Freitag, 6. Juli 2018

Mentalmäher

von Fragolin

Als ich mir gestern den Luxus leistete, auf meiner Natursteinterasse ein bis drei Gläschen Abgelagerten zu genießen und dabei dem frisch angeschafften Rasenroboter meines Nachbarn beim Roboten auf dem Rasen zuschaute, kam ich so ins Sinnieren.

Mein Vater hatte noch eine richtige große Wiese jenseits des Hauses, auf der alles nur erdenklich Blühende wucherte und man sich als Kind allsommerlich seine Sammlung an Insektenstichen vervollständigte. Das Gras und Gekräute wucherte in dermaßene Höhen, dass wir Kinder darin Verstecken spielten.
Sommerlichs zog Papa dann mit einem Gerät namens Sense, die meisten müssen jetzt wahrscheinlich googeln, auf diese Wiese um sie zu Winternahrung für seine Hasen – damals hat man sowas noch gegessen und nicht als Zierde im Wohnzimmer gehalten – zu verarbeiten. Das Mähen war Handarbeit. Stundenlange, gleichmäßige Handarbeit, nur unterbrochen durch eine gelegentliche „Fuffzehn“, ein Viertelstündchen Pause, das ausgiebig zum Dengeln genutzt wurde. Wir Kinder rechten die Mahd zusammen zu Streifen, in denen daraus durch tagelange Sonneneinstrahlung Heu für die Mümmler wurde.
Was ich nicht beschreiben kann, auch wenn meine olfaktorische Erinnerung das auf ewig in meine mentalen Naseninnenwände tapeziert hat, ist der Duft. Es roch nach Gras, nach Kräutern, nach Blumen, nach Sommer. Der Sommer hatte einen Geruch. Und ein Geräusch. Wusch – wusch – wusch ging die Sense und setzte permanent neue Düfte frei.

Später hatten wir beim Elternhaus, nicht so sehr mit Wiese, dafür mehr mit Rasen gesegnet, einen Rasenmäher. Elektrisch. Das war für damalige Zeiten außergwöhnlich modern, aber mein ältester Bruder ist Elektriker, und der baute den selbst. Mit einem Waschmaschinenmotor als Antriebseinheit und Metallsägeblättern für den Schnitt. Der auch Metall mühelos durchtrennte, ganz besonders Kupfer, wie das gefühlte Kilometer lange Mitführkabel mehrmals im Laufe seines geschundenen Lebens erfahren musste. Er tat lange Zeit gute Dienste, war nur halb so laut wie ein damals üblicher Zweitakter und roch auch immer noch ein bisschen nach Wiese. Nach Gras, Moos, Schafgarbe und Dost, Wegerich und Gundelrebe, Löwenzahn und Gänseblümchen. Was sich so alles in den wenigen Wochen Mähpause über die Grundschnittgrenze zu erheben wagte.

Heute mähen wir im Viertakt, es hämmert der Motor mit der ganzen Wut seiner Ventile – ich habe ja den Verdacht, der wollte mal ganz groß raus, fühlte sich bereit für ein Motorrad oder gar einen Formel-Eins-Boliden, und ist in seinem Selbstwert daran zerbrochen, plötzlich auf der Produktionsstraße für Rasenmäher aufzuwachen und für den Rest seines Lebens ein Schnittwerk angeschnallt zu bekommen, deshalb klopft der so wütend über unseren Rasen wie ein einstiger roter Politologiestudent, der sich Hoffnungen auf das Kanzleramt machte und nun feststellen muss, nie mehr zu werden als der Leiter des örtlichen BFI. Der Sommer riecht inzwischen nach Abgasen und die Nachbarn sind auch nicht zufrieden, da ich die Höhenverstellung eher dazu nutze, das Maximum einzustellen und so zu mähen, dass kleine Blumen und Kriechkräuter weiterleben können. Der Rest der Siedlung schneidet lieber auf einer Höhe, dass am Ende des Tages Myriaden geköpfter Ameisen neben mikroskopischen grünen Enden erdiger Wurzelballen liegen. Die mähen, wenn ihr Gras bis auf die Höhe gekommen ist, das meines hat, wenn ich fertig bin. Und das jede Woche und nicht jeden Monat, wie ich.

Und nun hat mein Nachbar seine winzige Rasenparzelle mit einem Sensorkabel eingeschnürt und einen kleinen elektrischen Fiffi auf alles angesetzt, was es wagt, sein Hälmchen auch nur einen Millimeter über die Schnittgrenze zu schieben. Die Sommertage dieses kleinen Bonsai-Elektroschafes beginnen mit dem morgendlichen Abstöpseln von der Ladestation und enden mit dem abendlichen Wiederanstöpseln. Wie eine Borg-Drohne wuselt er in spiraligen Bahnen wieder und wieder über den grüngelben Teppich und häckselt alles nieder, was nicht dem EU-Normhalm entspricht. Nichts hat mehr eine Chance zu wachsen oder gar zu blühen, manchmal glaube ich, das Gras selbst traut sich schon gar nicht mehr nachzuwachsen, denn eigentlich müssten ja Unmengen an abgeschnipselten Grashalmspänen den Rasen bedecken, aber da ist nichts. Der säbelt anscheinend nur einzelne Atome ab, die allzu keck den Hals in die vermeintliche Freiheit der dritten Dimension recken.

Und wie das mit dem Rotwein so ist, wird auch daraus wieder eine Allegorie. Nein, nicht so ein Krokodil-Dingens, eh schon wissen.
Als wir Kinder waren, da war unser Denken frei, es wuchs wie eine Sommerwiese, blühte, wucherte, streckte sich in lichte Höhen. Selbst wenn es mal gestutzt wurde, verfolgte das einen Nutzen. Doch nach und nach wurden es weniger Blumen und Kräuter und mehr Einheitsgras und es wurde auch häufiger gestutzt, eine Denkobergrenze festgelegt. Es ging schleichend, über Jahre, und es wurde immer schlimmer. Heute werden wir von kahaneprogrammierten mentalen Rasenrobotern beschnitten, jeder noch so winzige Halm eigenständigen Denkens muss radikal abgehackt werden und das Einheitsdenken muss die Einheitshöhe einhalten. Man muss beim Denken nicht mehr beachten, wann Mähtage sind, sondern permanent und vollkommen überraschend jederzeit damit rechnen, dass plötzlich das Mähwerk über den Scheitel fährt und alles Denken abschneidet.

Das eigentlich Komische dabei ist, dass uns dieses robotische Absäbeln jeden eigenen Gedankens heute als progressive Freiheit verkauft wird und das freie Wuchern eigener Gedanken als Engstirnigkeit...

1 Kommentar:

Biedermann hat gesagt…

Der Geruch des Sommers gehört zu den Erinnerungen die bleiben –, auch in der heutigen Tristesse.
Eine unvergeßliche Erinnerung ist für mich aber auch die erste Lektüre von "Flachskopf" von Ernest Claes, der Erzählung über einen Jungen im flämischen Sommer, die in der Mittagssonne kochenden Wiesen und dieser intensive Duft.