingungen einer Diktatur und als Angehöriger eines Standes mit ausgeprägtem eigenem Ehrenkodex, wie eben des Offiziersstandes.

Im Leben Guderians stellte sich diese Frage mehrmals in deutlicher Weise. Das erste Mal vermutlich beim sogenannten »Röhm-Putsch«, dem ja keineswegs nur Röhm und andere — möglicherweise ja tatsächlich zu einem Putsch rüstenden — höhere SA-Führer zum Opfer fielen, sondern u.a. auch der ehemalige Reichskanzler, General Schleicher mit seiner Frau, und dessen enger Mitarbeiter, General von Bredow. Beide Generäle wurden öffentlich nicht wirklich von den Beschuldigungen, mit denen die Aktionen zur »Verhinderung« des Röhm-»Putsches« gerechtfertigt wurden, rehabilitiert (nur der greise Feldmarschall von Mackensen fand klarstellende Worte für die beiden Ermordeten). Guderian ist sicherlich zuzustimmen, wenn er in seinen Erinnerungen meint:
Die Erklärung Hitlers im Reichstag zu diesem Ereignis war ungenügend. Damals hoffte man, daß die Partei ihre Kinderkrankheiten bald überwinden würde. Rückschauend kann man nur bedauern, daß die damalige Leitung der Wehrmacht nicht nachdrücklich auf voller Genugtuung bestand. Sie hätte sich damit selbst, der Wehrmacht und dem deutschen Volk einen großen Dienst erwiesen (aus: Heinz Guderian Erinnerungen eines Soldaten, 2. Aufl., Wels 1951, S 28f.)
Der zweite Moment, der Guderian nach dem 30. Juni 1934 als entscheidender »Schritt in die falsche Richtung« in Erinnerung kommt, war der 4. Februar 1938, also jener Tag, an dem Hitler sich nach der blitzartigen Entlassung des Kriegsministers, Generalfeldmarschalls von Blomberg, und des Oberbefehlshabers des Heeres, des Generalobristen Freiherr von Fritsch, und anderer Generäle sich selbst an die Spitze der Wehrmacht setzte — umgeben von schwachen, keiner eigenen Meinung fähigen Ja-Sagern, die weder fähig noch willens waren, die immer riskanteren Pläne Hitlers zu bremsen, oder ihn wenigstens darauf hinzuweisen, wie sehr er mit seinen waghalsigen Aktionen das Spiel ausländischer Mächte, die Deutschland in einen Vernichtungskrieg ziehen wollten (wie Churchill so unbedacht — oder siegesgewiß — war, schriftlich offen einzuräumen), mitmachte. Derlei Überlegungen heute zu äußern, ist natürlich strengstens »politisch inkorrekt«, ja »revisionistisch« (als ob Wissensfortschritt nicht immer durch die Revision bisheriger, aber eben falscher, oder wenigstens unzureichender Theorien entstünde!) — wer diesbezüglich die Überlegungen aller am kommenden Zweiten Weltkrieg beteiligten Parteien dargelegt finden möchte, ist größtenteils auf Werke britischer und amerikanischer Historiker angewiesen, die, des Verdachtes einer Sympathie für das NS-Regime überaus unverdächtig, die teilweise üblen Ränkespiele ihrer eigenen Politiker offen ansprechen.

Für einen Österreicher nimmt sich Guderians Schilderung des deutschen Einmarsches in Österreich etwas »gewöhnungsbedürftig« aus — wenngleich dem General hierbei die wohl unvermeidliche Subjektivität seiner Eindrücke zugute zu halten ist. Denn zweifellos war der jubelnde Empfang der einmarschierenden Wehrmacht insofern »echt«, als die Jubelnden ihn ernst meinten — das ändert freilich an der baldigen Ernüchterung vieler von ihnen ebensowenig, wie an der Tatsache, daß die, die nicht jubelten, für Guderian eben nicht sichtbar waren (Noelle-Neumann fand dafür später die treffenden Termini »schweigende Mehrheit« und »Schweigespirale«). Die Frage, wie wohl eine freie Volksabstimmung über den »Anschluß« ausgegangen wären, ist seriöserweise nahezu unklärbar — denn weder die von Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg übereilt angesetzte (mit dem durch sie ausgelösten Einmarsch freilich vereitelte) Abstimmung wäre frei gewesen, noch weniger war es jedoch die danach von Hitler veranstaltete! Nach allem, was wir wissen, ist davon auszugehen, daß beide Optionen — Anschluß an (Nazi-)Deutschland und Bewahrung der Eigenstaatlichkeit Österreichs— jeweils von erheblichen Teilen der Bevölkerung vertreten wurden, das Überwiegen welcher Seite immer jedenfalls eher knapp gewesen wäre. Das offizielle Ergebnis der »Anschluß«-Abstimmung Hitlers war daher durch Einschüchterung und Wahlfälschung mit Sicherheit eine Farce, wie es wohl auch eine Schuschnigg-Abstimmung in die Gegenrichtung (wenngleich vermutlich in geringerer Weise) gewesen wäre.

Hochinteressant ist jedenfalls die Gegenüberstellung all dieser Schilderungen Guderians, die er in seinen Erinnerungen (Guderian a.a.O. S. 48ff.) mit den polemischen Insinuationen eines Winston Churchill in dessen Memoiren (Band 1/I, S. 331 der deutschen Ausgabe) dem Leser präsentiert — eine Gegenüberstellung, die ebenso von Guderians vornehmer Gesinnung zeugt, die ihn annehmen ließ, Churchill sei »offenbar falsch informiert« worden, wie von Churchills untergriffigem, fanatischem Deutschenhaß, der auch vor flagranten Lügen nicht zurückschreckte.

Im Polen-Feldzug, der mit den Kriegserklärungen seitens der britischen und französischen Regierung den Zweiten Weltkrieg auslöste, und von dem Guderian erst gegen Ende August 1939 Kenntnis erlangte, bewährte sich die moderne Panzerstrategie, die durch ihn erfunden worden war glänzend. Nichtsdestoweniger schreibt er über den Beginn des Feldzuges:
Jedenfalls ist es keine nachträgliche Feststellung, wenn ich sage, daß die Stimmung des Heeres ernst war und ohne den Pakt mit Rußland wahrscheinlich sehr zweifelhaft geworden wäre. Wir sind nicht leichten Herzens in den Krieg gezogen, und es gab keinen General, der zum Kriege geraten hätte. Alle älteren Offiziere und viele Tausende unserer Soldaten hatten den ersten Weltkrieg mitgemacht und wußten, was ein Krieg bedeutete, zumal wenn er nicht auf Polen beschränkt werden werden könnte (Guderian, a.a.O. S. 60)
Interessant ist weiters eine Schilderung Guderians von einem Gespräch aus Anlaß der Verleihung des Ritterkreuzes des eisernen Kreuzes nach dem Abschluß des Polenfeldzugs:
Bei dem an die Verleihung anschließenden Frühstück saß ich rechts neben Hitler und hatte eine angeregte Unterhaltung über die Entwicklung der Panzertruppe und über die Erfahrungen aus dem Feldzug. Schließlich fragte er ganz unvermittelt: „Ich möchte wohl wissen, wie man im Volk und im Heer den Pakt mit Sowjetrußland aufgenommen hat?“ Darauf konnte ich nur antworten, daß wir im Heer aufgeatmet hätten, als uns die Nachricht vom Abschluß des Paktes Ende August erreichte. Wir hätten dadurch das Gefühl der Rückenfreiheit bekommen und seien glücklich gewesen, daß uns der gefürchtete Zweifrontenkrieg erspart geblieben sei, der uns im vorigen Weltkrieg doch auf die Dauer zur Strecke gebracht habe. Hitler sah mich sehr erstaunt an und ich bekam das Gefühl, daß ihn meine Antwort nicht befriedigt habe. Er antwortete jedoch nicht und brach das Thema ab. Erst viel später mußte ich erkennen, daß Hitlers Feindschaft gegen Sowjetrußland sehr tief saß. Er hat wohl erwartet, mein Erstaunen zu hören, daß er sich auf einen Pakt mit Stalin eingelassen habe. (Guderian, a.a.O. S. 78)

Im Frankreich-Feldzug perfektionierte Guderian seine Panzerstrategie zu dem, was man auf Seite der Alliierten bewundernd, ja schaudernd eben mit dem Fremdwort »Blitzkrieg« benannte (woraus später u.a. das umgangssprachliche »to blitz s.o.« im Sinne von »jemanden völlig unvorbereitet völlig vernichten« entstand). Hier zeigte sich auch die kühne Entschlossenheit Guderians, der sich nicht scheute, einen ihm vollkommen sinnlos scheinenden Anhalte-Befehl zu mißachten und weiter vorzudringen, was ihm die kurzzeitige Entsetzung seines Kommandos durch seinen Vorgesetzten eintrug — allerdings mit umgehender Wiedereinsetzung durch den Oberkommandierenden. Daß sein Ziel, die britischen Truppen auf französischem Boden einzuschließen und gefangenzunehmen, nicht gelang, war freilich nicht sein Fehler, sondern dem mißglückten Versuch Görings zuzuschreiben, diesen Sieg aus Prestigegründen der Luftwaffe zukommen zu lassen — was dann prompt mißlang und über Calais dem Großteil der britischen Truppen die Einschiffung nach Hause ermöglichte.

Da dieser Artikel keinen militärhistorischen Lebenslauf bilden soll, sei zur weiteren Tätigkeit Guderians, der inzwischen zum Generaloberst befördert worden war, vermerkt, daß dieser den geplanten Angriff auf die Sowjetunion mit mehr als gemischten Gefühlen zur Kenntnis nahm — den freilich als »Überfall« Hitlers auf die ach so friedliebende Sowjetunion darzustellen aufgrund der seit dem Zusammenbruch der UdSSR offenliegenden Aktenlage entweder von völliger Uninformiertheit oder von ideologischer Desinformation zeugt. Der Grazer Philosoph Topitsch hat dies in seinem (natürlich »umstrittenen«, na was denn sonst!) Werk »Stalins Krieg« mehr als deutlich nachgewiesen.

Guderian wurde aufgrund von Differenzen mit Hitler über die seiner Meinung nach völlig ungeeignete Führung des Winterkrieges 1941 (dessen verheerende Folgen ihm rechtgeben sollten!) am 26. Dezember 1941 als Oberbefehlshaber der 2. Panzerarmee entlassen und zur »Führerreserve« kaltgestellt — mit der vorgeschobenen Besorgnis Hitler, Guderian möge sein Herzleiden auskurieren. Wie allen damaligen Inhabern des Eichenlaubes zum Ritterkreuz wurde ihm eine Dotation in Form eines Landgutes zuteil — Gut Deipenhof bei Hohensalza im Warthegau, dessen Erwerb ihm später allerlei mißgünstige Verdächtigungen eintrug. Guderian trug sich ernstlich mit dem Gedanken, den Militärdienst zu quittieren und sich der Landwirtschaft zu widmen.

Die Katastrophe von Stalingrad, die wohl als endgültige Wende im Zweiten Weltkrieg anzusehen ist, bewirkte freilich eine Reaktivierung Guderians. Über ein Jahr nach seiner Entlassung, am 17. Februar 1943 wurde er zum »Generalinspekteur der Panzertruppen« ernannt — eine zwar mit viel Arbeit, jedoch keinerlei Befehlsgewalt verbundene Stellung — , kurze Zeit nach der Casablanca-Konferenz der West-Alliierten (14.-24. Jänner 1943), auf der die Forderung nach »bedingungsloser Kapitulation« an Deutschland gerichtet wurde. Damit war für Guderian klar, daß — gleichgültig, für wie verfehlt er die dilettantische Kriegsführung durch Hitler halten mochte — er verpflichtet war, nach Kräften die Interessen seines Volkes und seiner Nation zu schützen.


Wie in fast allen »einschlägigen« Lebensläufen deutscher Generäle wird heute die Frage nach Guderians Verhalten am — und seine Haltung zum — 20. Juli 1944 zum Schibboleth seiner »Anständigkeit« gemacht, und aus seiner Ablehnung des Attentatsversuches das Verdikt »Also doch ein Nazi!« destilliert. Da kann eine Enkelin noch so sehr betonen, weder ihr Großvater Heinz Guderian, noch ihr Vater oder Onkel seien je NSDAP-Mitglieder gewesen — »Nazi« ist eben die Punze, mit der man alle lästigen Gegenargumente »endlösen« kann, insbesondere, seitdem die famose Judikatur der Höchstgerichte darin keine Beleidigung zu erkennen vermag, sondern bloß ein »politisches Werturteil«. Interessante Judikatur, wenn man bedenkt, daß die NSDAP vom Nürnberger Tribunal ausdrücklich als »verbrecherische Organisation« gebrandmarkt wurde — den juristischen Rösselsprung, aus dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation ein bloßes Werturteil zu machen, muß man sich auf der Zunge zergehen lassen! Was die p.t. Höchstrichter wohl dazu sagten, wollte man sie bspw. als »Mafiosi« (auch dies Mitglieder einer verbrecherischen Organisation, eben der Mafia) bezeichnen? Wäre das demnach auch bloß ein »politisches Werturteil«?

Sehr gegen den heutigen Zeitgeist der durch ihre »späte Geburt Begnadeten« lehnte Guderian den Attentatsversuch kategorisch ab.
Welche Wirkung übte das Attentat vom 20. Juli nun tatsächlich aus?

Der Mann, auf den es abgesehen war, wurde leicht verletzt. Seine körperliche Verfassung, die ohnehin nicht die beste war, wurde noch mehr geschwächt. Sein seelisches Gleichgewicht wurde für immer gestört. Alle bösen Geister, die in ihm geschlummert hatten, wurden auf den Plan gerufen. Er kannte nun keine Hemmungen mehr.

Sollte das Attentat ernste Auswirkungen auf den deutschen Regierungsapparat haben, so hätten die wichtigsten Träger des nationalsozialistischen Regimes gleichzeitig mit Hitler beseitigt werden müssen. Aber von diesen war niemand beim Attentat zugegen. Für die Beseitigung von Himmler, Göring, Goebbels, Bormann — um nur die Wichtigsten zu nennen — war nicht vorgesorgt. Die Verschworenen hatten sich nicht die geringste Gewähr zu verschaffen versucht, daß sie ihre politischen Pläne im Falle des Gelingens des Attentats auch wirklich durchführen konnten. Der Attentäter, Graf Stauffenberg, war sich dieser Schwäche seines Planes auch klar bewußt, denn er hatte seine Absicht bereits einmal aufgegeben, als er wenige Tage zuvor auf dem Obersalzberg bemerkte, daß Himmler und Göring, mit deren Anwesenheit er gerechnet hatte, nicht im Saale waren. Mir ist nicht bekannt, weshalb Graf Stauffenberg am 20. Juli zur Tat schritt, obwohl die Voraussetzungen für den vollen, politischen Erfolg seines Schrittes fehlten. Vielleicht hat ihn ein Haftbefehl gegen Dr. Gördeler zur Tat getrieben.

Sollte das Attentat ferner selbst im Falle der Tötung Hitlers zur Übernahme der Macht durch die Verschworenen führen, so mußten die hierzu nun einmal notwendigen Truppen sicher sein. Die Verschworenen verfügten aber über keine einzige Kompanie. Sie waren daher nicht einmal in der Lage, die Macht in Berlin an sich zu reißen, als Graf Stauffenberg mit der falschen Nachricht vom Eroflg seines Anschlages aus Ostpreußen in Berlin landete Die Offiziere und Männer der für „Walküre“ aufgebotenen Verbände hatten keine Ahnung, worum es ging. Daraus erklärt sich auch ihr „Versagen“ im Sinne der Verschwörer. Auch die von mir aus ganz anderen Gründen genehmigte Verzögerung des Abtransportes der Lehrtruppen der Panzerwaffe konnte nicht zum Erfolg beitragen, weil die Verschwörer gar nicht wagen konnten, die Truppe und ihre Führer in ihre Pläne einzuweihen.

Die außenpolitischen Voraussetzungen für einen Erfolg des Attentats waren nicht gegeben. Die Beziehungen der Verschworenen zu maßgebenden Politikern des feindlichen Auslands waren spärlich. Keiner der maßgebenden feindlichen Politiker hatte sich auch nur im mindesten zu Gunsten der Verschworenen festgelegt. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man sagt, daß die Aussichten des Reichs bei Gelingen des Attentats um nichts besser gewesen wären, als sie es heute
[Anm.: 1950] leider sind. Es ging unseren Feinden eben nicht nur um die Beseitigung Hitlers und des Nazismus. (Guderian a.a.O. S 327 f.)
All dies sind natürlich »bloß« Argumente über die Zweckmäßigkeit und die möglichen Erfolgsaussichten eines solchen Attentats. Man kann all das auch mit den Augen bspw. eines Generalmajors Henning von Tresckow sehen, dessen Sicht in den Erinnerungen von Alexander Stahlberg wie folgt geschildert wird:
Ich knüpfte die Frage an, wann das Attentat gegen Hitler endlich komme. Henning blieb stehen, sah mich an und sagte: »Das Attentat wird kommen, und zwar bald. Alles ist vorbereitet. Der es tun wird, steht nun fest.« Ich fragte weiter. Ich wollte wissen, wo er selbst sein werde, wenn Hitler tot sei. Er sagte: »Ich werde sofort in Berlin sein. Auch das ist vorbereitet.«
Ich fragte, ob denn der Staatsstreich, der doch dann folgen müsse, vorbereitet sei. Der Staatsstreich berge dochweit schwierigere Probleme als nur die Tötung Hitlers. Henning antwortete: »Auch der Staatsstreich ist vorbereitet.« Ich fragte, ob er denn eine Chance sehe, daß der Staatsstreich gelingen werde. Und nun kam eine Antwort, die mich erschütterte: »Mit der größten Wahrscheinlichkeit wird alles schiefgehen.« Voller Entsetzen sagte ich: »Und trotzdem?« »Ja«, sagte er, »trotzdem!«
Im Weitergehen sprach er vor sich hin, als wäre er allein. Man müsse sich vorstellen, wie in späteren Generationen die Weltgeschichte über uns Deutsche urteilen würde, wenn es in Deutschland nicht einmal eine Handvoll Männer gegeben hätte, die diesem Verbrecher in den Arm gefallen seien. Noch wüßten bis jetzt nur wenige Deutsche, welche unsagbaren Verbrechen von den Nazis verübt würden. Nur in den obersten Kommandobehörden sei das bisher bekannt. Eines Tages aber würden es alle erfahren. Und dann würden sie mit Recht über die herfallen, die davon gewußt haben und nichts getan haben, um es zu verhindern.
Das ist alles sicherlich sehr edel und ehrenhaft gedacht — nur kommen mir dazu zwei unschön frappante Umstände in den Sinn:
1. Wenn nach der wohlinformierten Ansicht eines hochrangigen Generalstäblers sogar noch im Sommer 1944 »nur wenige Deutsche« (näherhin: »in den obersten Kommandobehörden«) von den Nazi-Greueltaten wußten, warum wird heute mit größter Selbstverständlichkeit so getan, als wären ebendiese Greueltaten allgemein bekanntes Alltagswissen der gesamten Bevölkerung gewesen?
2. Da das Attentat auf Hitler nachweislich stattgefunden hatte, und einer großen Zahl darin Verwickelter, aber auch bloßer Mitwisser (bzw. nur der Mitwisserschaft Verdächtiger) den Tod gebracht hat — was ist von dem Appell Tresckows an das Urteil späterer Generationen zu halten, wenn dennoch »die Deutschen« bis heute jederzeit mit einem Hinweis auf »NS-Greuel« (siehe  jüngste Vorgänge in Griechenland) gefügig gemacht werden können?

Guderian gibt sich gegenüber von vorstehenden Ansichten von Tresckows weitaus geringeren Illusionen hin, wenn er schreibt:
Natürlich wird immer wieder die Frage aufgeworfen, was geschehen wäre, wenn das Attentat gelungen wäre. Niemand kann das sagen. Nur eines scheint sicher: Damals glaubte ein sehr großer Teil des deutschen Volkes noch an Adolf Hitler und wäre zu der Überzeugung gekommen, daß die Attentäter den einzigen Mann beseitigt hätten, der vielleicht noch in der Lage gewesen wäre, den Krieg zu einem glimpflichen Ende zu bringen. Mit diesem Odium wäre das Offizierskorps, die Generalität und der Generalstab in erster Linie belastet worden, schon während des Krieges, aber auch hinterher. Der Haß und die Verachtung des Volkes hätte sich gegen die Soldaten gekehrt, die mitten in einem Ringen auf Leben und Tod durch den Mord am Oberhaupt des Reiches unter Bruch des Fahneneides das bedrohte Staatsschiff führerlos gemacht hätten. Daß unsere Feinde uns deshalb besser behandelt hätten, als es nach dem Zusammenbruch geschah, ist unwahrscheinlich. (Guderian, a.a.O. S. 332)
Aber, so wird man legitimerweise fragen, gibt es nicht auch moralische Pflichten, denen man nachzukommen hat, auch wenn ein positives Ergebnis höchst zweifelhaft, ja sogar so gut wie ausgeschlossen erscheint? Sicher gibt es solche Pflichten, und Guderian läßt es nicht bei den vorstehenden Worten bewenden, sondern setzt fort:
Es wird so viel von Widerstand gegen das Hitler-Regime geredet und geschrieben. Wer von den noch Lebenden, den Rednern und Schreibern, die an Hitler hätten herankommen können, hat denn selber wirklich auch nur ein einziges Mal Widerstand geleistet? Wer hat gewagt, auch nur ein einziges Mal Hitler seine abweichende Ansicht mitzuteilen und gar Aug in Aug mit dem Diktator auf seiner Meinung zu beharren? Das hätte geschehen müssen! In den Monaten, in welchen ich die Lagevorträge und zahlreiche militärische, technische und politische Besprechungen bei Hitler erlebte, taten das nur sehr wenige Menschen, von denen leider nur die wenigsten noch unter den Lebenden weilen. Ich muß aber ablehnen, jene Leute Widerstandskämpfer zu nennen, die nur hinter den Kulissen getuschelt haben, daß sie anderer Ansicht seien, die nur andere Leute anzustiften versuchten. (Guderian, a.a.O.)
Ein hartes Wort, in der Tat! Und sicherlich nicht auf den unmittelbaren Attentäterkreis anzuwenden, wohl aber auf die vielen »Widerstandskämpfer«, die ab 8. Mai 1945 auf einmal aus dem Boden zu sprießen begannen. Und angesichts von Guderians Bericht über eine in seiner Funktion als Generalstabschef mit Hitler geführte »Besprechung« (»Beschreiung« wäre das wohl treffendere Wort!), bei der er diesen zwei Stunden toben ließ, um Himmler als völlig unfähigen Befehlshaber des Ersatzheeres endlich »an die kurze Leine« zu legen, waren die harten Worte vielleicht nicht ganz unverständlich:
So ging es durch zwei Stunden in unverminderter Heftigkeit. Mit zorngeröteten Wangen, mit erhobenen Fäusten stand der am ganzen Leib zitternde Mann vor mir, außer sich vor Wut und völlig fassungslos. Nach jedem Zornausbruch lief Hitler auf der Teppichkante auf und ab, machte dann wieder dicht vor mir halt und schleuderte den nächsten Vorwurf gegen mich. Er überschrie sich dabei, seine Augen quollen aus den Höhlen und die Adern an seinen Schläfen schwollen. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen und nur immer wieder meine unerläßlichen Forderungen zu wiederholen. Das tat ich nun mit eiserner Konsequenz.

[…]

Plötzlich machte Hitler vor Himmler halt: „Also, Himmler, der General Wenck tritt noch heute nacht zu Ihrem Stabe und leitet den Angriff.“ […] Er setzte sich auf seinen Stuhl, bat mich neben sich und sprach: „Bitte, fahren Sie in Ihrem Vortrag fort. Der Generalstab hat heute eine Schlacht gewonnen.“ Dabei lächelte er sein liebenswürdigstes Lächeln. Es war die letzte Schlacht, die ich gewann, und nun war es zu spät! Nie hatte ich eine solche Szene erlebt. Nie hatte ich Hitler so ohne jedes Maß toben gesehen.
(Guderian a.a.O. S. 395 f.)
Am 28. März 1945 wurde Guderian allerdings von Hitler nach einem weiteren Streitgespräch mit sofortiger Wirkung als Generalstabschef entlassen und »zur Erholung« beurlaubt. Er geriet am 10. Mai in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er am 17. Juni 1948 (also an seinem 60. Geburtstag) entlassen wurde. Bis zu seinem Tod — am 14. Mai 1954 in Schwangau (bei Füssen) — arbeitete er als Schriftsteller und als Berater der Bundesregierung bei der geplanten Errichtung der Bundeswehr.

Guderians Bild wird heute durch zwei Vorwürfe verdunkelt, die in der deutsche Wikipedia natürlich bereitwillig Aufnahme fanden — bezeichnenderweise erwähnt sie die englische Wikipedia, die sich dafür umso mehr der militärtheoretischen und -historischen Bedeutung Guderians widmet, nicht näher:
In einem Befehl vom 25. August 1944 „an alle Generalstabsoffiziere“ schrieb er: „Niemand darf fanatischer an den Sieg glauben und mehr Glauben ausstrahlen als Du. ... Es gibt keine Zukunft des Reiches ohne den Nationalsozialismus. Deshalb stelle Dich bedingungslos vor das nationalsozialistische Reich.“
Was sollte in einem solchen Tagesbefehl denn sonst erwartet werden? Etwa explizite Kritik an Hitlers Unfähigkeit, oder an seiner verbrecherischen Politik? Eine Distanzierung vom Nationalsozialismus? Oder gar die Feststellung, daß der Krieg verloren sei? Manchmal fragt man sich schon, was sich diejenigen denken, die derlei als »Vorwürfe« erheben.

Auch die Guderian übergebene Führer-Dotation »Gut Deipenhof«, die bereits von Stahlberg (»Die verdammte Pflicht« S. 405) in ungünstiger Weise dargestellt wurde, soll einen Schatten auf Guderian werfen, und liest sich in der deutschen Wikipedia wie folgt:
Wie andere hohe Generale der Wehrmacht wurde Guderian von Hitler mit einer Dotation bedacht. Nach längerem Hin und Her mit den zuständigen Stellen, das ein Sachbearbeiter in der Reichskanzlei als „schlechthin unwürdig“ bezeichnete, übernahm er am 15. Oktober 1943 das 974 Hektar große Gut Deipenhof (poln. Głębokie) im Kreis Hohensalza im Warthegau. Über das Schicksal der polnischen Vorbesitzer ist nichts bekannt. Der geschätzte Ertragswert betrug 1.230.011 Reichsmark. Für Um- und Neubauten waren 43.000 Reichsmark vorgesehen
In Guderians Erinnerungen steht demgegenüber die Feststellung, daß die Bediensteten und Pächter bei der Räumung von Gut Deipenhof durch seine Frau bei Herannahen der Ostfront am liebsten mitgegangen wären — die Verheißungen eines künftigen Lebens in einem »befreiten« Polen waren offenbar nicht derart, daß sie sich davon allzuviel versprachen. Die Geschichte sollte ihnen beweisen, daß sie damit recht hatten ...

Es ist wohl das Schicksal aller Feldherren, insbesondere auf der Verliererseite, daß ihr »Charakterbild in der Geschichte« schwankt: Geschichtsschreibung ist stets eine Siegergeschichte. Die masochistische Selbstbezichtigungs-Mentalität der deutschen Nachkriegshistoriker ist da freilich noch ein Quantensprung ins Absurde! Guderian waren derartige Gedanken fremd — deshalb wird auch seine Sicht in der heutigen Darstellung dieser Vorgänge als fremd und ungehörig empfunden!

Fast am Ende seiner Erinnerungen zitiert er — und das könnte als Motto über seinem Leben stehen — einen Satz des preußischen Königs Friedrich II an den Marquis d'Argens:
Nichts wird das Innere meiner Seele ändern, und ich werde meinen geraden Weg gehen und tun, was ich für nützlich und ehrenvoll halte.
Die Worte standen auf einem Bildchen, das Guderian von einem Prinzen des preußischen Königshauses erhalten hatte. Guderian bemerkt dazu: »Das kleine Bild ging verloren, aber die königlichen Worte blieben mir im Gedächtnis haften und bildeten die Richtschnur meines Handelns. Wenn ich trotzdem den Untergang meines Vaterlandes nicht verhindern konnte, so möge man doch an meinem guten Willen hierzu nicht zweifeln.«

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ein grandioser Artikel - ein echter traditioneller "Le Penseur"!

Mit viel Erkenntnisgewinn habe ich diese Würdigung gelesen und mit tiefer Trauer, was "Deutsch sein" mal war und was es heute ist ...

Übrigens, gehört das Wissen um "Schibboleth" zur Allgemeinbildung oder sind Sie gar mosaischen Glaubens?
Ich kenne die Bedeutung erst seit wenigen Jahren ...

Mit besten Grüßen
Kreuzweis

dilettantus in interrete hat gesagt…

Glockenspiel,
Kindergarten,
Vorlage (litterarisch)
Winkelhaken (assyr. Schriftzeichen)
Kraut

jetzt ohne groß nachzudenken!

Le Penseur hat gesagt…

Ad delectatorem in interrete respondens:

Ich verstehe ... ... Die halbwegs erschöpfende Aufzählung der — recht spärlichen — Spuren deutscher Sprache im Englischen ist eindeutig leichter zu bewerkstelligen, als ein Eingehen auf den schlappen Rest der ca. sechs Seiten Artikeltext.

Und weitaus ungefährlicher, selbstmurmelnd ...

Volker hat gesagt…

"wenn es in Deutschland nicht einmal eine Handvoll Männer gegeben hätte, die diesem Verbrecher in den Arm gefallen seien."

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die die Verkommenheit umso deutlicher aufzeigen.
Ich meine, "Männer" geht gar nicht. Das mindeste wären "MännerInnen".

Und nein, auf die sechs Seiten Artikeltext werde ich nicht weiter eingehen. Sie sind einfach großartig. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.