Donnerstag, 16. Dezember 2021

Sein letztes Opus

von LePenseur
 
 
... war eine Sonate für Fagott und Klavier G-Dur, op. 168, mit der ein ebenso langes wie facettenreiches Komponistenleben einen noblen, diskret-virtuosen, aber ungebrochen meisterhaften Abschluß fand:


Das Entstehungsjahr 1921 würde man wohl nicht vermuten, sondern das Werkchen unbesehen min-destens um ein halbes Jahrhundert rückdatieren — bisweilen sogar ein ganzes. Aber tut das seiner Qualität Abbruch? Wohl nicht ...

Es geht um den Großmeister der französischen Musik des 19. Jahrhunderts — um Camille Saint-Saëns. Bei seiner Geburt am 9. Oktober 1835 war Ludwig van Beethoven gerade einmal achteinhalb Jahre tot, Gaetano Donizetti komponierte in diesem Jahr seine »Lucia di Lammermoor« (und als Draufgabe noch seine »Maria Stuart«) und dessen Konkurrent Bellini seine »Puritaner«. Als Saint-Saëns am 16. Dezember 1921, also heute vor hundert Jahren, starb, war in Argentinien Astor Piazzolla ein paar Monate alt, wurde von Sergei Prokofjew dessen 3. Klavierkonzert vollendet, entstanden Schönbergs Suite für Klavier op. 25 und Ralph Vaughan Williams Pastoral Symphony. Ein Leben, das sich (fast) von Beethoven bis Schönberg erstreckt, wäre an sich schon bemerkenswert genug — und wird noch weit bemerkenswerter, wenn man darangeht herauszufinden, wie dieser Saint-Saëns diese Entwicklungen in seinem eigenen Schaffen verarbeitet hat. Und hier sind die Ergebnisse, die selbst eine oberflächliche Erkundung zutage fördert, einigermaßen paradox.

Zwar ist die gängige Ansicht, daß der Komponist einfach ein zwar brillanter, aber doch irgendwie ein wenig zu »akademischer« Komponist war. Gekonnt, aber ohne Genialität, zu vorhersagbar in seinem Schaffen, als daß es sich lohnte, sich mit ihm, über den die Zeit spätestens seit Franck, und erst recht seit Debussy gnadenlos hinwegging, eingehender zu beschäftigen. »Einspruch, Euer Ehren!« möchte man rufen — und denkt da z.B. an das grandiose letzte Klavierkonzert, das fünfte, auch »Ägyptisches« genannt, und da speziell an den langsamen Satz:


Ach, das wäre bloß »akademisch« — wo uns doch musikalischer Impressionismus in den flirrenden Kaskadenen des Klaviers (z.B. ab 1:40 min.) geradezu exemplarisch vorgeführt wird?

In der französischen Musik des 19. Jahrhunderts gibt es neben ihm eigentlich kein Beispiel, daß ein Komponist sowohl auf dem Gebiet der Oper wie auch dem der symphonischen Musik herausragendes geleistet hätte. Die meisten bekannten Komponisten Frankreichs waren der Oper »verfallen«, sodaß die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts dort — außer Francks großartiger d-moll Symphonie! — ja nicht wirklich mit Meisterwerken der Symphonik gesegnet genannt werden kann. Umso bemerkenswerter ist daher, daß Saint-Saëns mit seinen insgesamt fünf Symphonien zumindest anerkennenswerte, mit seiner Ersten und der letzten, der sogenannten »Orgel-Symphonie« sogar meisterliche Werke geschaffen hat. Die 1. Symphonie in Es-dur, op. 2 (1853), ein Jugendwerk des est 18-jährigen zeigt ex ungue leonem schon den künftigen Meister!

Auch die »offiziell« 2. Symphonie in a-moll, op. 55 (1859) ist nur bei sehr oberflächlichem Anhören ein »akademisches« Werk — schon der Beginn läßt einen grübeln, bei welchem Komponisten jener Jahre man so einen »befremdlichen« Beginn (dessen Intervallsprünge sich durch das ganze Werk ziehen) man sonst finden könnte, auch wenn Saint-Saëns das Thema bald zu einem typischen (wirklich typischen?) Fugenthema umfunktioniert. Wenn schon »akademisch«, dann aber in einer völlig gegen den Strich gebürsteten Weise!
 

Dazwischen liegt die entzückende, aber für den jungen Komponisten leider erfolglose — und wohl deshalb einer Opuszahl und Ordnungsnummer entratende — Symphonie »Urbs Roma«, mit der er sich vergeblich um die  prestigeträchtigste Auszeichnung des Pariser Konservatoriums, den »Prix de Rome« bewarb. Wer ihn 1856 statt dessen erhielt — keine Ahnung*)! Aber daß dessen Werk besser war als das von Saint-Saëns, darf wohl bezweifelt werden. Allein das prachtvolle Hornmotiv am Beginn!

Aber da habe ich Ihnen doch glatt Saint-Saëns' »Nullte« Symphonie, die in A-dur des erst 15-jährigen Schülers unterschlagen! Sicher: sie ist noch an Vorbildern geschult, klingt noch in der Tradition früher Schubert-Symphonien (die damals erst wenige Jahrzehnte zurücklagen!) mit manchen Mendelssohn-Anklängen, und sie zitiert im ersten Satz keck das Thema eines ganz, ganz Großen, das der Schlußfuge der Jupitersymphonie Mozarts:


Doch nun zu seinem krönenden Meisterwerk, der 3. Symphonie in c-moll, der »Orgel-Symphonie«, für Orchester, Orgel und Klavier zu vier Händen, op. 78 (1886):


Dieses Werk ist sowohl thematisch, als auch instrumentatorisch wie auch formal von solcher Eigenart, daß mir so schnell wenig andere Beispiele ähnlicher Kühnheit im 19. Jahrhundert einfielen! Sicher — César Francks Symphonie in d-moll, die ein Jahr später erschien, steht ihr an Qualität nicht nach, aber verdient sie wirklich den alleinigen Ruhm eines kühnen Meisterwerks jener Zeit nach dem Tod des großen Magiers der Musik, Richard Wagner, wogegen Saint-Saëns eben doch bloß ein professoraler Epigone gewesen wäre? Sicherlich, Francks Tristan-Chromatik geht weiter als die Orgel-Symphonie, aber ist das wirklich der alles entscheidende Maßstabstab?

Doch verlassen wir nun den Symphoniker und wenden uns dem Opernkomponisten zu, denn auch hier hat Saint-Saëns zumindest einmal die Siegespalme erringen können, mit »Samson und Dalila«, op. 47 (1868-76), die sich bis heute auf den Bühnen halten konnte, und dessen »berühmte Arie« jeder kennt:


Daß Saint-Saëns noch zwölf weitere Opern geschrieben hat, ist schon weit weniger bekannt — und daß sich darin wahre Perlen finden, noch weniger. Was einem da entgeht, erahnt man, wenn man bspw. das Vorspiel zu seiner späten Oper »Les Barbares« (1901) hört:


Nein, schon richtig — das war damals, um 1900, schon längst keine Avantgarde-Musik mehr, sicherlich nicht! Aber es war auch weit davon entfernt, geistloses Epigonentum zu sein!

Doch werfen wir noch einen kurzen Blick auf den Kammermusiker Saint-Saëns, der zeitlebens dieses intime Genre der Musik, das sich mehr an den Kenner als den »Fan« wendet, pflegte — aber besonders beeindruckend in seinem 1. Streichquartett in e-moll, op. 112 (1899):


Hier zaubert ein Meister des Kontrapunktes ebenso wie der thematischen Entwicklung alles aus dem bescheidenen Klangkörper von vier Streichinstrumenten, was man sich nur wünschen kann, in einer Qualität, die den fast gleichzeitigen Spätwerken eines (fast gleichaltrigen) Johannes Brahms wohl nicht nachsteht.

Ach, ich muß abbrechen! Ins Unendliche könnte man aus diesem klaren, kühl-herben Quell schöpfen, wenn es die Zeit zuließe ... so bleibe der Komponist geistlicher Musik und der begnadete Organist mit dem Hinweis auf frühere Artikel dieses Blogs (1) (2) bloß erwähnt. Und man versteht den Ausruf von Franz Liszt, der über den jungen Saint-Saëns ins Staunen geriet: »Es ist denkbar, ebensosehr Musiker zu sein wie Saint-Saëns; aber es mehr zu sein als er — das ist unmöglich!«

Heute vor hundert Jahren, am 16. Dezember 1921, ist dieser — so oft verkannte — Meisterkomponist in Algier gestorben.

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*) Nachtrag vom 17.12.: inzwischen habe ich doch eine Ahnung. Nämlich: niemand! Der erste Preis blieb 1856 unvergeben, den zweiten Preis erhielten Georges Bizet und Eugène Lacheurié gemeinsam verliehen. Ein Jahr später erhielt Bizet den ersten Preis, aber mußte ihn mit Charles Colin teilen. 

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Kleine Korrektur: Geburtsjahr 1835.

Anonym hat gesagt…

Danke, wurde sofort korrigiert!

Anonym hat gesagt…

Sehr schön zusammengestellt!

Sandokan

Werner Kainz hat gesagt…

Schöner Artikel! Zu ergänzen wäre, dass er nicht nur als Komponist Großes geleistet hat - so nebenbei editierte er die Werke von Gluck und Rameau und war einer der berühmtesten Pianisten seiner Zeit, auch als Dirigent hochgeschätzt.
Als er Organist an der Madeleine-Kirche war, pilgerte jeden Sonntag "tout Paris" dorthin, wegen seiner genialen Orgelimprovisationen. Weiters schrieb er Bücher und Artikel über verschiedenste Fachgebiete: Ethnologie, Philosophie, Geschichte usw., zeichnete Karikaturen - war also ein "Universalgenie", wie es sie in der Vergangenheit selten, und heute überhaupt nicht mehr gibt! Auch einige Theaterstücke von ihm wurden erfolgreich aufgeführt. Aber sicher war er als Komponist am bedeutendsten.
Deshalb nochmals vielen Dank für die gut ausgewählten Musikstücke, die hoffentlich bei vielen Lesern Lust auf mehr machen!